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Finnisch-russische Trennlinie

Erstellt von Redaktion am Samstag 18. Juni 2022

An der Grenze zur Furcht

Von      ;    Dorothea Hahn

Kari Matikainen lebt als Bauer direkt an der Grenze. Angst hat er nicht. Aber auch er unterstützt eine Nato-Mitgliedschaft Finnlands.

Auf dem abschüssigen Acker wächst daumenhoch grüner Flaum. Der Weizen sprießt bis zu einem kleinen Tannenwäldchen am Ufer des Pitkäjärvisees, durch dessen Mitte die finnisch-russische Grenze verläuft. Kari Matikainens Familie bewirtschaftet dieses Land seit Generationen. Wenn er vor 30 Jahren am Ufer des Sees spielte, hielten seine Eltern gelegentlich einen Zeigefinger über ihre Lippen und zischten „pst“. Lärm zu jeder Tageszeit sowie Taschenlampen in der Nacht waren russischerseits an der Grenze verboten.

Weitere Unterschiede zwischen seinen Spielen und denen anderer Kinder in Finnland kann Kari Matikainen nicht erkennen. „Wovor sollte ich Angst haben?“, fragt der heute 33-Jährige, „der Krieg in der Ukraine ist traurig. Aber ich fühle mich hier sicher.“ Sollte Russland eines Tages Raketen auf Finnland schießen, womit er kein bisschen rechnet, ergäbe das auch keine Probleme für sein Gehöft und seine Familie. „Die Raketen würden über dieses dünn besiedelte Land hinwegdonnern“, sagt er. Von Russland allerdings erwartet er in den nächsten Jahren wenig Gutes: „Wer weiß, ob nach Putin nicht noch Schlimmeres kommt.“

Alle zwei Tage holt ein Tanker 5.000 Liter Milch bei Kari Matikainen ab. Der Bauer will die Zahl seiner Kühe demnächst auf 300 verdoppeln. Er hat 700.000 Euro in ein Silo investiert, das bereits im Rohbau steht. Die Preise für Viehfutter, für Treibstoff und für Baumaterial sind in den letzten Monaten in die Höhe geschnellt, aber auch seine Einnahmen steigen. „Ich glaube an die Zukunft“, sagt er.

Ohne die Tannen am östlichen Ende seines Weizenfeldes könnte Kari Matikainen von seinem Fenster aus Russland sehen. Sein Haus und Kuhstall sind nur auf Schotterstraßen zu erreichen. Wenn er seine Ernte mit dem Traktor einfährt, benutzt er aber neuerdings eine nagelneue Landstraße, die nach Kolmikanta führt. Der „provisorische Grenzübergang“, der schon länger für den Gütertransport aus Russland zugelassen war, sollte zur internationalen Grenzstation hochgestuft werden, der auch dem Reiseverkehr dient. Seit Verhängung der jüngsten Sanktionen gegen Russland aber funktioniert noch nicht einmal mehr das Provisorium. Nur Kari Matikainen und seine zehn Nachbarn benutzen noch die Zufahrtsstraße. „40 Millionen für einen Feldweg“, scherzt er.

Lückenlose Überwachung der Grenze

„Stopp“ steht auf den Schildern in den beiden Landessprachen Finnisch und Schwedisch, sowie auf Deutsch, Englisch und Russisch: „Weitergehen nur mit Sondergenehmigung“. Bauern im finnisch-russischen Grenzgebiet haben diese besondere Genehmigung. Für alle anderen gilt die rote Hand auf den gelben Schildern, die kurz vor der Grenze an Birken- und Tannenstämmen befestigt sind.

Finnland ist fast so groß wie Deutschland, hat aber nur 5,5 Millionen Einwohner. Die 1.340 Kilometer lange Grenze verläuft fast überall durch kaum besiedeltes Gebiet. Befestigt ist sie nur punktuell. Meist markieren hüfthohe Pfosten, auf finnischer Seite blau und weiß, auf russischer Seite rot und grün gestrichen, den Verlauf. Anwohner wissen, dass die elektronische Überwachung auch ohne Zäune lückenlos ist.

