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Europas neue Todeszone

Erstellt von Redaktion am Samstag 20. November 2021

Was zur Hölle ist mit Europa ?

Bug Nur.jpg

Von Christian Jakob und Kateryna Kovalenko

Während die EU Polen mit Millionen für eine „Grenzbarriere“ zu Belarus unterstützen will, werden Freiwillige daran gehindert, den Flüchtenden vor Ort zu helfen. Immer mehr Menschen werden tot aufgefunden. Ein Lagebericht vom Ort einer Tragödie.

Ahmed al-Hasan wurde 19 Jahre alt. Am 19. Oktober 2021 ertrank er im Grenzfluss Bug, zwischen Belarus und Polen, so stellt es die Staatsanwaltschaft Lublin später als Todesursache fest. Die nächste muslimische Gemeinde ist zwei Autostunden weiter nördlich, in Bohuniki.

Nachdem die Staatsanwaltschaft al-Hasans Leichnam freigibt, lassen Hel­fe­r:in­nen sie dorthin bringen. Sie wird nach islamischem Ritual gewaschen. Am vergangenen Montag, es ist bereits dunkel, laden vier Männer in schwarzen Daunenjacken den Holzsarg aus einem VW-Transporter, so ist es auf Videoaufnahmen der Agentur Reuters zu sehen.

Freiwillige Hel­fe­r:in­nen haben das Begräbnis organisiert. Einige laufen mit Handys hinter dem Sarg her, einer von ihnen streamt die Bilder zu der Familie des jungen Mannes. Aus Syrien schaut diese dabei zu, wie ihr Sohn auf dem katholischen Friedhof in die Erde gelassen wird. „Ich weiß, ihr wolltet ihn noch einmal sehen“, sagt der Mann in sein Telefon.

Es ist das erste Begräbnis eines Toten, der seit Beginn der Flüchtlingsankünfte Anfang August an der Grenze zu Belarus gefunden wurde. Weitere werden folgen. Wohl dreizehn Tote wurden bis zum vergangenen Donnerstag gezählt. Wie viele wirklich starben, weiß niemand – auch, weil keine Ärz­t:in­nen oder Be­ob­ach­te­r:in­nen in die „Emergency Zone“, den Grenzstreifen, in dem der Ausnahmezustand gilt, hineingelassen werden.

Eine der wenigen Ausnahmen ist Hanna Machińska, sie ist die polnische Vizekommissarin für Menschenrechte. Machińska gab am Montag ­T-Online ein Interview. Sie dürfe über das, was sie gesehen habe, nicht alle Informationen weitergeben, sagt sie darin. Doch es gebe „Hunderte von Beispielen“, die zeigten, wie angespannt die Situation ist. Eines davon: „Wir haben von einer jungen Mutter im Grenzgebiet erfahren, die einen Schwamm ausgewrungen und das schmutzige Wasser mit dem Milchpulver für ihr Kind vermischt hat. Sie wusste, was sie tat: Es war der sichere Tod für das Baby, aber sie konnte nicht anders, das Kind hatte Hunger.“

Deutschlands Regierung nimmt an all dem keinen Anstoß. Der Sprecher des scheidenden Innenministers Horst Seehofer (CSU) schrieb am Donnerstag auf Twitter, Polen handele „seit Wochen an der Grenze zutiefst europäisch“. Deutschland stehe „fest an der Seite Polens.“

In Michałowo, einer Kleinstadt am Rande der Emergency Zone, gibt es genug Milch für Babys. Große Dosen mit Pulver stehen säuberlich gestapelt in weißen Containern auf dem Gelände der Grundschule im Ortskern. Michałowo wurde in den vergangenen Monaten bekannt, weil die An­woh­ne­r:in­nen grüne Lichter an ihren Häusern brennen lassen, um den Flüchtlingen zu signalisieren, dass sie dort Hilfe bekommen. Seit einer Woche hat das „Große Orchester der Weihnachtshilfe“, eine polnische Organisation ähnlich der deutschen „Ein Herz für Kinder“, auf dem Schulhof einen Hilfsposten aufgebaut. Große Generatoren liefern Strom, es gibt heißen Tee, volle Powerbanks für Handys, Jacken und Decken.

