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Erfolg dank Algorithmus

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 11. August 2022

Warum TikTok so interessant ist – und trotzdem ein Problem

Lindners Hochzeit auf Sylt ?

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Keine App befriedigt unsere digitale Neugier besser als TikTok. Längst wollen Facebook, YouTube und Instagram so werden wie die App aus China. Unser Kolumnist wünscht sich, dass es ihnen gelingen wird.

Stellen Sie sich einen Raum vor mit mehreren zehntausend Personen. Darin hervorragend ausgebildete, hoch bezahlte Software-Fachleute, und alle haben nur ein einziges Ziel: Genau Sie dazu zu bringen, so lange wie möglich eine App zu benutzen. Und zwar mithilfe von Daten, die Ihre Interessen bis ins kleinste Detail vermessen sollen. Die von diesen Leuten geschaffene Technologie ist extrem gut darin. Wenn man Menschen fragt, die diese App benutzen, dann ist eine der häufigsten Erzählungen derjenigen sehr ähnlich, die kürzlich im SPIEGEL zu lesen war: »(…) wenn ich nur zwei Minuten reingucken möchte und dann eine Stunde davor sitze. Das ist wirklich absurd.«

Dieser Raum existiert im übertragenen Sinn tatsächlich, denn die App heißt TikTok, das Unternehmen dahinter Bytedance und ein guter Teil der über 110.000 Angestellten dieses chinesischen Digitalkonzerns haben in allererster Linie den Auftrag, die sogenannte Stickyness der Produkte wie TikTok zu erhöhen. Klebrigkeit ist die wörtliche Übersetzung, die wunderbar nah an die tatsächliche Funktion herankommt. Es geht in nüchternen, EDV-haft sperrigen Worten um die Erhöhung der Verweildauer.

Heraus kommt ein Algorithmus, der TikTok-Algorithmus, der im Moment das heißeste in der digitalen Welt ist. Man könnte das negativ formulieren und von »süchtigmachend« sprechen oder von »Manipulation«. Diese Lesart ist meiner Meinung nach mindestens unvollständig, vielleicht sogar irreführend. Es gibt auch eine sehr viel positivere Sichtweise.

Algorithmen ordnen die Masse an Inhalten

Faktisch hat die Erfindung der sozialen Medien ein Problem exponentiell verstärkt, das schon zuvor unüberwindbar schien: Die schiere Fülle der Inhalte ist viel, viel zu groß. Im Jahr 2020 wurden allein auf YouTube in jeder Stunde etwa 30.000 Stunden Videos hochgeladen. Das bedeutet, um die Inhalte eines einzigen Tages anzuschauen, bräuchte man über 80 Jahre. Und das ist nur YouTube. Ohne die Inhalte vorschlagenden Algorithmen wäre man da aufgeschmissen.

»Serendipität« oder »Serendipity« ist der Fachbegriff für die Erwartung, etwas irgendwie Interessantes zu finden, ohne danach zu suchen. Im 21. Jahrhundert ist Serendipität die digitale Form der Neugier im Wortsinn: die Gier nach Neuem – mit einem Twist, der durch die Content-Fülle des Internets ausschlaggebend geworden ist. Neu reicht nicht, es muss neu und für die jeweilige Person interessant sein, denn eigentlich ist nichts individueller als die Befriedigung von Neugier.

Der TikTok-Algorithmus ist derzeit mit weitem Abstand am besten darin, die digitale Neugier zu befriedigen. Das geht so weit, dass nicht wenige Nutzer*innen berichten, wie ihnen Videoclips vorgeschlagen werden mit Inhalten, die ihre geheimsten, nie geäußerten Wünsche und Vorlieben beinhalten.

Digitalisierung bedeutet ständige Veränderung

Jede Generation hat ihr Social Network. Millennials fühlen sich auf Instagram zu Hause, die Generation Z hat TikTok zur meistheruntergeladenen (Social) App der letzten Jahre gemacht, Boomer und ihre Eltern sind auf Facebook. Nur die Generation X taumelt zwischen allen Welten hin und her oder ist auf Twitter, dem Social Network für Empörungsjunkies. Diese zugegeben sanft vereinfachte Momentaufnahme ist für Mark Zuckerberg Anlass zur Sorge.