In dem 4.700 Einwohner-Ort Parikkala nimmt Bürgermeister Vesa Huuskonen an diesem Nachmittag an einem „Strategieseminar“ teil. Wie andere Lokalpolitiker in der Grenzregion hatte er auf das Wachstum von bilateralem Handel und Tourismus gesetzt. Die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 bremste die finnisch-russische Annäherung ein wenig. Aber schon 2015 gab es mehr als neun Millionen Grenzüberquerungen zwischen den beiden Ländern. Seit dem Beginn der Pandemie ist das vorbei. Jetzt kommen nur noch vereinzelt Russen nach Finnland. Zusätzlich zum Visum brauchen sie einen Impfnachweis. Ihre in der EU nicht anerkannte Sputnik-Impfung reicht nicht aus.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind selbst die bis dahin noch offenen internationalen Grenzübergänge Endstationen geworden. Lediglich Menschen mit Doppelstaatsangehörigkeit oder anderen ganz besonderen Gründen dürfen sie noch überqueren. Die Hochgeschwindigkeitszüge, die in drei Stunden von Sankt Petersburg nach Helsinki fuhren, sind eingestellt. Die Papierfabriken müssen ihr Holz jetzt in Finnland kaufen. Die Abholzungen haben bereits zugenommen.

Das Strategieseminar wird mit Sauna, Würstchen und Bier enden. Die Lokalpolitiker wollen ergründen, wie sie die Russen durch Touristen aus weiter südlich gelegenen Ländern ersetzen können. „Unsere Zukunft basierte auf der Kooperation mit Russland“, sagt der Bürgermeister, „der 24. Februar hat alles verändert“.

Enttäuscht über Russland

Parikkala ist einer der finnischen Orte, die ganz nah an Russland liegen. Im „Winterkrieg“ von 1939 bis 1940, als Stalin das erst 22 Jahre zuvor in der Oktoberrevolution unabhängig gewordene Finnland überfiel, und im „Fortsetzungkrieg“ ab 1941, als Finnland mit Deutschlands Hilfe die Sowjetunion angriff und am Ende noch mehr Land verlor, hat Parikkala ein Drittel seines Gemeindegebietes eingebüßt. Neben dem Rathauseingang erinnert ein Gedenkstein an finnische Soldaten jener beiden Kriege. Weil sie es damals geschafft haben, die Panzer der übermächtigen Roten Armee mit Molotowcocktails aufzuhalten, gelten sie in Finnland bis heute als Helden.

Auch die Karriere von Vesa Huuskonen ist eng mit Russland verknüpft. Er war lange im finnischen Grenzschutz tätig, brachte es bis zum Oberst, reiste nach Moskau. Er lernte andere europäische Grenzschützer im Frontex-Verbund kennen. Und Huuskonen erlebte die Aufbruchjahre in den finnisch-russischen Beziehungen aus nächster Nähe.

In den 1980er Jahren führte er dreimal die Woche Gespräche mit russischen Kollegen, die auf der sowjetischen Seite der Grenze patrouillierten. Als er 2014 in Rente ging, wurde er in dem Grenzstädtchen auf Anhieb zum Bürgermeister gewählt. „Vermutlich hat es mir geholfen, dass ich als Militär Kontakt zu Russen hatte“, sagt er.

Rückblickend betrachtet Vesa Huuskonen seine frühen Diskussionen mit den Russen als „stabil“. Heute hingegen sagt er: „Den Russen kann man nicht trauen“. Huuskonen trägt das Haar nur Millimeter über der Kopfhaut und gibt seine Beschreibungen militärisch knapp. In seiner Einschätzung der nationalen Sicherheit sei er immer der offiziellen finnischen Linie gefolgt. Jahrzehntelang wollte er auf keinen Fall, dass Finnland Nato-Mitglied wird – der Friedenssicherung zuliebe. Jetzt befürwortet Huuskonen den Beitritt zum Militärbündnis unbedingt – für den Frieden.

Die Enttäuschung über Russland und die radikale Kehrtwende zur Nato zieht sich wie ein roter Faden durch Finnland. Noch im Februar diesen Jahres waren nur 28 Prozent der Finnen für einen Nato-Beitritt. Im Mai waren bereits 76 Prozent dafür.

Die russischen Touristen bleiben aus

Eine knappe Stunde südlich arbeitet Stadtratsvorsitzende Anna Helminen in dem riesigen weißen Rathaus, das ein paar Nummern zu groß für einen Ort mit nur 26.000 Einwohnern wirkt. Die Stromschnellen des Flusses Vuoksi machten Imatra zur ersten touristischen Attraktion Finnlands. Katharina die Große kam. Später machte die russische Oberschicht von Sankt Petersburg gerne Ausflüge in den idyllischen Ort in Karelien.

Doch nach den beiden finnisch-russischen Kriegen war Imatra plötzlich eine Grenzstadt. Wegen der örtlichen Papier- und Metallindustrie glaubten Stadtplaner an eine Zukunft mit 100.000 Einwohnern. Auf ihren Reißbrettern entwickelten sie Vorstädte. Daraus ist nichts geworden. Ab nächstem Jahr soll das Rathaus am Stadtrand in ein Naturmuseum umgebaut werden. Die Stadtverwaltung wird dann in die Innenstadt umziehen.

