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Erstellt von Redaktion am Dienstag 10. Mai 2022

Der Ukrainekrieg und die Propaganda

Chaiky, Bucha Raion, 3 March 2022 (1).jpg

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Die Wahrheit und die Moral sind entfernt verwandt, nicht aber Zwillinge. Kriegspropaganda lügt, das ist ihre Natur. Wir sollten das bedenken.

Einstimmung

In einer Zeit, da alles wichtig ist, ist nichts wichtig außer dem Augenblick der Aufmerksamkeit. Deshalb signierte Herr Warhol vor 60 Jahren Ein-Dollar-Noten, die nach Abschluss dieses Aktes für 5000 Dollar verkäuflich waren. Heute würde das nicht als Kunst verstanden, sondern wäre Anlass, dem jungen blonden Mann einen Förderpreis für Start-ups zu verleihen.

Heutzutage fährt, wie man in der »FAZ« vom 4. Mai auf Seite 1 sehen konnte, der Abgeordnete Roderich Kiesewetter nach Irpin, wo sich der Vorsitzende seiner Partei »die Zerstörung zeigen lässt« (Seite 3), angetan mit einer zerstörungsresistenten Windjacke und umgeben von lachenden Bildreportern, die sich die Zerstörung zeigen lassen. Er selbst schaut, wie wir es von ihm nicht anders kennen, besorgt im Angesicht der ihm gezeigten Zerstörung, hat sich aber auf Seite 6 der »Süddeutschen« schon wieder so weit gefangen, dass man ihn in zärtlicher Umarmung mit einer Dame namens Halyna Yanchenko ablichten kann, auch hier im Hintergrund eine malerische Zerstörung, diesmal aus Kiew. Wir vermuten, dass der Abgeordnete Laschet die Schnappschüsse aufmerksam betrachten wird.

Am vorvergangenen Wochenende hat die »Frankfurter Sonntagszeitung«, die samstags erscheint, ein großes farbiges Konterfei des regierenden Bundeskanzlers abgedruckt, der »Scholz« heißt und, wie wir der Presse entnehmen, »immer mehr unter Druck gerät«, was die reine Wahrheit ist, da es ja jeden Tag in der Zeitung steht. Das Bild mutete uns kurzzeitig irritierend an, bis wir es sensorisch durchschauten: Scholz, der Bundeskanzler unter Druck, war als Clownsmaske abgebildet. So viel war die Würde des Amtes der Redaktion am 24. April 2022 wert.

Die »Süddeutsche«, zweite Morgenlektüre, druckte drei Tage später ein Lichtbild ab, die Pressekonferenz des Uno-Generalsekretärs G. und des russischen Außenministers L. zeigend. Herr L. ist 1,87 Meter groß, Herr G. 1,70 Meter, reicht Herrn Minister also bis zur Oberlippe. Diese Botschaft schärfte die Fotoabteilung des Ministeriums, indem sie die Kamera frontal in Kopfhöhe vor Lawrow positionierte und ein kurzbrennweitiges Objektiv verwendete. So ließ sich fast fälschungsfrei dokumentieren, dass es sich bei Herrn G. um einen etwa 1,35 Meter großen Kleinwüchsigen handelt, dessen Nase knapp über die Jacketttasche des Ministers reicht. Das sind ein paar willkürliche Beispiele aus den Propaganda-Ozeanen der Wahrheitsagenturen.

Propaganda I

Nicht allen Lesern werden der Wikipedia-Artikel »Propaganda« und der lehrreiche Artikel »Techniken der Propaganda« bekannt sein. Beide will ich an dieser Stelle empfehlen. Spätestens nach der Lektüre werden Sie wissen, dass es – wie immer man inhaltlich dazu stehen mag – keine Gelegenheit gibt, die zum Thema »Propaganda« entwickelten Theorien und Systematisierungen unverfälschter, unmittelbarer und ekelhafter zu erleben, als es ein Krieg möglich macht. Krieg ist nicht allein der Ernstfall für jeden Bachelor-Absolventen einer Bundeswehr-Akademie, sondern auch die ultimative Herausforderung für die Millionen deutscher Menschen, die irgendetwas mit Medien studiert haben, demnächst studieren werden oder einfach machen wollen.

