Eine Stadt am Niger
Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 27. Juni 2019
Kein Weg mehr durch Agadez
von Rémi Carayol
Die Stadt in Niger lebte früher von durchreisenden Migranten. Das ist vorbei.
Der Busbahnhof von Agadez liegt wie im Dornröschenschlaf. Die warme Jahreszeit schickt ihre Vorboten. Schon im Morgengrauen hat sich eine feine Staubschicht über die Stadt gelegt. Das Wetter ist jedoch nicht der Grund für die wenigen Reisenden. „Es gibt schon lange keine mehr“, beklagt ein Schalterbeamter, der auf einer Matte neben seinem schlafenden Kollegen liegt. „Die Leute, die nach Norden wollen, halten sich versteckt.“
Agadez, die bevölkerungsreichste Stadt im Norden Nigers, wurde von den Reisebüros einst als „Tor zur Wüste“ gepriesen. Früher war der Busbahnhof, von dem die Konvois nach Dirkou und weiter nach Libyen starteten, das pulsierende Herz der Stadt. Jeden Montag fuhren von hier bis zu 200 Fahrzeuge mit Vieh und Menschen beladen Richtung Wüste.
Die Passagiere kamen aus Westafrika, seltener aus Zentral- und Ostafrika, und die meisten wollten nach Libyen, um von dort, inschallah, nach Europa zu gelangen. Die nigrische Armee begleitete die Konvois bis an die libysche Grenze. Für die Migranten waren die Konvois ein Synonym der Hoffnung, für die Einwohner von Agadez eine wichtige Verdienstmöglichkeit. „Die ganze Stadt profitierte davon“, erinnert sich Mahaman Sanoussi. „Die Migration war legal, die Transportunternehmen verdienten gut und zahlten ihre Steuern. Mit dem Gesetz 2015-36 hat sich alles geändert.“
Das Gesetz vom 26. Mai 2015 gegen „Menschenschmuggel“ erklärte von einem Tag auf den anderen für illegal, was bis dahin ein Gewerbe wie jedes andere gewesen war. Dutzende junge Nigrer wanderten ins Gefängnis. 2015 war das Jahr, in dem die EU beschloss, eine unsichtbare Mauer zu errichten, um die Migration aus dem Süden zu stoppen. Bei einem Gipfeltreffen in der maltesischen Hauptstadt La Valetta berieten die 28 Staats- und Regierungschefs über eine europäische Migrationsagenda und wie sie ihren Kampf gegen die Zuwanderung an ausgewählte afrikanische Staaten outsourcen könnten.
Den mittellosen Regierungen wurden insgesamt mehr als 2 Milliarden Euro versprochen, wenn sie den Europäern dabei helfen würden, jeden zurückzuhalten, der die lange Reise wagen will. Ein Nothilfetreuhandfonds „zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung der Ursachen von irregulärer Migration und Vertreibungen in Afrika“ finanziert seitdem zahlreiche Projekte in Nigeria, Senegal, Äthiopien, Mali und Niger.1
Niger grenzt an Algerien und Libyen, weshalb das Land in der europäischen Strategie einen zentralen Platz einnimmt. Nachdem eine internationale Koalition 2011 das Gaddafi-Regime in Libyen hinweggefegt hatte, wurde Agadez zum wichtigsten Transitort in Richtung Europa. Auch wenn die Stadt bereits 2015 im Fokus der EU-Politik zur Eindämmung der Migration stand, machten noch 2016 rund 400 000 Migranten auf dem Weg Richtung Norden hier Halt.2
Niger, laut Entwicklungsprogramm der UN das ärmste Land der Welt, sieht sich an seinen Grenzen mit zahlreichen Bedrohungen konfrontiert – Boko Haram im Südosten, bewaffnete malische Gruppen im Nordwesten und Tubu-Milizen im Norden. Der von Mahamadou Issoufou, einem Verbündeten Frankreichs, regierte Staat braucht Geld und militärische Unterstützung. Der Nothilfefonds hat Niger in drei Jahren mehr bewilligt als jedem anderen Land: 266 Millionen Euro. Offiziell spricht man von Entwicklungshilfe oder vom Kampf gegen Menschenhandel. In der Praxis will man die Migration nach Europa stoppen, wenn nötig mit Gewalt (siehe Kasten auf Seite 9).
