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„Flüchtlingshysterie“

Erstellt von Redaktion am Freitag 8. September 2017

Deutschland zwischen „Das Boot ist nie voll“ und „Flüchtlingshysterie“

Flykninger til Lampedusa.jpg

Die große Angst vor dem Verlust der deutschen Werte

Welche da wäre: Schützenfeste, Krieger vereine, Oktoberfest, Ballermann und der  Karibik. Verantwortung für lebende Menschen? Deutsche Politiker bevorzugen Denkmale für die Toten, in derer Glanz sie sich Sonnen können. Kann Vergangenheit so schnell in Vergessenheit geraten? DL / / IE

Von Stefan Weinert, Theologe und  Sozialaktivist

Manchmal – nein eigentlich immer – ist es gut, sich zu erinnern, wie es vor ein paar Jahren zuging in Deutschland, und wer was oder auch nicht gesagt und gemeint hatte. Folgenden Aufsatz (bisher unveröffentlicht) schrieb ich im Oktober 2015, also inmitten der Ströme von hilfesuchenden Menschen vom Balkan, Nahost, Afghanistan, Nord- Ost-  und Westafrika.  

Noch vor wenigen Wochen hieß es aus dem Munde eines führenden SPD-Politikers, dass Deutschland jedes Jahr ohne weiteres eine halbe Million flüchtender Menschen aufnehmen könne. Die Grünen bestanden darauf, dass es für die Anzahl von Asylsuchenden in der BRD keine Begrenzungen gibt. Die Bundeskanzlerin hat in Richtung Osten signalisiert: „Ihr seid bei uns willkommen.“ Das Wort „Willkommenskultur“ war in aller Munde. Gleichzeitig trieben und treiben tatsächliche und geistige Brandstifter ihr Unwesen und hetzten entweder glatzköpfig in Kampfstiefeln oder im Schafspelz von Pegida und AfD gegen die Fremden vom Balkan, aus Syrien, Eritreer und Westafrika. Das war von ihnen auch nicht anders zu erwarten. Dass aber der christlichste aller christlichen Politiker, Herr Seehofer aus Bayern, schon vor drei Monaten von einem „massenhaften Asylmissbrauch“ sprach und gegen Frau Merkel wettert und gewisse christliche Freikirchen und Kreise in der derzeitigen Flüchtlingswelle die apokalyptische „Invasion des Bösen“ und „Perversion des Asylrechts“ sehen, schlägt doch „dem Boot) den Boden aus“.

Mit Erschrecken ist festzustellen, dass nun – angesichts des nicht abebbenden Flüchtlingsstromes – einige bisher standfeste Politiker weiche Knie bekommen und im wahrsten Sinne des Wortes einknicken. Auf einmal sehen sie das deutsche Boot als voll und Herr De Maiziere spielt mit seinen deplatzierten Äußerungen zum Thema „Unzufriedenheit und versuchten Selbstbestimmung einiger Flüchtlinge“ den Nazis und dem Kleinbürger- und Kleinchristentum in die Karten. Zur Erinnerung: Deutschland hat 80,62 Millionen Einwohner (Stand 2013). Die Zahl ist durch die Einwanderungen der letzten beiden Jahre schätzungsweise um 1,5 Millionen auf dann cirka 82 Millionen gestiegen. Bei einer Gesamtfläche von 357.000 qkm hat Deutschland eine Einwohnerdichte von 226 Menschen pro qkm und liegt damit auf Platz 18 des Länderrankings. Im Vergleich: In Singapur sind es 7.987 (!), in den Niederlanden 406, in Österreich 98 Menschen. Die Arbeitslosenquote liegt in Deutschland (April 2015) bei 4,7 Prozent (Österreich: 5,8; Italien 12; Griechenland 25, Singapur: 2). Das Bruttoinlandsprodukt beträgt in der BRD 2.915.65 Billionen Euro (Österreich: 329,3 Milliarden; Italien: 1.616.25 Billionen Euro; Singapur: 297,9 US$).

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Flüchtlinge Balkanroute

Nein, das deutsche (und auch das europäische) Boot ist längst nicht voll – es sei denn, man will den genügenden Platz (wie einst bei den Rettungsbooten der Titanic) für sich, die Elite alleine, obwohl noch Platz vorhanden, die große Freiheit, den ungeheuren materiellen Reichtum und vor allem die Menschlichkeit und christliche Nächstenliebe —  nicht teilen. (lateinisch „sozial“ = teilen) In Singapur leben 35-mal so viele Menschen auf einem qkm wie in Deutschland, ganz abgesehen von Monaco, wo es noch mehr sind. Es geht also. Aber das eigentliche Problem ist eben nicht die zur Verfügung stehende Fläche und der Wohnraum, sondern die Hysterie und leider auch die paranoiden Verschwörungstheorien, die proklamieren, dass die Fremden (griechisch = ethnos) uns Deutsche aussaugen würden und uns mit ihrem „Götzen“ Allah in den Synkretismus treiben. Zugegeben, der Wohnraum für Flüchtlinge ist knapp – er reicht ja noch nicht einmal für die deutsche, materiell nicht so gut ausgestattete Bevölkerung. Das liegt jedoch mehr an der Raffgier vieler Wohnungseigentümer, die die Mieten unangemessen in die Höhe treiben und an der Politik, die das trotz ihrer lückenhaften Mietpreisbremse zulässt, und die schon vor zwei Jahren hätte mit einem vermehrten sozialen Wohnungsbau beginnen müssen.

Also bitte die Schuld nicht verschieben und das Problem nicht auf dem Rücken derer, die nichts dafür können, austragen. Gerade ein „christliches Abendland“ sollte sich an die Geschichte aus Genesis 3 erinnern, wo einer die Schuld am „Sündenfall“ auf den anderen schiebt. In seinem sehr lesenswerten Buch „Manifest des evolutionären Humanismus“ (Alibri) stellt der Philosoph Michael Schmidt-Salomon den „Zehn Geboten“ der Bibel die „Zehn Angebote“ des Humanismus entgegen. Zum ersten Gebot der Thora: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“ schlägt er das erste Angebot des Humanismus vor: „Diene … dem großen Ideal der Ethik, das Leid der Welt zu mindern. Diejenigen, die behaupteten, besonders nah ihrem ‚Gott’ zu sein, waren meist jene, die dem Wohl und Wehe der realen Menschen besonders fernstanden. Beteilige Dich nicht an diesem Trauerspiel!“

Stefan Weinert, 4. Oktober 2015, Ravensburg / 7. September 2017

Unabhängiger Bundestagskandidat 2017   

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Grafikquellen   :

Refugees arriving in Lampedusa

Flüchtlinge in Ungarn in der Nähe der serbischen Grenze (25. August 2015)

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