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Erwerbsarbeit macht krank

Erstellt von Redaktion am Samstag 29. Dezember 2018

Du musst dein Leben ändern

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„Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klasse.“ (Oscar Wilde)

Von Christian Baron

Erwerbsarbeit Es wird Zeit, den Glauben an die Plackerei zu überwinden, denn er macht krank und dumm.

Früher musste man die Menschen in die Fabriken hineinknüppeln. Heute muss man sie aus den Betrieben und Büros herausprügeln. So sehr haben sie ihre abhängige Erwerbsarbeit als sinnstiftend, unabdingbar und naturnotwendig akzeptiert. Viele Umfragen zeigen: Selbst wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe, würden die meisten einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen. Vordergründig ist also kein Zwang mehr notwendig, damit die Leute große Teile ihrer Lebenszeit einem Unternehmen übereignen.

Bis vor gar nicht allzu langer Zeit war das noch anders. Wer Menschen für sich arbeiten lassen wollte, brauchte rohe Gewalt. Vor ein paar hundert Jahren erfolgte die Trennung von Produzenten und Produktionsmitteln, und es entstand der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Karl Marx schuf für diesen, den Kapitalismus begründenden Akt den Begriff der ursprünglichen Akkumulation. Dass wenige reich sind und viele arm, so Marx, sei nicht auf Fleiß und Sparsamkeit der Einzelnen zurückzuführen, sondern auf einen Prozess der Enteignung, an den sich heute kaum mehr jemand erinnern mag.

Würden die Arbeitenden ihren Job wirklich so sehr lieben, wie es beim Smalltalk oft den Eindruck erweckt, dann wäre Erwerbsarbeit so erfüllend, wie es in Unternehmenswerbespots wirkt, und so ermächtigend, wie es die alten Lieder der Arbeiterbewegung behaupten. Wer aber an einem Freitagmorgen das Radio einschaltet, den müssen die Moderatoren erst einmal motivieren: „Haltet durch. Nur noch ein Tag, dann ist endlich Wochenende!“

Auf dem Weg zur Arbeit präsentieren sich dann Trauerlandschaften – ob beim Blick in Nachbarautos, in die Gesichter der Passanten auf der Straße oder jene der Mitreisenden in Bus und Bahn. Psychologen berichten seit Langem von Sonntagsdepressionen. Manche Leute können sich demnach an diesem Tag nicht entspannen, weil sie ständig daran denken müssen, dass ab morgen wieder eine neue, womöglich anstrengende Arbeitswoche bevorsteht.

Motiviert dank Waterboarding

Offenbar ist da also auch heute noch eine Art von Zwang im Spiel. Erwerbsarbeit steht im Mittelpunkt einer jeden kapitalistischen Gesellschaft. Wer bei einer Party auftaucht, wird von Unbekannten in aller Regel neben dem Namen zuerst nach seinem Beruf gefragt. Sollte dann auch noch jemand offenbaren, aus Überzeugung in Teilzeit zu arbeiten, dann erhält er oft eine Frage zur Antwort: „Was machst du denn dann mit der ganzen Zeit?“ Auf Geld zu verzichten, um Lebenszeit zu gewinnen, das erscheint den meisten unverständlich, weil Erwerbsarbeit und Leben für die Mehrheit identisch geworden sind.

Das verwundert vor allem darum nicht, weil ein in Vollzeit angestellter Mensch mehr wache Zeit am Arbeitsplatz verbringt als mit Familie oder Haustieren, mit Freunden oder Hobbys, mit Muße oder sozialem Engagement. Seit ihren Ursprüngen bestand die entscheidende Auseinandersetzung der Arbeiterbewegung im harten Kampf um die Arbeitszeitverkürzung. Mittlerweile ist es ziemlich genau 100 Jahre her, dass jener Acht-Stunden-Tag erkämpft wurde, der in Deutschland noch heute die kaum hinterfragte Norm bildet.

Dabei üben schon jetzt die meisten Menschen eine Tätigkeit aus, deren Inhalt ihnen gleichgültig ist, weil sie keinerlei Bezug mehr haben zu dem Produkt ihrer Arbeit. Auch dafür hatte schon Karl Marx einen Begriff parat: Entfremdung. Die Menschen schuften nicht allein darum, weil im Falle einer Verweigerung von Erwerbsarbeit die Beschämungs- und Verarmungsmaschinerie namens Hartz IV wartet. Sie tun es auch, weil sie das natürliche Bedürfnis nach Anerkennung verspüren. Und die gegenwärtige Gesellschaft verteilt Anerkennung vor allem nach dem Erwerbsstatus.

Der diskursive Aufwand, der betrieben werden musste, um in demokratisch verfassten Staaten dieses Verständnis von Leistung und Disziplin zur „Natur des Menschen“ verklären zu können, war beträchtlich. Ein Clou bestand darin, Kausalitäten ins Gegenteil zu verkehren. Eine erste Folge der ursprünglichen Akkumulation war die Vertreibung der Menschen von ihren Grundstücken. Sie wurden zu Vagabunden, und später haben die Eigentümer sie in die Städte getrieben, wo sie unter entwürdigenden Bedingungen hausen mussten.

Mit dem Entstehen der protestantischen Arbeitsethik im 16. und 17. Jahrhundert haben diese Machtverhältnisse einen moralischen Schub erhalten. Seine Arbeitskraft zu ungünstigen Bedingungen an die Eigentümer zu verkaufen, erscheint seither als wahrer Zweck des Lebens, dem alle anderen Bedürfnisse unterzuordnen sind. Zur ideologischen Perfektion hat dieser Umstand im Neoliberalismus gefunden. Gerade die Angehörigen der Generationen Y und Z, also die Jahrgänge seit den frühen Achtzigern, sollen Eigenverantwortung und Flexibilität aus unternehmerischer Perspektive denken. Hochqualifizierte erhalten ebenso wie Hilfskräfte immer häufiger nur befristete Arbeitsverträge. Sie erfahren immer weniger soziale Sicherheit. Sie müssen vielfach den Arbeitsplatz und oft sogar den Wohnort wechseln.

In der kapitalistischen Erzählung sind diese Veränderungen nicht nur Sachzwänge der Globalisierung, sondern auch Chancen für ein gutes Leben mit immer neuen Herausforderungen. Aus diesem doppelten Zwang entsteht Leid. Dieses Leid hält auf Dauer nur aus, wer die Arbeit überhöht.

Quelle     :       Der Freitag           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben      —         Textilmuseum Bocholt, Stempeluhr

Unten     —   Protest gegen Waterboarding bei einem Besuch von Condoleezza Rice in Island, Mai 2008

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