Ein Teil des Gelds ist für den Aufbau des Staats und für die Grenzsicherung bestimmt: Die nigrischen Sicherheitskräfte wurden durch die Schaffung einer Elitetruppe für den Kampf gegen die Migration gestärkt. Eine gemeinsame Ermittlergruppe soll die „kriminellen Netze des Menschenschmuggels“ zerstören. In Agadez wurde ein Standort der zivilen Aufbaumission Eucap Sahel Niger eingerichtet. Seit 2015 organisiert die „Migrationseinheit“ der Mission die Ausbildung von Sicherheitskräften und stellt Ausrüstung zur Verfügung. Offiziell werden die Polizisten aus verschiedenen europäischen Ländern selbst nicht aktiv: Sie würden lediglich Informationen sammeln und technisches Know-how vermitteln.
Die Ausarbeitung der EU-Migrationsagenda und die Verabschiedung des Gesetzes 2015-36 lagen zeitlich verdächtig nah beieinander. In der nigrischen Regierung bestreitet niemand, dass das Gesetz von Europa angeregt, wenn nicht gar erzwungen wurde. Teilweise feilten sogar französische Beamten an den Formulierungen. „Es stimmt, es gab Druck“, gibt General Mahamadou Abou Tarka zu. Er ist Präsident der Behörde zur Festigung des Friedens (HACP), die dem Präsidenten untersteht und die Umsetzung des Gesetzes überwachen soll. „Aber wir hatten auch schon seit einer Weile darüber nachgedacht. Die Explosion der Flüchtlingsströme hat uns seit 2012 sehr beschäftigt. Zuerst haben wir sie toleriert, vor allem, weil unsere Landsleute damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Aber auch der Schmuggel nahm zu. Und als die Europäer sagten: ,Wir geben euch Geld‘, haben wir die Gelegenheit beim Schopf gepackt.“
Seit Einführung des Gesetzes riskiert jeder, der einem Migranten gegen einen finanziellen oder materiellen Vorteil hilft, das Territorium illegal zu betreten oder zu verlassen, fünf bis zehn Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von bis zu 5 Millionen CFA-Franc (7630 Euro). Wer ihm während seines Aufenthalts Unterkunft gewehrt, ihm Essen oder Kleidung gibt, muss mit einer Gefängnisstrafe zwischen zwei und fünf Jahren rechnen. Seit 2016 wurden fast 300 Personen, Fahrer oder „Fluchthelfer“, verhaftet und mehr als 300 Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen.
Die Befürworter des Gesetzes argumentieren, es kriminalisiere allein die „Schleuser“ und nicht deren Kunden. Eine Strafe für Letztere, die oft alles zurückgelassen haben, um Libyen, Algerien und schließlich Europa zu erreichen, ist es aber allemal. Wer nördlich der Linie Agadez–Dirkou – hunderte Kilometer von der algerischen beziehungsweise libyschen Grenze entfernt – aufgegriffen wird und seine nigrische Staatsangehörigkeit nicht nachweisen kann, wird als potenziell illegaler Migrant behandelt. Der bloße Verdacht reicht aus, um jemanden sofort oder nach kurzem Gefängnisaufenthalt in den Süden des Landes zurückzuschicken.
„Tatsächlich hat die Umsetzung des Gesetzes de facto zum Verbot jeder Reise nördlich von Agadez geführt“, sagt Felipe González Morales. Nach einem Besuch in Niger im Oktober 2018 stellte der UN-Berichterstatter für Menschenrechte von Migranten fest, dass „die fehlende Klarheit des Textes und seine repressive Umsetzung zur Kriminalisierung jeglicher Form der Migration geführt hat“. Anstatt sie zu schützen, zwinge das Gesetz die Migranten, sich zu verstecken. „Das macht sie noch verletzlicher für Missbrauch und Menschenrechtsverstöße.“3
Für Europa ist diese Politik ein Erfolg. Doch um welchen Preis? Nach Angaben der Eucap ist die Zahl der Migranten, die Italien erreichten, in drei Jahren um 85 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Ankömmlinge in Agadez soll von 2016 bis 2018 um mehr als zwei Drittel gesunken sein. In Séguédine, einem Wüstenort auf der Strecke zwischen Dirkou und der libyschen Grenze, sank die Zahl der registrierten Personen von 290 000 (2016) auf 33 000 Menschen (2017).
