Forschung bei Gebeinen
Erstellt von Redaktion am Sonntag 27. November 2022
Knochen aus deutscher Geschichte
Von : Mirjana Jandik
McMichael Mutok stammt aus der früheren deutschen Kolonie Palau. Nun ist er in Göttingen, um Knochen zu studieren. Es geht um deren Rückgabe.
Es ist ein Herbsttag in Göttingen, der Nebel hängt auch nachmittags noch über der Stadt, und Alma Simba ist dick eingepackt in eine schwarze Jacke. Nur noch wenige Tage bleiben der jungen Historikerin aus Tansania in Göttingen, um letzte Aufnahmen für ihre Toninstallation zu machen. Mit ihrem Handy nimmt Alma Simba das Rascheln des Herbstlaubs unter ihren Füßen auf, während sie auf den Botanischen Garten zusteuert. Beim Eingang bleibt sie stehen, um das sanfte Plätschern eines kleinen Bachs einzufangen. Im Hintergrund sind Krähen und Enten zu hören, Jugendliche zeigen sich ein Handyvideo und lachen, hinter den Mauern rauschen Autos vorbei, eine Krankenwagensirene heult. Was nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist: Alma Simba geht es hier nicht um ein Soundporträt Göttingens, sondern um die deutsch-tansanischen Kolonialbeziehungen.
Drei Monate lang war sie zusammen mit vier weiteren Gastwissenschaftler*innen aus Tansania, Kamerun, Neuseeland und Palau zu Gast an der Universität Göttingen. Ihr Interesse gilt den Schädeln, Knochen und Skeletten, die sich dort in vielen Regalmetern stapeln.
Im Zuge von Forschungsreisen und Kolonialexpeditionen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert fanden nicht nur Kunst- und Alltagsgegenstände, sondern auch Tausende menschliche Überreste aus aller Welt ihren Weg in europäische Privatsammlungen, Museen und Universitäten – so auch nach Göttingen. Zusammen mit Projektangestellten von der Universität Göttingen und einer Mitarbeiterin aus Fidschi wollen die Gastwissenschaftler*innen im Projekt „Sensible Provenienzen“ die menschlichen Überreste unter die Lupe nehmen: Wo kommen sie her? Wer hat sie wie und wann nach Göttingen gebracht? Und vor allem: Was soll jetzt damit passieren?
Erklärtes Ziel ist es, die menschlichen Gebeine ihren Herkunftsgesellschaften zurückzugeben. Das ist keine leichte Aufgabe. Und die Gastwissenschaftler*innen haben durchaus unterschiedliche Prioritäten.
Der Irrglaube der Phrenologie
Im Botanischen Garten will Alma Simba eine besondere Tonaufnahme machen. Hier, an diesem Ort, der schon immer der kolonialen Bewunderung und Erforschung „exotischer“ Pflanzen gedient hat, zückt sie ihr iPhone und fragt: „Hey, Siri! Was ist Phrenologie?“ Nach kurzer Pause antwortet die Handystimme: „Phrenologie ist eine Pseudowissenschaft, die davon ausgeht, man könne anhand der Schädelform eines Menschen Aussagen über dessen Charakter und Intellekt treffen. Soll ich weiterlesen?“ – „Nein, danke!“
Im frühen 19. Jahrhundert entwickelt, war die phrenologische Pseudowissenschaft jahrzehntelang populär in Europa und den USA. Schädelvermessungen zählten zum Instrumentarium der im 18. Jahrhundert entstehenden Anthropologie.
Eng verknüpft ist das mit dem Namen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840). Noch vor der Blütezeit des deutschen Kolonialismus legte er in Göttingen eine breite Sammlung menschlicher Schädel verschiedener Herkunft an, die er vergleichend untersuchte. Auf ihn geht die Lehre zurück, dass es fünf verschiedene „menschliche Varietäten“ gebe. Wenn auch Blumenbach ein Verfechter der grundlegenden Gleichheit der Menschen war, wurden doch seine Studien später zur Begründung von Rassenkunde und rassistischer Hetze instrumentalisiert.
Die Blumenbach’sche Schädelsammlung existiert noch heute. Sie gehört zum Zentrum für Anatomie der medizinischen Fakultät – und steht jetzt im Fokus des Forschungsteams. Außerdem untersucht wird die anthropologische Sammlung, in der Schädel, Knochen und Skelette aus der ganzen Welt lagern. Viele wurden im frühen 20. Jahrhundert aus von Deutschland kolonisierten Gebieten nach Göttingen gebracht. Einen Teil der Sammlung übernahm Göttingen in den 1950er Jahren vom Hamburger Völkerkundemuseum.
Insgesamt gäbe es etwa 1.800 menschliche Überreste zu untersuchen. Die Forscher*innen konzentrieren sich erst einmal auf rund hundert.
Ein Palauer Wissenschaftler in Göttingen
Einer der Gastwissenschaftler*innen ist McMichael Mutok, der im Amt für Denkmalpflege von Palau arbeitet. Der Inselstaat im Pazifik hat gerade einmal 20.000 Einwohner*innen, und obwohl Palau von 1899 bis 1914 eine deutsche Kolonie war, kennen viele Menschen hierzulande den Staat noch nicht einmal vom Hörensagen. Der junge Forscher trifft sich mit der wissenschaftlichen Hilfskraft Sofia Leikam in der anthropologischen Sammlung. Hier steht man zunächst vor einer Reihe von Primatenskeletten, und an der Wand hängt ein großer Spiegel, „homo sapiens sapiens“ steht darüber.