Der oben genannte Herr Lawrow hat, wie Sie hoffentlich wissen, eine seltsame Bemerkung über ukrainische Juden im italienischen Fernsehen gemacht, die den deutschen Philosophen egal sein könnte, wäre der Russe als solcher nicht das aktuellste Salz in der Suppe des germanischen Weltordnungswillens. Der Feldjäger d. R. Dr. Reinhard Müller hat in der »FAZ« erläutert, wie solcherart fiese Propaganda funktioniert: Um seinen »menschenverachtenden Angriffskrieg« zu legitimieren, »erklärt man den Gegner zum Nazi. Und gegen Nazis ist ja wohl alles erlaubt«. Der entlarvte Propagandatrick mag dem »FAZ«-Leser nicht vollständig neu sein, ist aber trotzdem schäbig. Autor Müller fährt fort: Die Äußerungen Lawrows hätten »offengelegt, wo die eigentlich verbrecherischen Rassisten sitzen (…) Lawrow hat den Geist des Blut-und-Boden-Regimes im Kreml ein weiteres Mal herausgestellt.«

Da sind wir aus verschiedenen Gründen froh: Zum einen, weil aus berufenem Mund deutlich gemacht wurde, dass es eine dreckige Propagandalüge ist, andere als Nazis zu beschimpfen, die es gar nicht sind, während man selbst ein »eigentlicher« Nazi ist, der es zwar nicht zugibt, aber gerade dadurch überführt wird.

Zum anderen ist es schön, dass wir hier sowie an täglich zweihundert anderen Stellen lernen, der Krieg der Russen sei »menschenverachtend« und »grausam«, insbesondere, da sogar Frauen dabei zu Tode kommen. Das unterscheidet ihn vom »mutigen Krieg« und allemal vom richtigen Krieg, der, wie man weiß, dem Menschen zugewandt, hart, aber zärtlich ist und bei dem praktisch alle Zivilisten evakuiert werden, bevor auch nur eine einzige Drohne vier mutmaßliche Radikalislamisten plus 17 Kollateralpassanten »ausschaltet« oder 1000 Nato-Kampfflugzeuge Ziele der »zivilen Infrastruktur« in Serbien bombardieren.

Propaganda II

Das Russe-sein gewinnt, so scheint mir, im Verlauf des Ukrainekriegs desto mehr identitären Gehalt, je mehr das Deutschsein als Qualität wiederentdeckt wird. Wobei Deutschsein in seiner menschenwürdeorientierten Form eine Art Gegenteil von »Russe-sein« bedeuten soll, was schon Konrad Adenauer wusste, ein Verfassungsexperte der neueren Zeit. Hat sich die CDU eigentlich schon dafür entschuldigt, jahrzehntelang Kerzen vor dem Kokoschka-Porträt des Mannes entzündet zu haben, dessen Innenminister Höcherl nicht mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlief?

Ein Parteigenosse und späterer Parteifreund des lustigen Ministers sagte: »Deutschland kann atomar nicht verteidigt, aber zerstört werden«, und proklamierte im Bundestag »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen«. Das war aber nicht der Putin-Ermöglicher Brandt, sondern der Ehrenbürger der Stadt Fulda, Alfred Dregger, für dessen verkappten Früh-Putinismus noch eine Entschuldigung aus dem Adenauerhaus fehlt. Einzig Herbert Czaja hat rechtzeitig erkannt, worauf das russische Wesen hinausläuft. Er stimmte 1990 entschlossen gegen vier plus vier und forderte bis zu seinem seligen Ende den Wiedereintritt seiner oberschlesischen Heimat in das Deutsche Ganze. Er war aber, ebenso wie Adenauer und anders als Dregger und Höcherl, kein Nazi.

