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Energie-Peripherie?

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 12. Mai 2022

Vom kapitalistischen zum fürsorgenden Wirtschaften im Hier und Jetzt

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Tesla – Grünheide  Berlin

Quelle        :     Berliner Gazette

Von     :    Andrea Vetter

An den Rändern der Metropolen entstehen die häufig unbeachteten Energiezentralen dieser Welt, um die stromfressenden wachsenden Städte mit ihrem Lebenssaft zu versorgen. Doch auch Alternativen und gelebte Gegenentwürfe werden dort im wahrsten Sinne des Wortes kultiviert, wie Aktivistin und Autorin Andrea Vetter in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” am Beispiel einer fürsorgenden Wirtschaft in der ehemaligen DDR zeigt.

Etwa 30 Kilometer entfernt von dem ostbrandenburgischen Dorf, in dem ich lebe, ist nun die neue „Gigafactory“ des Elektroautoherstellers Tesla in Betrieb. Dort rollen tonnenschwere elektrobetriebene Geländewagen vom Band. Gebaut wurde die Fabrik, ohne dass alle Genehmigungen vorlagen, noch immer sind Klagen anhängig, doch die Produktion im vollen Gange. Einen Monat nach dem Start kam es zum ersten Störfall. Eine Chemikalie lief aus. Die Fabrik befindet sich in einem Wasserschutzgebiet, das durch den Klimawandel immer trockener wird. Die bittere Ironie der Geschichte: Bevor der Bau der Fabrik überhaupt ein Thema war, riet die Wasserbehörde davon ab, dort aus Umweltgründen Kleingewerbe anzusiedeln.

In meinen Nachbardorf soll ein großer Berg mit Aushub, der beim Bau der Fabrik entstand, aufgeschüttet werden. Ein Landwirt hat ein Stück Fläche dafür verkauft. Das deutsche Recht, das auf das römische Eigentumsrecht zurückgeht, besagt, dass ein Mensch mit einem Stück Land, das ihm gehört, machen kann, was er will: das Land bewirtschaften, das Land brachliegen lassen, das Land zerstören, es mit Beton versiegeln. Was immer er im Rahmen des gesetzlich Zugelassenen möchte.

Auf hunderten Hektar rund um mein Dorf soll demnächst der größte Agro-Photovoltaik-Park Deutschlands entstehen. Ein Investor hat Land gekauft und Land gepachtet und wird dieses nun mit Photovoltaik-Anlagen vollstellen. Eine engagierte Gemeinderätin hat immerhin durchgesetzt, dass die PV-Module so gebaut werden müssen, dass darunter eine landwirtschaftliche Nutzung möglich sein muss.

Abriss für das Wachstum

In meinem Dorf gibt es keine energiezehrenden Industriebetriebe mehr, alles wurde nach dem Mauerfall im Jahr 1989 abgewickelt. Deindustrialisierung und Privatisierung standen an der Tagesordnung. Die letzte größere ortsansässige Firma beschäftigt sich – passenderweise – mit Abriss und Recyclingarbeiten. Die Entwicklungspläne für die Region – viel Papier, in einem „partizipativen Prozess“ unter Bürgerbeteiligung erarbeitet – haben seit Jahrzehnten immer dasselbe Ziel: Wirtschaftswachstum. Innovation. Ansiedlung von Betrieben. Intensivierung der Landwirtschaft.

Im Sommer regnet es hier manchmal zwei Monate lang keinen einzigen Tropfen. Ich weiß nicht, welche Bäume ich guten Gewissens in unserem Garten noch pflanzen kann, welche hier in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren werden leben können. Die Klimakrise ist nicht weit weg, sondern genau hier. Die ressourcenhungrige Energiewende ist nicht weit weg, sondern genau hier. Das Wachstumsparadigma ist nicht weit weg, sondern genau hier. Hier, und an so vielen anderen Orten weltweit, die an den Rändern der Metropolen entstehen, um die energiefressenden wachsenden Städte mit ihrem Lebenssaft zu versorgen und dabei selbst zu einer ausbeutbaren Energie-Peripherie werden – oder es schon längst sind.

