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Flaggenwechsel in Kirkuk

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 2. November 2017

Jetzt regiert wieder Bagdad

Bazaar in Kirkuk's city center 08.jpg

Aus Kirkuk Inga Rogg

Drei Jahre lang war die irakische Millionenstadt Kirkuk von den Kurden beherrscht. Jetzt regiert wieder Bagdad. Aber wer trägt die Früchte davon, wer muss sich jetzt fürchten?

Buben spielen auf einem umzäunten Kunstrasen Fußball, ein Mann schaufelt vor seinem Altwarenladen, Mädchen mit roten Schleifen im Haar kommen von der Schule nach Hause, und eine Frau in knielangem Rock schlendert gemächlich durch eine holprige Seitenstraße. Es ist eine friedliche Szenerie. Doch wenn man Diyar Jaafer glaubt, täuscht der Eindruck. Der 27-Jährige betreibt in der Straße in Shoraw einen Friseursalon. Wie die meisten in dem Viertel im Norden von Kirkuk ist er Kurde.

„Uns geht es elendiglich“, sagt er. „Sie plündern unsere Häuser und zünden sie an.“ „Sie“, das sind laut dem rundlichen Friseurmeister und vielen anderen Kurden in der Stadt die Haschd al-Schaabi, der Dachverband von Dutzenden schiitischen Milizen im Irak.

„Dort drüben haben sie das Café niedergebrannt. Dort hinten das Haus ausgeraubt“, fährt Jaafer fort. Wütend fuchtelt er mit der Hand, zeigt auf ein Haus gegenüber und einen Neubau ein paar Meter hinter seinem Salon. Das Café ist tatsächlich ausgebrannt. Doch der Besitzer des frisch getünchten Mehrfamilienhauses widerspricht. „Mein Haus ist voller Wertsachen, niemand hat sich daran vergriffen“, sagt der hagere Araber. „Im Gegenteil, die Haschd al-Schaabi haben meinen Besitz geschützt. Es stimmt einfach nicht, was sie behaupten.“

So umstritten wie die Wahrheit ist auch der Status der erdölreichen Region. Für die Kurden ist Kirkuk das „Herz“ oder „Jerusalem“ von Kurdistan, für die Araber und Turkmenen, eine turksprachige Minderheit, die vor vielen hundert Jahren in das Land einwanderte, ein integraler Bestandteil des Irak. Nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen, die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen, schlug für die Kurden mit dem Vormarsch des „Islamischen Staats“ die Stunde. Peschmerga, die Kämpfer des kurdischen Teilstaats, füllten im Sommer 2014 das Vakuum, das die irakischen Sicherheitskräfte hinterlassen hatten. Schon kurz danach erklärte Massud Barsani, bis zu diesem Mittwoch noch mächtiger Präsident des kurdischen Teilstaats, die Frage von Kirkuk habe sich erledigt, die Stadt sei ein Teil Kurdistans. Doch dann wollte er den Worten auch Taten folgen lassen. Gegen die Widerstände selbst aus den eigenen Reihen setzte Barsani durch, dass das Unabhängigkeitsreferendum Ende September auch in den umstrittenen Gebieten stattfindet.

File:Kirkuk Arabs - Flickr - Al Jazeera English.jpg

Das Referendum habe jeglicher rechtlichen Grundlage entbehrt, sagt der Verfassungsrechtler Aram Ahmed. Obwohl selbst Kurde, teilt er damit die Sichtweise der Regierung in Bagdad. Dass es auch am Abstimmungstag nicht mit rechten Dingen zuging, räumen selbst viele Kurden ein. Er habe siebenmal seine Stimme abgegeben, sagt ein Automechaniker. Ein anderer gibt an, Stimmzettel in Serie mit einem Ja ausgefüllt zu haben.