Denn soziale Medien sind wie Madonna, sie müssen sich ständig verändern, um erfolgreich zu bleiben. Das ist ein Muster der Digitalisierung, was in Deutschland bisher kaum verstanden worden ist. Viel zu oft glauben Verantwortliche, egal ob in Unternehmen, Institutionen oder der Politik, dass digitale Transformation – also der Wandel durch die Digitalisierung – irgendwann abgeschlossen sei. Was leider der Begriff auch nahelegt.

In Wahrheit handelt es sich bei der digitalen Transformation um einen Prozess, der niemals aufhört. Nicht nur, weil sich die Technologie immer weiterentwickelt, sondern auch, weil ein wesentlicher Aspekt der digitalen Transformation darin liegt, ständig den gigantischen Rückkanal der Nutzungsdaten in die eigenen Produkte, Prozesse und Geschäftsmodelle einzubauen.

Das gelingt nicht einmal denen immer, die es nahezu perfekt verstanden haben. Mark Zuckerberg ist eine der Personen, die den digitalen Wandel nicht nur umfassend begriffen haben, sondern auch selbst aktiv vorantreiben. Und trotzdem ist Zuckerberg Herr über ein Netzwerk, das den Wandel bisher nicht geschafft hat: Facebook war einmal das mit Abstand wichtigste Netzwerk der Welt (und ist immer noch das größte), aber inzwischen entfaltet es die Coolness eines Klassentreffen nach 35 Jahren.

Werbekunden wollen Coolness

Coolness – also der Sog des Dabeiseinwollens – ist für eine Welt, in der Werbung die einzige Geldmaschine ist, überlebenswichtig. Mark Zuckerberg hat große Angst davor, dass Instagram verfacebookt. Eigentlich haben alle sozialen Medien Angst zu verfacebooken. Das vermeintliche Gegenmittel ist die TikTokisierung. Facebook hatte von November 2018 bis Juli 2020 eine TikTok nachempfundene App namens Lasso, die heute zu Recht niemand mehr kennt. Selbst LinkedIn setzt auf Hochformatvideos und Vorschlagsalgorithmen. YouTube hat mit seinen »Shorts« TikTok ebenso dreist kopiert wie es Instagram seit einiger Zeit versucht.

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Als Instagram es vor einigen Wochen testweise bei einigen Nutzer*innen mit der TikTokerei übertrieb, wehrte sich die influencendste Familie der Welt, der Kardashian-Clan, höchstpersönlich dagegen und unterstützte eine Onlinepetition mit dem Slogan »Make Instagram Instagram again«. Sie bezogen sich dabei vor allem auf die sogenannte Immersivität, was man ungefähr mit »Eintauchigkeit« übersetzen könnte. Wie sehr nimmt mich ein Inhalt in Beschlag?

Mark Zuckerberg hat sich an einer Stelle im Metaverse getäuscht

Mark Zuckerberg hatte die Immersivität schon sehr früh als entscheidend erkannt und deshalb voll auf das sogenannte Metaverse gesetzt, also die virtuelle, zusammenhängende, digitale Entsprechung der Welt. Er hat sein Unternehmen ja sogar in Meta umbenannt deshalb – aber sich leider in einem Punkt getäuscht.

Das Metaverse mit seinen Virtual-Reality-Brillen ist der derzeit bekannte Gipfel der Immersivität – aber es gibt zwischen Instagram und dem kommenden Metaverse einen Zwischenschritt der Immersivität. Er mutet simpel an, aber hat detonative Wirkung. Auf TikTok kann man immer nur ein Video gleichzeitig sehen. Es füllt den gesamten Smartphone-Bildschirm aus und ist damit immersiver als alle anderen großen Netzwerke.

Auf TikTok kann man daher nicht im bisherigen Sinn durch die Inhalte durchscrollen. Die Timeline, der Feed oder der Nachrichtenstrom waren die wichtigsten Social-Media-Erfindungen der Nullerjahre. Also die algorithmisch und nach ganz persönlichen Interessen zusammengesetzten Inhalte, die einem beim Durchscrollen der Seite oder der App angeboten werden. Von Twitter erfunden, von Facebook kopiert, von Instagram perfektioniert.

Quelle       :          Spiegel-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Illustration aus Ozma von Oz

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