Exponentielles Wachstum
Erstellt von DL-Redaktion am Montag 5. Oktober 2020
Die Zukunft kommt schneller, als Sie denken
Wo denn, hätte sich ein/e Politiker-In jemals als promovierte/r Physiker-In und DR ausgezeichnet ? Weltweit sehen wir überwiegend naive Unwissenheit und dumme Arroganz !
Eine Kolumne von Christian Stöcker
Angela Merkel hat diese Woche erklärt, was exponentielles Wachstum bedeutet: eine gewaltige Beschleunigung. Es ging um Covid-19 – doch es gibt noch viel bedrohlichere Exponentialfunktionen.
Neulich erklärte die promovierte Physikerin und Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Pressekonferenz mal wieder die Exponentialfunktion. Weil, so hat sie das vor Monaten schon einmal formuliert, „ja nicht jeder sich jeden Tag damit auskennt“. In den vergangenen drei Monaten habe sich die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland dreimal verdoppelt, führte Merkel diese Woche aus, und wenn das so weitergehe, dann stehe man im Dezember bei 19.200 Neuinfektionen. Man müsse handeln, so Merkel, „wenn wir wieder so ein ins Exponentielle gehende Wachstum haben“.
Der weniger sexbesessene Bruder von Freuds „Es“
Ich habe mich über diesen Exkurs sehr gefreut. Nicht nur weil diese elementare, wichtige Wahrheit über Corona offenbar schon wieder in Vergessenheit geraten ist, sondern weil ich ein ganzes Buch über die Exponentialfunktionen in unserer Welt geschrieben habe. Es gibt nämlich noch viel mehr davon. Sie bestimmen unser Leben und unsere Zukunft. Es wird höchste Zeit, dass die Menschheit das endlich begreift. Bevor es zu spät ist. Menschen sind leider sensationell schlecht darin, Exponentialfunktionen zu verstehen. Tatsächlich gilt diese Unfähigkeit in der Psychologie als typisches Beispiel für die Beschränkungen eines uns eigenen Modus der Informationsverarbeitung, den der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman schlicht „System 1“ getauft hat.
„System 1“ ist so etwas wie der empirisch begründete und weniger sexbesessene Cousin von Sigmund Freuds „Es“: System-1-Prozesse laufen automatisch und weitgehend oder ganz ohne bewusste Kontrolle ab, sie fühlen sich mühelos an. Sie kommen dem entgegen, was in der Psychologie der „kognitive Geizkragen“ genannt wird. Wir sind nämlich ziemlich denkfaul. Das können Sie an sich selbst ausprobieren. Wenn ich Ihnen zum Beispiel vorschlage, mal schnell zum Spaß im Kopf 17 x 23,8 auszurechnen, haben Sie keine Lust, oder? Zu anstrengend.
Rechnen, pfeifen, Fahrrad fahren
17 x 23,8, das kann System 1 nicht, aber vier plus vier schon. Ersteres erfordert geistige Anstrengung, exekutive Kontrolle, wie das in der Psychologie heißt. Letzteres wird einfach aus dem Gedächtnis abgerufen. Vier plus vier können Sie auch „ausrechnen“, während Sie Fahrrad fahren und dabei ein Lied pfeifen. Bei 17 x 23,8 wird das sehr schwierig. Dafür brauchen Sie System 2: regelbasiert, kontrolliert, logisch denkend, von Vorwissen und Überzeugungen geleitet. Anstrengend. Nicht beliebig mit anderen Aktivitäten kombinierbar.
System-1-Prozesse kann man umgekehrt aber oft schwer sprachlich erläutern: Versuchen Sie mal, einem Kind nur mit Worten zu erklären, wie man Fahrrad fährt und dabei pfeift.
System-1-Prozesse sind absolut lebensnotwendig (hätten Sie keine System-1-Verarbeitung, könnten Sie nicht gleichzeitig aufrecht sitzen oder stehen und diesen Text lesen), aber in einer komplexen Welt wie der unseren auch sehr fehleranfällig. Die meisten Verzerrungen und Fehler, denen unser Denken und Schlussfolgern unterliegt, sind System-1-Prozesse. Zum Beispiel die Verfügbarkeitsheuristik, die uns glauben lässt, dass etwas wahrscheinlich ist, nur weil wir uns leicht daran erinnern können. Was oft in den Nachrichten kommt, fühlt sich gefährlicher an. Viele Leute haben mehr Angst vor Terroristen oder „Migranten“ als vor Krebs, obwohl daran weit mehr als 200.000 Menschen pro Jahr sterben. Krebs kommt aber selten in den Nachrichten.
Testen Sie sich doch mal selbst
Auch unsere enormen Probleme beim Umgang mit Exponentialfunktionen sind eine Folge der Unzulänglichkeiten von System 1.
Es gibt einen sehr kurzen Test, mit dem man das demonstrieren kann. Er stammt von Shane Frederick, der lange mit Daniel Kahneman zusammengearbeitet hat. Der Test besteht nur aus drei Fragen, die dritte ist diese:
Die Seerosen in einem Teich verdoppeln Ihre Fläche jeden Tag. Wenn der See nach 48 Tagen komplett mit Seerosen bedeckt ist, wie lange hat es gedauert, bis er zur Hälfte bedeckt war?
Überlegen Sie mal, aber nur ganz kurz, und antworten Sie dann im Kopf.
Sehr viele Leute antworten auf diese Frage mit: „24 Tage“. Das ist die System-1-Antwort. Sie erscheint auf den ersten Blick intuitiv einleuchtend, halber Teich bedeckt, Hälfte der Tage. Sie ist aber falsch. Richtig ist: Der See ist nach 47 Tagen halb bedeckt, die letzte Verdoppelung dauert nur einen Tag, so lang wie alle anderen Verdoppelungen vorher auch.
Viele andere Exponentialfunktionen auf dem Weg zum Abgrund
In einer Vielzahl von Studien mit insgesamt über 44.000 Versuchspersonen gab etwa die Hälfte aller Befragten eine falsche Antwort auf diese Frage. Das ist das Wesen der Exponentialfunktion: Unser Kopf sperrt sich dagegen, diese verrückten Sprünge als Realität zu akzeptieren. Es gibt sie aber. Nicht nur während einer Pandemie.
Es war also gut und richtig, dass Merkel den versammelten Journalistinnen und Journalisten noch einmal das Prinzip des exponentiellen Wachstums erklärte. Leider sprechen weder die Kanzlerin noch andere Politikerinnen und Politiker gern über die vielen anderen Exponentialfunktionen, die uns gerade unaufhaltsam auf einen katastrophalen Abgrund zutragen. Das müssten sie aber dringend.
In etwa 250 Jahren verdoppelt
Die aktuell wichtigste ist die Menge CO2, die wir in Atmosphäre blasen. Sie wächst immer noch exponentiell. Trotz aller Klimaabkommen. Vor dem Beginn der Industrialisierung – und etwa eine Million Jahre davor – lag der Anteil von CO2 in der Atmosphäre bei etwa 280 ppm (parts per million). Manchmal ein bisschen mehr, meist weniger, aber immer in dieser Region. Dann kam die Industrialisierung, und das exponentielle Wachstum begann.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Lisboa_20130430 – 48
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Unten — Christian Stöcker (2017)