Heutzutage dominiert das Russische im deutschen Bewusstsein, wie man es selbst zu Zeiten von Dschugaschwili kaum erlebt hat. Nimmt man die überregionale deutsche Printpresse, dürften täglich mindestens 30 Zeitungsseiten für die Schilderung der Abgründe draufgehen, die sich in Russlands Militär, Politik, Gesellschaft, Natur, Wirtschaft, Kunst, Universitäten, Mode und vor allem Menschen binnen kürzester Zeit aufspüren ließen, nachdem sie vor mehreren deutschen Generationen jahrzehntelang geheim gehalten wurden.

Erlebnisjournalismus

Allerdings gibt es doch Unterschiede: In den Redaktionen findet sich kaum noch jemand, der »aus Russland zurückgekommen«, »in Stalingrad gewesen«, in der Ukraine gemordet oder die Ermordung eigener Angehöriger durch die Rote Armee miterlebt hat. Das Tag und Nacht anhaltende Schreiben, Reportieren, Filmen und Berichten stammt überwiegend von Menschen, die von Russland, Ukraine, Krieg, Militärlogistik, Gaspipeline oder posttraumatischen Belastungsstörungen bis vor vier Monaten so viel Ahnung hatten wie eine Kuh vom Fliegen. In diese Bewertung einbezogen werden können Fast-Landwirtschaftsminister, Fast-Kanzler, Ganz-Außenminister und Ehren-Herausgeber verschiedenster Provenienz. Das ist an sich nicht weiter schlimm. Die Zeiten ändern sich, man lernt dazu.

Aber es darf doch einmal gesagt werden: Der Erlebnisjournalismus der militärischen Art ist zu nicht unerheblichen Teilen eine abstoßende Selbstdarstellung überforderter Personen und Strukturen. Er ist zum Ersten getrieben vom Medienmarkt selbst, also Konkurrenz, Eingewöhntheit in Pseudogeschwindigkeit und »Gleichzeitigkeit« sowie eine in sich kreisende Behauptung gleichberechtigter Kommunikation, zum Zweiten von einer zeitweise absurd wirkenden Übertragung eingeübter »Betroffenheits«- und Erlebnismuster aus der weltfernen Sphäre überversorgter Kinder in die Brutalitäten der Gewaltpolitik, zum Dritten von der logistischen Verfügbarkeit propagandatauglicher Locations, Strukturen und Nachrichten: Besichtigung und Abfotografieren zerstörter Aldi-Märkte ist in Sanaa nun mal schwieriger als in Lwiw.

Die Ergebnisse sind: endlose Wiederholungen des immer gleichen Narrativs, angereichert mit bebenden Betroffenheitsfloskeln und stereotypen Bildern ohne Aufklärung, aber mit Moral-gesättigtem Sentiment. Abgesichert durch das angeblich überwältigende »Empathie«-Bedürfnis der angstgeschüttelten Konsumentenmassen und angereichert mit wahllos wirkenden Strategieoffenbarungen zur Weltlage und wahlweise zum Untergang oder Triumph des Abendlands.

Niemandem soll ein guter Wille abgesprochen werden! Niemand soll gehindert sein, den Krieg so zu nennen, wie er ist. Aber von wem soll man professionelle Distanz zur Propaganda aller Seiten erwarten, wenn nicht von Menschen, die Seminare über »Propaganda« besucht haben? Man kann ja die Beschreibung der Welt nicht zur Gänze in die Hände des Twitter-Wahnsystems legen. Selbstverständlich lügen die Russen! Und selbstverständlich lügen die Ukrainer. Lüge und Wahrheit bestimmen sich nicht nach der Moral! Muss man 30- bis 50-jährige Journalisten hieran wirklich erinnern?

Quelle         :          Spiegel-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Chaiky village in Kyiv Oblast of Ukraine during Russian invasionEmergency Service of Ukraine reported that a missile hit the building where spray foam was made and stored. It caused fire on 10 000 sq.m. of storage area and in a 8-storey administrative building.

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Unten     —       Thomas Fischer auf der re:publica 2016
Ot – Eigenes Werk
Thomas Fischer (Jurist)
CC-BY-SA 4.0
File:Thomas Fischer-Jurist-rebuliva16.JPG
Erstellt: 4. Mai 2016

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