Trotz strenger Verbote haben die Fluchtbewegungen aber nicht aufgehört. Die Migranten verschwinden einfach vom Radar. Dadurch wird jede Zählung unzuverlässig. Nach Aussage eines Wissenschaftlers, der die Entwicklung der Fluchtrouten im Niger untersucht und anonym bleiben möchte, „hat es vor allem die kleinen Transportunternehmen getroffen. Die großen, die über Kontakte in die Politik verfügen und das Geld haben, die Sicherheitskräfte zu bestechen, machen weiter.“ In dem von Korruption zerfressenen Land genügen einige zehntausend CFA-Franc pro Migrant, um das Schweigen der Patrouillen zu erkaufen.
Zudem werden neue, gefährlichere Routen gewählt, um den Kontrollen zu entgehen. In Agadez gleichen die „Ghettos“, die großen Häuser, in denen die Migranten untergebracht und versorgt werden, immer häufiger Gefängnissen. Seit sie für illegal erklärt wurden, können die Migranten sie nicht mehr verlassen, ohne das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Die Preise für den Transport haben sich verdreifacht. Sobald die Polizei auftaucht, machen sich die Fluchthelfer aus dem Staub und lassen ihre Passagiere, darunter teilweise auch Kinder, mitten in der Wüste zurück.4
Auch für die lokale Bevölkerung hat sich die Situation verschlechtert. Verschiedene Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Haushalte in Agadez von der Migration lebte: Fast 6000 Menschen verdienten ihr Geld als Fluchthelfer, als Coxer (Mittelsmänner), als „Ghetto“-Besitzer oder Fahrer; tausende andere profitierten indirekt – sei es als Köchin, Händler oder Taxifahrer.
Mohamed Abdoul Kader war einer von ihnen. In seinem Viertel, nicht weit vom historischen Zentrum entfernt, nennt man ihn „Boss“. Kader ist 48 Jahre alt, in Agadez geboren und hat eine Weile in Libyen gelebt. Ende der 1990er Jahre fing er an, Migranten zu beherbergen. Das „Business“ kam langsam in Gang. Die Routen in Richtung Europa über Mali, Mauretanien und Marokko waren wegen der Tuareg-Rebellion nicht passierbar. Als einzige Alternative blieb die Reise durch den Niger.
Agadez, wo sich mehrere Handelsstraßen kreuzen, war schon immer ein Transitort – früher für Salz, Sklaven und Vieh. „2002 habe ich eine Reiseagentur gegründet“, erzählt Kader. „Wir hatten ein Büro am Bahnhof. Damals kamen die Migranten mit dem Bus an und fuhren auf Kippladern nach Dirkou weiter. Von dort ging es mit Geländewagen Richtung Libyen.“
Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der Kunden und Kader erweiterte sein Geschäftsfeld; seine Mittelsmänner riefen ihn aus Nigeria, Ghana, Gambia, Burkina Faso und aus dem Senegal an. Er nahm die Ankömmlinge in Empfang und kümmerte sich bis zur Abreise um alles: Papiere, Unterkunft, Essen. „Wir arbeiteten wie eine ganz normale Reiseagentur. Wir mussten ein Vertrauensverhältnis zu den Kunden und den Vermittlern im Herkunftsland aufbauen, also auch dafür Sorge tragen, dass die Kunden wohlbehalten ans Ziel kamen, wenn wir weitere haben wollten“, erklärt er. Er weiß, dass sich das Bild des „Fluchthelfers“ mittlerweile sehr verändert hat.
Alles war genau geregelt: Wenn die Migranten den Stadtrand von Agadez erreichten, zahlten sie den Polizisten eine Gebühr. Am Bahnhof wurden sie von den Agenturen in Empfang genommen und in ihr „Ghetto“ gebracht.5 Wenn sie weiterzogen, zahlten sie beim Verlassen der Stadt wieder eine Gebühr – zugunsten der Gemeinde. 1100 CFA-Franc (1,68 Euro) pro Person, ein kleines Vermögen. Teilweise lagen die Einnahmen der Stadt bei 3 bis 7 Millionen CFA-Franc pro Woche, was die Finanzierung zahlreicher Projekte ermöglichte.
Die Regeln waren überall dieselben, die Preise auch: Um nach Libyen zu gelangen, musste man 150 000 CFA-Francs (etwa 230 Euro) zahlen. Das ist für die meisten Afrikaner viel Geld, für einen Nigrer ist es ein Vermögen. „Ich habe viel verdient“, gibt Mohamed Abdoul Kader zu. „15 Leute arbeiteten für mich. Jede Woche schickten wir 400 bis 450 Migranten nach Libyen. Jeder von uns verdiente 5 Millionen CFA-Franc in der Woche.“ Jeden Montag, wenn die Konvois aufbrachen, waren die Banken und Wechselstuben voll. Auf dem Markt herrschte Festlaune.