Die Toten an der polnischen Außengrenze

19. 9. Zwei Männer aus dem Irak, sollen erfroren sein, nahe Zubry. Ahmed Hamid, 29 Jahre, aus dem Irak, nahe Dworczysko. Eine Frau aus dem Irak, 39 Jahre, auf belarussischer Seite, Leśnoje

23. 9. Ein Mann aus dem Irak soll an Herzinfarkt gestorben sein, nahe Nowy Dwór, Sokólski, Polen

14. 10. Ein Mann aus Syrien, 24 Jahre, nahe Klimówka

19. 10. Ahmed al-Hasan aus Syrien, 19 Jahre, ertrunken im Fluss Bug nahe Woroblin

22. 10. Keine näheren Angaben, nahe Kuścińce

29. 10. Gaylan Diler Ismail, 25 Jahre, Kurde aus dem Irak, Diabetiker, soll durch fehlende Medikamente nach Pushback gestorben sein, Fundort unklar

31. 10. Kurdo Khalid, 34 Jahre, Kurde aus dem Irak, soll an Hirnblutung gestorben sein, Fundort unklar

10. 11. Ein Kurde, 14 Jahre, nahe Kuznica auf belarussischer Seite

12. 11. Ein Syrer, 20 Jahre, nahe Wólka Terehowska

Vor dem 18. 11. Einjähriges Kind, Syrien, Todesursache unklar. Die Familie war 1,5 Monate im Wald

Es ist Montag, der 15. November. Purtas, ein junger Mann mit Dreadlocks und Daunenweste, hat seinen Job als LKW-Fahrer gekündigt, um hier zu arbeiten. Auch eine junge Frau namens Justyna ist hier. Sie arbeitet sonst als Nuklearphysikerin in einem Atomkraftwerk, sagt sie. „Ich habe mir Urlaub genommen, um herzukommen.“ Ein Fernsehteam kommt, Purtas öffnet die Containertüren, damit es die Hilfsgüter filmen kann. Sie sind dafür gedacht, dass Freiwillige sie zu den Frierenden in den Wald bringen. Doch das ist zuletzt immer schwieriger geworden. Die Freiwilligen können nur zu solchen Flüchtlingen, die die Rote Zone hinter sich gelassen haben. Sie müssen sich auch weiterhin vor der Polizei verstecken, weil ihnen sonst der Pushback droht. Deshalb sind sie auch außerhalb des Sperrgebiets auf Hilfsgüter angewiesen. Aber kaum Flüchtlinge schaffen es noch aus der „Emergency Zone“ heraus. Dass gleichzeitig die schon jetzt eisigen Temperaturen weiter fallen, macht den Hel­fe­r:in­nen in Michałowo Sorgen. „Wir haben Angst, dass es in drei Wochen niemanden mehr zu retten gibt“, sagt Justyna. Auch bei Alinca Miszuk in Hajnówka stapeln sich die Hilfsgüter in großen blauen Ikea-Taschen bis unter die Decke. Die Seniorin verteilt Spenden aus ganz Polen in der südlichen Grenzregion. Am Montagabend sitzt sie allein unter einem riesigen Drachenbaum im Dachgeschoss des Hauses vom Roten Kreuz. An der Tür steht die Telefonnummer, die Geflüchtete anrufen können, damit ihnen Hilfsgüter in den Wald gebracht werden. Die Nummer hatte sich in den vergangenen Monaten unter den Flüchtlingen verbreitet. „Im Oktober habe ich 30 Anrufe pro Woche bekommen,“ sagt Miszuk. Jetzt hat seit einer Woche niemand mehr angerufen.

2015 Sokal, Widok z mostu na rzekę Bug 01.JPG

Eine Sprecherin der Stiftung Ocalenie, die vor allem in der nördlichen Grenzregion Hilfe leistet, sagt der taz, die Zahl ihrer Einsätze in den Wäldern bei den sich versteckenden Flüchtlingen habe sich zuletzt halbiert. Grund sei, dass der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko einen Großteil der Flüchtlinge nahe einem Grenzübergang bei Kuźnica habe sammeln lassen – offensichtlich, um dort eine Auseinandersetzung mit den polnischen Sicherheitskräften zu provozieren.