McMichael Mutok und Sofia Leikam kennen sich hier inzwischen aus, die Arbeit mit den Karteikarten, Listen und Archiveinträgen gehört ebenso zu ihrem Alltag im Projekt wie das Suchen und Durcharbeiten von alten Kaufbelegen und Reisedokumentationen.
Manchmal gleicht die Forschung der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. In etlichen Regalmetern stapeln sich Boxen aus festem braunem Karton, darin Schädel, Knochen und Knochenfragmente. Die Überreste aus Ozeanien sind in einer mehrseitigen Liste notiert. Während Sofia Leikam sie durchblättert, kommentiert sie: „Herkunft: unbekannt. Sammler: unbekannt. Datum: unbekannt. Manchmal gibt es kaum Angaben zu den Überresten.“ Um heute zu rekonstruieren, wo die Gebeine herkamen und wer sie wann und wie nach Deutschland brachte, stehen die Wissenschaftler*innen vor großen Herausforderungen. Viele Aufzeichnungen sind in den Bränden des Zweiten Weltkriegs und den Wirren des Transfers von Hamburg nach Göttingen verloren gegangen.
Die menschlichen Überreste aus Palau kann McMichael Mutok heute nicht in den Regalen finden, denn sie sind gerade in der sogenannten morphologischen Analyse. Spezialisierte Anthropolog*innen können durch Betrachten und Ertasten Rückschlüsse über Herkunft, Alter, Geschlecht oder Krankheiten ziehen. Nicht alle befürworten diese Analysen, aber für McMichael Mutok sind sie sehr hilfreich. Aufgrund der lückenhaften Dokumentationslage kann jedes Detail ein wichtiger Baustein zur Rekonstruktion sein, und der kleine Inselstaat Palau steht in der Auseinandersetzung mit den ins Ausland gebrachten menschlichen Überresten erst ganz am Anfang. Bevor der Wissenschaftler nach Göttingen kam, hatte er keine Ahnung, dass nicht nur hier, sondern an vielen weiteren Orten in Deutschland menschliche Gebeine und kulturelle Objekte aus Palau eingelagert sind.
Die Zusammenarbeit mit den anderen Gastwissenschaftler*innen hat seinen Blick auf die deutsche Kolonialzeit verändert: „Ich hatte früher immer gedacht, die Deutschen seien die Guten gewesen.“ In Palau gebe es viel mündlich überliefertes Wissen über die Gräuel der japanischen (1914–1947) und US-amerikanischen (1947–1994) Kolonialzeit, über die deutsche aber wisse man wenig: „Über die Deutschen heißt es nur, sie hätten Modernisierung gebracht und interne palauische Konflikte befriedet.“
Wenn ihm nun die Kolleg*innen aus Kamerun und Tansania – ebenfalls ehemals von Deutschland kolonisierten Gebieten – erzählten, dass dort sterbliche Überreste ungefragt entwendet und geraubt wurden, so bringe ihn das dazu, auch das Handeln der Kolonialherren in Palau zu hinterfragen: Ob ihre Vorfahren wirklich damit einverstanden waren, dass Reisende Überreste Verstorbener mitnahmen? In Aufzeichnungen stellten Reisende den Erwerb häufig unproblematisch dar, aber inwiefern das Schönfärberei war, lässt sich heute nur schwer beurteilen.
Entdeckungen in Deutschland
Jetzt, da sich McMichael Mutok ein Bild über das Ausmaß an Überresten und Objekten in deutschen Museen und Sammlungen machen kann, kommen ihm die drei Monate Forschungszeit in Deutschland viel zu kurz vor. Er wollte neben Göttingen noch weitere Museen und Sammlungen besuchen, doch die Kurator*innen brauchten oft mehrere Wochen, um auf E-Mails zu antworten, und Corona-Erkrankungen verzögerten die Terminabsprachen. Mehr Forschung benötigt mehr Gelder, und die sind eine knappe Ressource im Antragsgewerbe.
Regina Bendix, eine der Projektleiter*innen, gibt zu bedenken, dass der Wettbewerb um Forschungsmittel von Qualitätsmaßstäben bestimmt werde, die europäischen Kriterien entsprächen: „Man will ja exzellent sein, um es mit der Initiative zu sagen. Also will man Erfolg versprechende Projektvorschläge einreichen und unterläuft damit immer wieder die Möglichkeit, wirklich alternative Modelle zuzulassen.“ So ein „wirklich alternatives Modell“ könnte laut der Kulturanthropologin sein, die Vorschläge von kleinen Staaten mit wenig Erfahrung in der Provenienzforschung umzusetzen, selbst wenn diese nicht den erhofften, eurozentrisch gelagerten wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn brächten. Immer wieder wird in der Debatte über Provenienzforschung und Restitution kritisiert, es handele sich am Ende eben doch nur um Prestigeprojekte europäischer Institutionen, die eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe unmöglich machten.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Blick in die Abgusssammlung des Archäologischen Instituts der Georg-August-Universität Göttingen, Saal der Hellenistischen Skulpturen.