Ausgebeutet wird das Land, das einer „natürlichen“ oder „juristischen“ Person gehört, die damit tun kann, was sie will. Das Land ist tot und versiegelt, trocknet aus oder wird mit Pestiziden vollgepumpt. Ausgebeutet wird der Mensch, der acht oder zehn Stunden täglich in der Fabrik steht und einer monotonen, auszehrenden Arbeit an roboterisierten Fließbändern nachgeht. Häufig nehmen Arbeiter*innen dafür lange Wege in Kauf – im Fall der Gigafactory bei Berlin etwa kommen viele der arbeitenden Menschen aus Polen. Ein anderer Preis, den sie zahlen müssen: Unter der Woche sind die weit weg von ihren sonstigen Beziehungsnetzen. Doch das ist längst nicht alles: Ausgebeutet wird auch der Mensch, der dann zuhause die Wäsche der Person wäscht, die in der Fabrik steht, der sich zurückgelassen um die Kinder, um den Garten, um den Haushalt kümmert.

Gegen die dreifache Ausbeutung

Natürlich können und müssen wir uns dafür einsetzen, dass sich die Rahmenbedingungen dieser dreifachen Ausbeutung ändern – und mein tiefer Respekt gehört allen Menschen, die dies manchmal unter existentieller Gefahr tun oder getan haben. Was kann konkret getan werden? Schärfere Umweltvorgaben durchsetzen, um zu verhindern, dass Fabriken in Wasserschutzgebiete gesetzt werden; tariflich geregelte Arbeitszeiten und Sonntagszuschläge einführen, die die Zeit begrenzen, die Menschen in der fensterlosen Fabrik verbringen und das Geld erhöhen, das dafür nach Hause fließen kann; ein Recht auf einen Kita-Platz für einjährige Kinder erkämpfen, das dafür sorgt, dass Sorgearbeit bezahlt wird, weil sie dann nicht unentgeltlich in der Kleinfamilie erbracht werden muss.

Doch die Verbesserung dieser juristischen Rahmenbedingungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ausbeutung selbst bestehen bleibt, dass das Leben – unser Leben – in eingezwängten Bahnen dahinfließt, nur weil lebensfeindliche juristische Konstrukte und tradierte normierte Vorstellungen suggerieren, es sei unabänderlich, dass Land Privatbesitz (von lateinisch privare, „rauben“) sein könne, dass die eigene Lebenszeit als „Arbeitszeit“ an einem Markt handelbar sei, dass eine Person mit Gebärmutter selbstverständlich putzen, kochen und sich um Kinder kümmern solle.

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Wenn wir schon in krisenhaften Zeiten leben, und so offensichtlich alte Selbstverständlichkeiten brüchig werden, dann ist es auch an der Zeit, uns nicht mit den Brotkrumen zufrieden zu geben. Dann ist es an der Zeit, das offenkundig Naheliegende für jeden einzelnen Menschen zu fordern: die Souveränität über das eigene Leben, eine „Revolution für das Leben“ (Eva von Redecker, 2020), eine „Care Revolution“ (Gabriele Winker, 2015). Doch was hieße eine Revolution für das Lebendige, für das Sorgende?

Revolution für das Lebendige

Lebendigkeit wird durch fürsorgende Hinwendung aufrechterhalten. Ein Garten braucht Wasser und einen Menschen, der gießt; ein Kind oder ein kranker oder ein alter Mensch braucht Pflege und Begleitung; alle brauchen angebautes und zubereitetes Essen; unsere Kleidung, ebenso wie ein Haus oder ein Fahrzeug brauchen beständige Achtsamkeit und Reparatur, um nicht kaputtzugehen und zu zerfallen. „Wirtschaften“ bezeichnet die menschlichen Tätigkeiten, die das Leben und die dafür notwendigen Dinge nähren und aufrechterhalten.

Alles andere ist nicht Wirtschaft (im Sinn des Oikos, des Haushaltes, der Wortwurzel der Begriffe „Ökonomie“ wie auch „Ökologie“), sondern systematische Ausbeutung: Extraktivismus.