Die Menschen dort saßen bis Mitte der Woche fest und kamen nicht weiter. Andere, die versuchten, die Grenze und die Rote Zone anderswo zu durchqueren, seien viel schneller als früher von den polnischen Soldaten, Polizisten und Milizionären aufgehalten worden. Polen hatte deren Zahl zuletzt auf über 15.000 aufgestockt. „Das größte Problem ist, dass wir nicht in die Rote Zone dürfen“, sagt Alinca Miszuk. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen da drin sind, wir denken es sind viele.“ Miszuk glaubt, dass sich an dieser Situation bis auf Weiteres nichts ändern wird. „Das bleibt jetzt erst mal so.“

Miszuk ist nur eine von vielen Hel­fe­r:in­nen in der Grenzregion, die sich von der Propaganda der Regierungspartei PiS, dem ganzen „Kriegs“-Getöse nicht beeindrucken lassen, sondern helfen wollen. Dabei zieht die PiS alle Register: Seit dem vergangenen Montag kann man in Polen von allen Postfilialen im Land umsonst Dankesgrüße an die Einsatzkräfte an der polnisch-belarussischen Grenze verschicken. Die polnische Zentralbank kündigte an, eine eigene Banknote zur „Verteidigung der Ostgrenze“ zu drucken. Alinca Miszuk treibt um, was für ein Bild von Polen angesichts des Leids an den Grenzen entsteht. „Was denken die Menschen im Ausland über das, was hier geschieht? Wie sehen sie uns?“, fragt sie.

Die Nationalversammlung verlängerte am Dienstag den Ausnahmezustand im Grenzgebiet, der eigentlich Anfang Dezember ausgelaufen wäre. Und so sitzen viele Flüchtlinge weiter in der Roten Zone, wo die Hel­fe­r:in­nen nicht hindürfen.

Die einzige Ausnahme bildet seit Anfang der Woche die polnische katholische Caritas. Die hat „Zelte der Hoffnung“ im Grenzgebiet aufgebaut, weitere sollen folgen. Bislang nur eines davon steht in der Roten Zone, in der Gemeinde Białowieża, dem Nachbarort von Hajnówka. „Wir durften es nur deshalb innerhalb der Roten Zone aufstellen, weil wir dort mit den Dorfbewohnern zusammenarbeiten“, sagt Dariush Ghobad, ein Sprecher der Caritas in Deutschland. „Sonst würde man uns das verbieten.“ Nicht einmal die katholische Kirche lässt die PiS ungehindert zu den Notleidenden.

Ist das der fliegende Sensenmann aus Bayern ?

Doch das „Zelt der Hoffnung“ wird nicht reichen. Auch die Be­woh­ne­r:in­nen von Białowieża haben sich zu einer Hilfsinitiative zusammengetan. Am Dienstag veröffentlichten sie einen dramatischen Appell: „Da wir uns in einem Ausnahmezustand befinden, können wir nicht auf Hilfe von außen zählen, wir haben keine medizinische oder mediale Unterstützung“, schreiben sie. Sie seien mit einer Situation völlig alleingelassen worden, die „alles übersteigt, was wir uns vorstellen konnten“. Trotzdem wollten sie den Bedürftigen helfen, vor allem, weil sich aufgrund der Kälte die Todesfälle häuften. „Wir kennen diesen Wald besser als die Uniformierten, die aus ganz Polen hierherkommen, und wir wissen, dass es unmöglich ist, in diesem Wald zu überleben“, schreiben sie weiter. Menschen dort dem Tod zu überlassen, sei eine „Straftat, unmenschlich und inakzeptabel“. Sie selbst wollten „keine passiven Beobachter sein“ und „keine Leichen in unseren Wäldern sammeln“. Vom Staat fordern sie, nicht behindert zu werden. Die Bereitstellung humanitärer Hilfe verstoße nicht gegen die Regeln des Ausnahmezustands. Was sie ansehen müssen, belaste sie. „Der psychologische Druck, das tägliche Funktionieren in einem Klima des ‚Krieges‘, die dramatischen moralischen Entscheidungen, vor denen wir stehen, machen auch uns zu Opfern dieser Situation“, schließen sie ihren Appell. „Was wir jetzt erleben, wird in uns bleiben und nicht mit dem Abzug der Armee verschwinden.“

Von denjenigen, die es auf polnisches Territorium schaffen, werden nicht alle an die Grenze zurückgeschoben. Auf welcher Grundlage ausgewählt wird, weiß niemand. Sie können dann in Polen Asyl beantragen. Bis darüber entschieden ist, werden sie in eines von neun geschlossenen Internierungslagern im Land gesperrt. Die Verfahren dauern so lange, dass selbst von denen, die im August ankamen, noch kein Verfahren beendet ist. Die Anerkennungsquote in Polen ist niedrig: 2020 stellten 2.800 Menschen einen Antrag, 161 wurden anerkannt.

Quelle       :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Bug River near Nur.

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Unten     —   The view from the bridge over the Bug RiverSokal, Lviv Oblast, Ukraine.

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Unten     —       Die Darstellung des Todes in Le Petit Journal 1912 während einer Cholera-Epidemie.

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