Seit die russischen Touristen nicht mehr nach Imatra zum Einkaufen kommen, stehen dort die Boutiquen leer, weil niemand mehr zollfrei Luxusartikel kauft. Im Mai hat Russland auch das Gas, das über eine Pipeline nach Imatra kam, abgeklemmt. Der Schritt erfolgte zeitgleich mit dem finnischen Beitrittsantrag zur Nato. Gazprom nannte die finnische Weigerung, das Gas in Rubeln zu zahlen, als Begründung. Die Treffen mit der russischen Partnerstadt Tichwin sind aufgekündigt. „Wir gelten jetzt als Feinde“, sagt Tea Laitimo, die im Rathaus von Imatra für die internationale Zusammenarbeit zuständig ist: „Es ist schlimmer als in der Zeit vor Gorbatschow.“

Den Wegfall der Gaspipeline kann Imatra verkraften. Die Stadt hat ihre Energieversorgung schon vor Jahren auf Fernwärme umgestellt, nur 200 Gebäude werden noch mit Gas beheizt. Im finnischen Energiemix spielen erneuerbare Energien und Atomkraft die zentrale Rolle. Erst im März ist nach jahrelangen Verzögerungen der französische Druckwasserreaktor (EPR) in Olkiluoto ans Netz gegangen. Es ist der größte Kraftwerksblock in Europa. Aus einem russisch-finnischen Projekt für ein weiteres Atomkraftwerk hingegen ist Finnland wegen des Ukrainekriegs ausgestiegen.

„Wenn meine Großeltern noch lebten, wären sie jetzt am Boden zerstört“, glaubt die 46-jährige Ratsvorsitzende Anna Helminen. Oma und Opa kamen als Vertriebene nach Imatra. In den Jahren, als Finnland Reparationen an die Sowjetunion zahlen und 400.000 Menschen aus den verlorenen karelischen Gebieten integrieren musste, konzentrierten sie sich auf die Zukunft. Von ihrer Vertreibung sprachen sie nur selten. Nur in den 1990er Jahren nahmen sie an einer Bustour teil, die sie in ihre alte Heimat zurückbrachte.

Die Enkelin lernte Russisch, vergaß es aber später wieder. Reiste nach Moskau und nicht nach Ostkarelien und verstand ihr Land als Teil des Westens. „Wir haben Gleichberechtigung, Demokratie und Pressefreiheit“, beschreibt sie den Kontrast zu den Nachbarn. Als Mitglied der konservativen Partei Kokoomus stand sie einer Nato-Mitgliedschaft schon lange aufgeschlossen gegenüber. Aber sie weiß auch, dass sich, wie sie sagt, „die öffentliche Meinung in Finnland noch nie so schnell geändert hat, wie nach dem russischen Angriff auf die Ukraine“.

Zwischen alter und neuer Heimat

Zu den Zeiten der Annäherung sind rund 1.000 Russen nach Imatra gekommen. Seit Beginn des Kriegs halten sich die meisten von ihnen bedeckt. Das gilt auch für die finnisch-russische Übersetzerin Natalia Tuovila, die seit 26 Jahren mit Mann und drei Kindern in Imatra lebt. Zu dem Krieg in der Ukraine will sie sich nicht äußern. An diesem Tag hat sie ein Gespräch zwischen einer selbstmordgefährdeten russischen Patientin und einer finnischen Sozialarbeiterin übersetzt.

„Ich bin neutral“, begründet sie, „anders könnte ich meinen Job in Finnland nicht tun.“ Manche Russen in Finnland wollen sich nicht mit den in ihrer Heimat verbliebenen Familien überwerfen und halten sich deswegen mit Äußerungen über Wladimir Putin zurück. Natalia Tuovila will nicht einmal wissen, wie ihre Familie über den Krieg denkt. Wenn sie mit ihrer in Russland lebenden Mutter und ihren Geschwistern telefoniert, vermeidet sie alle Themen, die zu Streit führen könnten – und dazu zählt Putin.

Quelle         :      TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Ein Warnschild über die Grenzzone zwischen Finnland und Russland, in Savukoski, Nordlappland, Finnland. Der Text lautet „Grenzgebiet – keine Einreise ohne Sondergenehmigung“ auf Finnisch, Schwedisch, Deutsch, Englisch und Russisch. Das kleinere Schild auf der rechten Seite zeigt den tatsächlichen Rand. Die blau-weißen Pfosten markieren die Grenzzone auf der finnischen Seite, die rot-grünen Pfosten markieren die Grenzzone auf der russischen Seite und die kleinen weißen Pfosten dazwischen markieren die eigentliche Grenze.

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