Anzuerkennen, dass Fürsorge das Zentrum allen Wirtschaftens ist (Ina Praetorius, 2015), würde eine Abkehr vom Wachstumsparadigma bedeuten, eine Abkehr von der Idee, dass mehr Arbeitsplätze, mehr Industriebetriebe, eine zunehmende Monetarisierung aller Lebensbereiche besser für alle Menschen seien (Schmelzer/Vansintjan/Vetter, 2022); einen Ausstieg aus der Steigerungslogik auf allen Ebenen – der materiellen, der juristischen, der soziokulturellen, der mentalen Strukturen; ein Ende von linearem Fortschritt und Ausbeutung. Fürsorge ist nicht linear, sondern zyklisch: Sie muss immer wieder, jeden Tag neu, erbracht werden, sie ist niemals fertig, sie ist immer notwendig, sie ist nicht immer angenehm, oft auch ziemlich anstrengend – aber immer sinnvoll.

Die Fabrik in Gemeinschaftsbesitz überführen

Was hieße ein lebendigkeitsförderndes, fürsorgendes Wirtschaften für unser Dorf in Ostbrandenburg und für die 30 Kilometer entfernte Fabrik? Klar wäre zunächst: die Fabrik kann unmöglich im Besitz einer einzelnen Person – ob „natürlich“ oder „juristisch“ – sein, die gegen mehr oder weniger Entlohnung andere Menschen „einstellt“, dort die Geschäfte zu managen, die Maschinen zu warten oder die Toiletten zu putzen. In einem fürsorgenden Wirtschaften können und müssen Menschen ihre Lebenszeit nicht verkaufen. Sie können nur beschließen, einen Teil ihrer Schaffenskraft verbindlich einer Sache zu widmen, die sie für sinnvoll halten, etwa die Produktion von Elektrofahrzeugen, um das menschliche Bedürfnis nach Mobilität zu befriedigen.

Die Fabrik würde also enteignet und in Gemeinschaftsbesitz – beispielsweise in eine Genossenschaft oder eine nicht-handelbare Aktiengesellschaft – überführt. Jeder Mensch, der dort tätig ist, erhielte automatisch einen Anteil. Gemeinsam würden die Menschen immer wieder neu beschließen, was und wie sie dort produzieren wollen. Selbstverständlich könnten das nicht alleine die dort Arbeitenden bestimmen. Jene aus den umliegenden Dörfern hätten ebenfalls ein Mitspracherecht. Darüber hinaus würden die Bäume, die Sträucher und die anderen nicht-menschlichen Lebewesen durch einen Stewart, bzw. eine Fürsprecherin, vertreten und so eine Stimme erhalten.

Die Folgen? Beispielsweise könnten die in der Fabrik Tätigen nicht einfach auf einem „Weltmarkt“ beliebige Dinge, wie Lithium oder Stahl, einkaufen, sondern müssten bei den Produzierenden an anderen Orten der Welt anfragen, ob und zu welchen Bedingungen sie bereit sind, ihre Ressourcen und Güter zu teilen. Vielleicht käme dabei heraus, dass es nicht genügend Lithium für Batterien oder Stahl für neue Karosserien gibt, um sehr viele neue Fahrzeuge zu bauen. Womöglich käme jemand auf die Idee, die Hälfte der gigantischen Hallenflächen stattdessen als Umbau- und Reparaturwerkstatt zu nutzen, wo etwa in alte, fossil betriebene Autos neue elektrisch betriebene Motoren hineingebaut oder aus zwei alten Fahrzeugen ein neues zusammengesetzt werden könnte.

In einer fürsorgenden Wirtschaft

Vielleicht würden auch völlig andere Fahrzeuge gebaut, etwa gar keine Autos für den Individualverkehr, sondern Fahrräder aller Art (Lastenfahrräder, Fahrradbusse, etc.), Straßenbahnen, Elektrobusse, Traktoren. Ziemlich schnell – wenn Menschen freiwillig ihr Tun für eine sinnvolle Sachen einsetzen, anstatt ihre Arbeitszeit zu verkaufen – würde die Fabrik ihren abgeschlossenen Charakter einer reinen Herstellungsstätte verlieren. Menschen würden anfangen, Musik-Proberäume einzurichten, um zwischen dem Schweißen eine Runde zu jammen; sie würden die Mensen gemeinsam betreiben, und miteinander kochen, vor jeder Kantine wüchsen in Hochbeeten frische Küchenkräuter.

