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Essay Integrationskurse

Erstellt von DL-Redaktion am Montag 5. März 2018

Ein Kulturschock für beide Seiten

Datei:Wilhelmstraße (Altenkirchen) 57.xcf

Kommentar von Gerit Arlom

Die Vorstellung, dass Kurse integrieren, ist ebenso naiv wie konzeptlos. Ein wenig Sprachkurs und Landeskunde haben nichts mit der Realität zu tun.

Seit vier Jahren unterrichte ich Deutsch als Zweitsprache in sogenannten Integrationskursen. Ein solcher Kurs umfasst in der Regel 700 Unterrichtseinheiten – das sind sieben Monate Unterricht, Ferienzeiten nicht mitgerechnet. Sechs Monate davon sind der deutschen Sprache gewidmet. Der Fokus liegt auf der Alltagstauglichkeit: Lebensmittel einkaufen, Arzttermine vereinbaren oder Schuhe umtauschen. Den Erfolg darin misst der „Deutschtest für Zuwanderer“. Dann folgen vier Wochen Landeskunde: Der „Orientierungskurs“ vermittelt die aktuelle Politik in Deutschland, deutsche Geschichte ab dem Zweiten Weltkrieg und deutsche Kultur. Am Ende folgt ein Multiple-Choice-Test mit dem nüchternen Titel „Leben in Deutschland“.

Anfangs habe ich sieben Monate für sehr viel Zeit gehalten. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass Integration so viel mehr umfasst als guten Willen und Wissensvermittlung. Manchmal frage ich mich heute sogar, ob so ein enorm schwieriges Vorhaben überhaupt je gelingen wird. Die Vorstellung, Inte­gra­tion mit Kursen zu bewerkstelligen, kommt mir vor dem Hintergrund meiner heutigen Erfahrung jedenfalls naiv vor.

Mein aktueller Arbeitgeber ist ein kleiner Bildungsträger in Berlin-Neukölln. Sein Auftraggeber ist, wie bei allen Integrationskursen, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Ich erteile einen Kurs mit einer Kollegin, sie unterrichtet zwei Tage, ich drei. Heute ist Mittwoch, mein erster Unterrichtstag in der Woche. Eine halbe Stunde vor Beginn bin ich im Klassenzimmer, drehe die Heizung auf, lege die Teilnehmerliste zum Unterschreiben auf den Tisch. Ich schreibe ein paar alltägliche Verben an die Tafel: essen, einkaufen, kochen, lernen. Die Frage, die ich stellen werde, wird lauten: „Was haben Sie gestern gemacht?

Der Kurs geht seit gut drei Monaten, und wir üben seit ein paar Wochen das Perfekt. Sollte den Teilnehmern gar nichts einfallen – diese Verben gehen immer. Der Unterricht beginnt um 9 Uhr. Kurz nach 9 Uhr kommen die Ersten und setzen sich auf ihre Stammplätze. Ich stelle meine obligatorische Frage, der erste Teilnehmer beantwortet sie, versucht, Sätze mit den Verben auf der Tafel zu bilden. Er sieht mich mit großen Augen an: Perfekt, was könnte das sein? Nie gehört. Die Teilnehmerin gegenüber verdreht die Augen, korrigiert seine Fehler, gibt detaillierte Einblicke in ihr gestriges Tun, beinahe fehlerfrei.

Ein paar andere trudeln in der nächsten halben Stunde ein. Mehr als 20 Namen stehen auf meiner Liste, um 10 Uhr 30 sind immerhin 13 anwesend. Erfreulicherweise geht niemand nach der zweiten Pause um 12 Uhr wie sonst eigentlich immer. Ich lasse die fehlenden Teilnehmer inzwischen nachträglich ein Entschuldigungsformular ausfüllen, auf dem Gründe angegeben werden müssen. Mit jedem neuen Kurs werde ich strenger. Mehr und mehr finde ich mich in einer Rolle wieder, die ich nie wollte – die einer Erzieherin für erwachsene Menschen.

Wer bezahlt, kommt auch

Meine Kollegin sieht die Wurzel allen Übels in dem Grundsatz „Was gratis ist, ist nichts wert“. Wir sind uns darin einig, dass diejenigen, die für den Kurs bezahlen müssen, auch kommen. Wir sprechen über einen bescheidenen Obolus, vielleicht in Verbindung mit einem positiven Anreiz: Wer sich als lernwillig erweist, könnte den gezahlten Betrag zurückbekommen. Das könnte die Wertschätzung für die Kurse erhöhen, sie von der „Das steht uns zu“-Mentalität entkoppeln.

Als ich 2013 selbst die Schulbank drückte, um Bamf-Kurse unterrichten zu dürfen, gehörte der Umgang mit heterogenen Gruppen zum Curriculum. Diese spalten sich, grob gesagt, in „lern­erfahrene“ und „lernunerfahrene“ Teilnehmer auf, in „Schnell“- und „Langsamlerner“. Das Dilemma mit der Binnendifferenzierung verfolgt mich seit meinem ersten Unterrichtstag. Damals saß ich vor einem internationalen Grüppchen in Friedrichshain, ein promovierter Mann aus dem Iran war darunter, eine schüchterne Frau aus Mazedonien, ein sympathischer Mann aus Ghana. Letzterer war immer guter Laune, er lachte viel, vor allem über sich selbst. Humor war auch nötig, saß er doch überhaupt das erste Mal in seinem Leben in einer Schule. Allerdings hatte er irgendwo ein bisschen lesen und schreiben aufgeschnappt, wodurch er nicht in die Alphabetisierungskurse passte.

Quelle    :          TAZ          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquelle    :

Beschreibung
Deutsch: Wilhelmstraße 57 am unteren Ende der Wilhelmstraße
Datum
Quelle Eigenes Werk
Urheber Freimut Bahlo

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