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Erinnern braucht Dialog

Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 11. Mai 2022

Der 9. Mai-Erinnerungskultur in Russland

Historische totalitäre Führer koloriert.jpg

Von Stefan Reinecke

Das Feindbild Stalin verdrängt den rassistischen Kern des NS-Kriegs im Osten. Eine Replik auf die Thesen der „Nowaja Gaseta“-Autorin Julia Latynina.

Der Überfall auf die Ukraine hat gezeigt: Der Versuch, Putin mit Handel und Diplomatie einzuhegen, ist gescheitert. Der allzu freundliche deutsche Blick auf Moskau hatte auch etwas mit einem historischen Schuldbewusstsein gegenüber Russland zu tun. Nirgends war der NS-Vernichtungskrieg so grausam wie in der Sowjetunion, deren Rechtsnachfolger Russland ist. Den national getönten Erinnerungsinszenierungen von Kiew bis Warschau schaute man im Westen indes mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Desinteresse zu.

Müssen wir die Geschichte, die Begriffe neu bewerten? In Teilen, ja. In Putins Russland ist „Antifaschismus“ zum Teil einer orwellschen Gehirnwäsche geworden, eines monströsen Lügengebäudes, womit das Regime neben nackter Repression das Volk bei der Stange hält. Kritik am Hitler-Stalin-Pakt 1939 ist tabuisiert. Krieg heißt jetzt Spezialoperation, Hitler war Jude. Und „Nazi“ ist zu einer beliebig verwendbaren Metapher für alles Kritische, Demokratieverdächtige geworden.

Diese manipulative Herrschaftsgeschichte erinnert an Fotografien aus der Stalinzeit, in denen von in Ungnade Gefallenen nur noch ein Schatten oder bei der Retusche vergessene Schuhe an Lenins Seite übrig blieben. Die Fake-Geschichte wurde zu einer Retro-Verlängerung der Stalin-Herrschaft. Unter Putin dient die roh umgeformte sowjetische Opfer- und Siegesgeschichte dazu, einen Angriffskrieg zu rechtfertigen.

Die russische Autorin Julia Latynina hat kürzlich in der Nowaja Gaseta geschrieben, die der taz beigelegt wurde: „Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“

Ist das eine originelle These, die wir erwägen sollten, im Bewusstsein, dass seit dem 24. Februar gründliche Selbstüberprüfung nötig ist? Unbequem, aber bedenkenswert? Keineswegs.

Die Idee, dass Stalin Ende der Zwanziger Jahre einen Weltkrieg geplant haben soll, spiegelt eher halbdunkel Stalins Größenwahn wider. Zudem siedelt diese These nah an der Propagandalüge, dass Hitler 1941 einen Präventivkrieg gegen Stalin geführt habe. Diese von deutschen Rechtsextremisten gepflegte Lüge dient einem leicht durchschaubaren Zweck: Hitlers Verbrechen werden verkleinert, die Rolle des Menschheitsfeindes wird dem Bolschewismus übergestülpt.

Erinnerungspolitisch ist Europa gespalten. Das führt Latyninas greller Antistalinismus vor Augen

So erscheint Hitler, wie ihn die NS-Propaganda zeigte: als Verteidiger Europas abendländischer Kultur gegen den asiatischen Despotismus. Moskau wolle „Europa bolschewisieren“, schrieb Goebbels 1941 in sein Tagebuch. Dem komme man nun zuvor. Es geht hier nicht um ein Detail der Weltkriegsgeschichte, sondern um NS-Propaganda.

Die Idee, dass Stalin das Copyright auf politische Verbrechen des 20. Jahrhunderts hat, ist nicht neu. Ernst Nolte war 1986 der Ansicht, dass nicht der Nationalsozialismus, sondern der Bolschewismus eigentlicher Treiber der entgrenzten Gewalt war, die in den Zweiten Weltkrieg führte. Der Archipel Gulag sei der Vorgänger von Auschwitz gewesen, der mörderische Klassenkampf der Bolschewiki die Blaupause der NS-Rassenmorde. Der russische Publizist mit dem Pseudonym Viktor Suvorov vertritt die Präventivkriegsthese. Seine Bücher erscheinen auf Deutsch in einem Verlag, der auch Werke wie „Freiwillig in die Waffen-SS“ verlegt.

Diese drei Ideen – Stalin hat den Zweiten Weltkrieg geplant, Hitlers Krieg war ein Präventivschlag und die Nazi-Gewalt hat die der Bolschewki nur imitiert – ergeben zusammen einen ziemlich hässlichen Strauß. Sie verschleiern allesamt den Wesenskern des NS-Krieges im Osten. Die „slawischen Untermenschen“, von Polen über Ukrainer bis zu den Russen, sollten versklavt und zu Dienstvölkern der „Herrenrasse“ werden, nachdem man etliche Millionen hatte verhungern lassen. Diese rassistische Essenz des NS-Regimes wollte Nolte in der Historikerdebatte in den Hintergrund verbannen, um den Weg zu einer selbstbewussten Nation zu ebnen.

Quelle          :       TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Kolorierte Version von Datei:Historical_totalitarian_leaders.jpg Collage der angeklagten totalitären Führer (jede Reihe – von links nach rechts) Joseph Stalin, Adolf Hitler, Mao Zedong, Benito Mussolini und Kim Il-sung. Individuelle Bilder: Datei:JStalin Secretary general CCCP 1942.jpg Datei:Adolf Hitler beschnitten 2.jpg Datei:Mao Zedong 1959 (beschnitten).jpg Datei:Benito Mussolini Porträt als Diktator (retuschiert).jpg Datei:Kim Il-sung 1950.jpg

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