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Das Hauptgebäude des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie in der Invalidenstraße 47-48 in Berlin-Mitte

Immer wenn jemand Geburtstag hätte – und das käme oft vor –, gäbe es kunstvoll gefertigte Sahnetorten. Kinder spielten hinter den Parkplätzen, Hühner wuselten über den Vorplatz, der langsam wieder grün würde und in dem der Löwenzahn den Asphalt sprengte. Menschen würden sich in einer Halle an Nähmaschinen zusammensetzen, um die Arbeitskleidung auszubessern. Leute würden sich ein Café einrichten, in dem es sich zusammensitzen und philosophieren ließe, und viele Räume bekämen Sofas für die vielen notwendigen Besprechungen.

In einer derart fürsorgenden Wirtschaft wäre das Leben nicht parzelliert in feinsäuberlich abgetrennte Bereiche – wie Landwirtschaft, Kultur, Politik oder Bildung –, sondern würde das Ganze des Lebens umfassen. Jede Tätigkeit wäre zugleich auch eine künstlerische, eine bildende, eine politische, eine nährende.

Mehr als ein Traum?

Ist diese Vorstellung mehr als ein Traum? Ist sie auch erreichbar? Das weiß vermutlich niemand mit Sicherheit; ebensowenig wie jemand mit Sicherheit vorhersagen kann, ob und wie lange die jetzige, kapitalistisch verfasste „Wirtschaft“ weitermachen kann wie bisher. Doch so träumerisch die Vorstellung von einer fürsorgenden Wirtschaft anmuten mag, sie ist doch eine nicht weniger mögliche und nicht weniger wahrscheinliche Zukunft wie die Vorstellung, dass in 30 Jahren noch immer eine dank ungebrochener globaler Lieferketten und funktionierender Märkte weitergeführte kapitalistische Produktion von Elektroautos existieren wird.

Damit wir uns eine solche „konviviale“ (der Lebendigkeit dienende) Fabrik vorstellen können, ist es jedoch entscheidend, diese Wirklichkeit vorauszulieben – und zwar dort, wo dies einfacher möglich ist als in einer heute existierenden, im Eigentum von Aktionär*innen stehenden Fabrik.

In dem kleinen ostbrandenburgischen Dorf, in dem ich lebe, besitzen wir gemeinsam als Verein ein großes Gelände – eine ehemalige Berufsschule mit Internat mit über 60 Zimmern, Feldsteinscheune, Lagerhallen und einer alten Schnapsbrennerei. Diesen Ort wollen wir zu einem Kulturquartier umnutzen. Wir sind hier zusammen tätig, freiwillig – dort wo es Sinn ergibt. Wir treffen gemeinsame Entscheidungen, wir wirtschaften zusammen, so gut es unsere diversen Lagen und unsere inneren Muster eben erlauben. Wir schaffen Raum für Menschen „on the move“, wir bekommen einen Teil unseres Essens von der zwei Dörfer weiter gelegenen Solidarischen Landwirtschaft. Wir retten unverkäufliche Pflanzen von einem Baumarkt in der Nähe und verschenken sie an Menschen aus der Umgebung. Wir scheitern oft an uns selbst, an Ansprüchen von außen oder an den uns umgebenden juristischen Strukturen.

Aber wir wissen und fühlen es täglich: Eine andere Welt ist möglich, und sie ist schon im Entstehen. „Transition justice“ kann es nicht halb geben. Sie ist kein Kompromiss mit dem Kapital und der Bürokratie. Sie ist eine ganze, volle Gerechtigkeit, die den Menschen die Souveränität zurückgibt, sich selbstbestimmt und achtsam um sich selbst und um einander, um ihre Beziehungsnetzwerke, um ihre Orte und um die Lebensgrundlagen der kommenden Generationen zu kümmern.

Anm.d.Red: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englischsprachige Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de.

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Grafikquellen     :

Oben       —   Gelände der zukünftigen Fabrik von Tesla in Grünheide, am rechten Bildrand der Berliner Ring, hinten das Gewerbegebiet Freienbrink

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