Flughafenchaos in Europa
Erstellt von Redaktion am Donnerstag 30. Juni 2022
Das sind die Probleme des Altweltkapitalismus
Eine Kolumne von Sascha Lobo
An den Flughäfen bricht der Betrieb zusammen. Falsche Planung, Personalmangel, Coronanachwehen? Nein, dahinter steckt mehr.
Für Berliner ist es nicht besonders erhebend, über Flughafenthemen zu sprechen. Denn der BER ist schon zu lange und noch immer das Übersymbol des Verkehrsversagens. Aber es gibt inzwischen immerhin einen schlechten Trost: Viele Flughäfen Europas ver-BER-en in erstaunlichem Tempo.
Besonders schlimm ist es etwa in Amsterdam. In Schiphol, einem der wichtigsten Flughäfen des Kontinents, sieht man kurz nach der Landung Zehntausende Koffer herrenlos herumstehen. Einfach so, überall im Ankunftsbereich, ohne jede Sicherheitsvorkehrung. Sie stammen unter anderem von Leuten, die zwar schon eingecheckt, aber trotzdem ihre Flüge verpasst haben. Wegen der bis zu sieben Stunden Wartezeit für die Sicherheitskontrolle. Vor der Abflughalle in Schiphol ist ein über hundert Meter langes Zelt aufgebaut, in dem sich die Warteschlangen hin und her und hin und her bewegen, im Gebäude geht es weiter. Fragt man nach, ist der Grund Personalmangel . Klar, hat man gelesen, ist bekannt, soll auch noch schlimmer werden. Aber dahinter steckt mehr.
Das Chaos an Europas Flughäfen ist ein Symptom, es offenbart sich etwas Größeres als falsche Planung, schnöder Personalmangel und Coronanachwehen. Sichtbar werden hier die bisher notdürftig überdeckten oder ignorierten Verwerfungen des Altweltkapitalismus.
Als Altwelt- oder Europakapitalismus möchte ich das wirtschaftliche Erfolgsmodell des 20. Jahrhunderts bezeichnen, das in Nordeuropa wirksam war. Innerhalb der EU haben es vor allem Deutschland und Frankreich vorangetrieben, von den skandinavischen Ländern wurde es vielleicht sogar perfektioniert.
Es handelt sich um eine soziale Marktwirtschaft auf der Basis von liberaler Demokratie, die selbst in der konservativen und wirtschaftsliberalen Ausprägung oft sozial gerechter schien als die Formen des Kapitalismus in den meisten anderen Teilen der Welt, obwohl der Europakapitalismus effizienz- und sparorientiert agierte. In den USA und in Asien investierte man eher aggressiv, um neue Sphären des Erfolgs zu erreichen. In (Nord-)Europa sparte man eher, um den vorhandenen wirtschaftlichen Erfolg größer erscheinen zu lassen. Bis heute sind die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Strategien spürbar, die sehr geringe Zahl der großen, weltweit erfolgreichen Digitalkonzerne aus Europa liegt auch darin begründet.
Der europäische Traum: Mittelschicht für alle
Dass in Europa aber eher soziale Gerechtigkeit herrschte als anderswo, lag an einer gewissen Wertschätzung der Arbeit im Altweltkapitalismus. Das heißt ausdrücklich nicht, dass die Bedingungen für angestellt Arbeitende aus Gold gewesen wären – aber über Jahrzehnte gab es entweder einigermaßen gut funktionierende Arbeitsmärkte oder einen erkennbaren Willen zu entsprechenden Reformen. Dass, aus EU-Sicht betrachtet, Südeuropa das Modell weniger gut umsetzen konnte und entsprechend bis heute teilweise große Probleme mit dem Arbeitsmarkt hat, hat viele Gründe. Es hätte aber als frühes Anzeichen einer gewissen Dysfunktionalität des Europakapitalismus gedeutet werden können.
Über Jahre sahen apulische Jugendliche viel zu oft ihre größten wirtschaftlichen Erfolgschancen darin, einen geringer qualifizierten Job in Berlin oder Amsterdam zu machen. Irgendwann begann nämlich ein wesentlicher, psychologischer Treiber des Europakapitalismus zu bröckeln: die Aufstiegsgeschichte für alle. Die weltweit wirksame Erzählung des »American Dreams«, vom Tellerwäscher zum Millionär, hatte eine europäische Entsprechung. Sie war nach oben und nach unten abgefedert und lautete etwa: Mit harter, ehrlicher Arbeit kann man zumindest ein angenehmes Leben führen. Der europäische Traum war neben Frieden: Mittelschicht für alle. Er ist in den letzten Jahrzehnten schleichend zerfasert. Vor allem als Versprechen für »alle«.
Nun folgt ein schneller Schwenk zum Buch »Der Mythos der Maschine« des Technikphilosophen und Soziologen Lewis Mumford. Das enthält zwar eine mittelgroße Menge von kulturpessimistischem Quark – aber auch einige wegweisende Erkenntnisse. Eine darunter ist eher implizit, dafür aber umso wuchtiger: Billige Arbeitskraft kann technischen Fortschritt verhindern. Wer ein Heer von Sklaven zur Verfügung hat, muss sich keine Gedanken über Automatisierung machen. Wenn Weber*innen fast nichts kosten, sinkt die Motivation, einen automatischen Webstuhl zu erfinden. Und so fort.
Im digitalen 21. Jahrhundert kann man diese Erkenntnis vielleicht auch umdrehen: Wo viele billige Arbeitskräfte benötigt werden, kann ein gewisser Innovationsmangel herrschen. Das ist natürlich kein zwingender Zusammenhang, aber ein Hinweis. Im Durchschnitt bedeutet Fortschritt nämlich auch, Arbeit zu automatisieren und damit skalierbarer zu machen. Und das geht oft leichter mit weniger Know-how-intensiven Tätigkeiten.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Flughafen Köln/Bonn – Hauptgebäude des Terminals 1