Die Kurden kam das Referendum teuer zu stehen. Anders als von Barsani erwartet, stellten sich weder die US-Amerikaner noch die Europäer hinter ihn. Der Iran und selbst die Türkei, mit der er in den letzten Jahren enge politische und wirtschaftliche Beziehungen aufgebaut hat, suchten stattdessen den Schulterschluss mit Bagdad. Der irakische Regierungschef Haider al-Abadi schickte die Armee und Polizisten. Die Kurden verloren ein riesiges Gebiet, darunter mehrere große Ölfelder. Und sie verloren die Millionenmetropole Kirkuk. Viele Araber, Turkmenen und selbst manche Kurden sind froh, dass Bagdad die Autorität der Zentralregierung wiederhergestellt hat.

Auf dem Markt in südlichen Stadtteil Domiz haben Händler auf dem Gehsteig ihre Waren aufgetürmt. Der Geruch von frisch gegrilltem Fleisch, Tomaten und Zwiebeln erfüllt die Luft. Männer und Frauen mit ihren Kindern flanieren über den Markt, begutachten Qualität und Preise.

Auf seinem Stand hat Ibra­him Juma leuchtend rote Granatäpfel aufgetürmt. Vereinzelt habe es Schießereien und Plünderungen gegeben, sagen Verkäufer und Kunden übereinstimmend. Diese seien jedoch nicht auf das Konto von Soldaten und schiitischen Milizionären gegangen. „Ich bin Sunnit und Araber“, sagt Juma. „Sie haben uns kein einziges Mal belästigt. Sie schützen uns.“ So hatte es Abadi in Bagdad versprochen.

Die kurdischen Flaggen, die vor Wochen noch über öffentlichen Gebäuden und an Straßen wehten, sind verschwunden. An ihrer Stelle flattern jetzt die irakische Fahne sowie an einigen Plätzen und Straßenzügen schiitische Fahnen – aber keine von den umstrittenen schiitischen Milizen. Einmal fährt ein Pick-up mit unbewaffneten schiitischen Kämpfern an uns vorbei. Ansonsten sind sie im Straßenbild nicht zu sehen. Für die Sicherheit sorgen Einheiten der paramilitärischen Bundespolizei und lokale Polizisten, unter ihnen auch Kurden. Selbst die Soldaten, die anfangs noch mit Panzern ein kurdisches Quartier bewachten, sind inzwischen verschwunden.

Khan Kirkuk caravanserai in the Kirkuk bazaar, the disputed territories of the Kurdistan Region and Iraq.jpg

Obwohl Araber und Turkmenen die Peschmerga dafür loben, dass sie in den letzten drei Jahren die Sicherheit in der Stadt wiederhergestellt haben, klagen viele auch über politische und wirtschaftliche ­Benachteiligung durch den ehemaligen ­kurdischen Gouverneur. „Als Araber hatte ich keinerlei Rechte, ich erfuhr keinen­Respekt“, sagt Juma. „Ich konnte nur arbeiten und den Mund halten.“Die Kurden hätten sich die besten Grundstücke unter den Nagel gerissen und öffentliche Aufträge seien an Unternehmer mit guten Beziehungen zum Gouverneur gegangen, sagen Händler.

Sämtliche hohe Posten in der Verwaltung der Stadt besetzte der Ex-Gouverneur Nejmeddin Kerim mit Kurden, gleichzeitig bauten sie ihre eigene Parallelverwaltung mit eigenen Sicherheits- und Geheimdienstorganen auf. Kerim, der in der Nacht vor der irakischen Offensive die Kurden noch zu den Waffen gerufen hatte, ist in den Norden nach Kurdistan geflohen. Seinen Sitz in der mit Sprengschutzmauern geschützten Lokalverwaltung nimmt jetzt sein Stellvertreter ein, der arabische Sunnit Rakkan Said Ali Juburi.

Quelle    :     TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquellen   :

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This image was originally posted to Flickr by Al Jazeera English at http://flickr.com/photos/32834977@N03/4410747394. It was reviewed on by FlickreviewR and was confirmed to be licensed under the terms of the cc-by-sa-2.0.

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Unten  —    Khan Kirkuk caravanserai in the Kirkuk bazaar, the disputed territories of the Kurdistan Region and Iraq

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