Bei der Abreise stellten die Agenturen für jeden Kunden ein Dokument mit Namen und Staatsangehörigkeit für die Polizei aus. Die Regierung ermunterte sogar ehemalige Tuareg- und Tubu-Rebellen, die nach 1990 zu den Waffen gegriffen hatten, in das Geschäft einzusteigen, um dem Krieg endgültig den Rücken zu kehren. „Sie hatten Fahrzeuge, sie hatten keine Arbeit und sie kannten die Straßen“, erzählt Mohamed Anako. Er war einst selbst ein Anführer der ersten Tuareg-Rebellion (1991–1995) und hat sich diesen Plan zur Reintegration in seiner Zeit als Leiter der HACP-Behörde ausgedacht: „Wir haben ihnen geholfen, ihre Autos anzumelden und sich registrieren zu lassen. Alles ganz legal. Dafür hielten sie uns auf dem Laufenden, was in der Wüste los war.“ Heute ist Anako Präsident des Regionalrats von Agadez.
Die Schwierigkeiten begannen nach dem Sturz Gaddafis 2011. Der libysche Staatschef hatte die europäischen Küsten zuverlässig abgeschirmt. Es war beinahe unmöglich, über das Mittelmeer zu gelangen. Dafür konnte man in Libyen bleiben: Arbeit gab es genug, und sie wurde gut bezahlt. „Nach Gaddafis Sturz öffneten sich die Tore nach Europa. Es war wie ein Sog und hier kamen immer mehr Migranten an“, erinnert sich Kader. Ihre Zahl soll sich in Agadez zwischen 2013 und 2016 vervierfacht haben. 2016 zählte die Polizei fast 70 „Ghettos“.
Deutsche Waffen – Deutsches Geld – schüren Krieg in aller Welt ?
Der Unternehmer Kader bekam Konkurrenz. Zahlreiche Nigrer, die in Libyen gelebt hatten, flohen vor Krieg und Chaos und stiegen in das Transportgeschäft mit Migranten ein. Aber die Neuen respektierten die Regeln der Alteingesessenen nicht. „Banditen ohne Glauben und Gesetz“, schimpft ein Mittelsmann. Sie hätten sich nicht gescheut, von den Migranten mitten in der Wüste Schutzgeld zu erpressen, sie beim ersten Problem im Stich zu lassen oder sie an libysche Milizen zu verkaufen, die sie erneut erpressten. Diese Verbrechen, zu denen noch der Schmuggel von Drogen, Tabak, und Waffen kam, zwangen die Behörden, zu reagieren und mit der EU zusammenzuarbeiten.
Wie das Haus von Kader steht auch das „Ghetto“ von Mohamed D. am Stadtrand von Agadez leer. Im Innenhof zeugen in die Wände eingeritzte Namen oder Telefonnummern noch von den früheren Kunden. „Ich habe nichts mehr“, schimpft der ehemalige Fluchthelfer. „Meine beiden Wagen wurden beschlagnahmt, und ich war sechs Monate im Gefängnis. Jetzt habe ich kein Einkommen mehr.“ Und wo ist das Geld, das er in der Zeit des Überflusses verdient hat? „Das habe ich aufgegessen; zusammen mit meiner Familie habe ich es aufgegessen.“
Die Frustration ist umso größer, weil das Gesetz ohne Vorankündigung kam. Niemand in Agadez war informiert, nicht mal die lokalen Volksvertreter. „Es war an einem Montag“, erinnert sich ein Fluchthelfer. „Der Konvoi mit Migranten wurden am Stadtrand von Agadez gestoppt. Wir dachten, es gäbe ein Sicherheitsproblem in der Wüste. Aber keineswegs. Die Fahrer wurden ins Gefängnis gesteckt und die Fahrzeuge beschlagnahmt. Erst danach haben sie uns das Gesetz erklärt.“
Quelle : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — View of Agadez, Niger from mosque minaret. In foreground, Hotel de l’Air is on the left side of the street and Pension Tellit de Vittorio is on the right. Note the roof terraces. Photographed 1997.…
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2. von Oben — 1st Sgt. Simon, with the Spanish Naval Special Warfare Force, takes notes alongside Lt. Yerima, with the Nigerian Special Boat Service, during an operational planning exercise at the Joint Multinational Headquarters for Exercise Flintlock 2018 at Agadez, Niger, April 11, 2018.…