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Eine neue Öko Klasse?

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 8. Juni 2023

Militante Diplomatie, epistemische Gerechtigkeit und die Rechte der Natur

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von                  :       · 07.06.2023

Stürme und Fluten, die auf den Klimawandel zurückgehen, können als Ausdruck einer revoltierenden Natur gelesen werden – eines Widerstands gegen die Zurichtung durch den Kapitalismus, der die Klima- und Umweltkrisen verursacht und regelrechtproduziert. Die Natur als Subjekt anzuerkennen (was indigene Völker traditionsgemäß tun), bedeutet nicht zuletzt ihr auch einen eigenen Rechtsstatus zuzuweisen (was häufig als Erfindung der westlichen Umweltbewegung gefeiert wird). Eine neue ökologische Klasse könnte dann entstehen, wenn solche Widersprüche in den Kämpfen der Unterjochten produktiv werden, wie der Autor und Theatermacher Kevin Rittberger in seinem Beitrag zeigt.

Am Anfang von Bruno Latours und Nikolaj Schulz’ „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ wird erklärt, was es mit dem Untertitel „Ein Memorandum“ auf sich hat. „Merkbuch, in dem man festhält, woran man sich erinnern will.“ Das Memorandum erschien kurz nach Latours Tod. Und ähnlich einem anderen großen Kritiker der Moderne, Günther Anders, hat auch Latours Spätwerk die Notwendigkeit einer radikalen Transformation unterstrichen. Die „politische Ökologie“, an der der Soziologe und Philosoph bis zuletzt gearbeitet hat, ist nämlich der „Name einer Kriegszone“ und es war unzweifelhaft, dass der u.a. durch „Carbon Bombs“ unter Beschuss stehende Planet unbedingt verteidigt werden muss.

Ein Memorandum ist auch noch etwas zweites, nämlich ein Schriftstück, das ein Diplomat einer Regierung zukommen lässt, um den Standpunkt seiner eigenen Regierung darzulegen. Nun ging es Latour nicht ausschließlich um die Regierbarkeit des Nur-Menschlichen. Latours Diplomat*innen reagieren auch auf den immensen Übersetzungsbedarf zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Akteur*innen. Und so bleibt es auch nicht bei ästhetisierenden Vorschlägen, wie sie etwa in der zeitgenössischen Kunst im Umlauf sind (hier sei nur Una Chaudhuris „interspecies diplomacies in anthropocentric waters“ erwähnt).

Latour/Schulz suchen einer ökologischen Klasse in ihrer Entstehung dergestalt zur Seite zu stehen, dass sich die richtigen „politischen Hebel“ finden lassen – jenseits der „Modernisierungsfront“, wozu auch der um Ölheizungswechselfristen, Kohleausstieg vorziehende und Emissionshandel bemühte, grüne Kapitalismus dieser Tage zweifellos gerechnet werden muss. Deshalb, weil es Latour/Schulz ums Ganze geht und die Suche nach der ökologischen Klasse auch die nach einem „militärischen Ethos“ ist, ist die Denkschrift auch ein Manifest geworden. Der gemeinsame Nenner einer ökologischen Klasse bleibt zwar unklar, auch werden Fragen ihrer Organisation ausgespart, die abschließende Frage zielt jedoch ins Herz gegenwärtiger Debatten: „Worin besteht die affektivste und effektivste Ausrüstung für ökologische ‘Kriege‘?“ Und wie gelingt es jenen Diplomat*innen, den „Widersinn der Ökonomisierung“ in einen Widerstand gegen die Ökonomisierung zu übersetzen?

Handlungen im Verzug

Die Gegenwart des Klimaaktivismus ist die Gegenwart „diplomatischer Schlachten“. Klimaktionen müssen heute angesichts der Gefahren einer fortschreitenden Unbewohnbarkeit der Erde und voranschreitender Verarmung, angesichts von rapide wachsender Klimaflucht und Ressourcenkriegen zunächst für die von der real-existierenden kapitalistischen Gegenwart betäubten Ohren rechtsstaatlich organisierter demokratischer Staaten übersetzt werden. Wir leben in einer „globalen Gefahrengemeinschaft“ (Jens Kersten) und diplomatische Schlachten sind Schlachten in fluiden Übergangszonen des Rechts, in denen mehr und mehr unklar wird, welche nationalen, internationalen, bilateralen Rechtssysteme und Abkommen wann greifen, wie sie aneinander vorbei oder ineinander wirken, wie ihnen von Seiten der Politik Einhalt geboten werden kann, wann sie von klimaaktivistischen Handlungen, die immer schon als Handlungen im Verzug wirken, aber auch von sich häufenden klimakatastrophalen Ereignissen erschüttert und zur Neujustierung gezwungen werden.

Der mühsame Ausstieg aus der EU Energiecharta, der endlich möglich erscheint, zeigt etwa, dass die Politik allmählich reagiert. Wie Klaus Dörre dargelegt hat, ist die ökonomisch-ökologische Zangenkrise aber nach wie vor wirksam (Dörre, 2021). Das Beispiel RWE im Rheinischen Revier und LEAG in Ostdeutschland zeigt gerade, dass auch Betriebsräte und Arbeiter*innen an der Verlängerung der Kohleförderung interessiert sind. Und auch in der Automobilindustrie kann nicht davon ausgegangen werden, dass Arbeiter*innen die „neosozialistische Option“ (Dörre) ziehen werden. Das alte Kampflied „Alle Räder stehen still/ Wenn dein starker Arm es will“ ist nunmehr der Ruf der antikapitalistischen Klimabewegung und es ist noch nicht ausgemacht, wie die unteren Klassen der Lohnarbeitenden, Prekarisierten, Papierlosen und Geflüchteten darin einstimmen. Muss die ökologische Klasse auf Industriearbeiter*innen folglich weitestgehend verzichten, da die sozialdemokratischen Parteien ihr traditionelles Klientel nicht an rechtsextreme Parteien verlieren wollen? Können ökologische Klassenkämpfe sich von den alten, allzu häufig national eingehegten Klassenkompromissen emanzipieren?

Ein Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021 war für Klimaaktivist*innen eigentlich wegweisend. Hier wurde eine „intertemporale Freiheitssicherung“ benannt, die durch den Gesetzgeber gewährleistet sein muss. Das Urteil beinhaltete die Warnung, dass die Gegenwart die schiere Möglichkeit aufbraucht, dass künftige Gesellschaften überhaupt noch freiheitlich organisiert werden können. Jens Kersten, Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU München, macht seit dem Urteil jedoch erhebliche Versäumnisse aus: „Wenn Klimaaktivist*innen nun protestieren, müsste der Verfassungsstaat als Rechtsstaat dies bei der Frage der rechtlichen Bewertung von Protestaktionen zumindest berücksichtigen. Dass er dies – bis auf ganz wenige Ausnahmefälle (AG Flensburg) – aber gerade nicht tut, zeigt wiederum, dass seitens der staatlichen Institutionen der Wille besteht, dass der Protest gegen die ökologische Entwicklung schlicht nicht in der Öffentlichkeit sichtbar sein soll.“

Zum Schaden kommt noch der Spott, wenn die Selbstjustiz wutentbrannter Autofahrer*innen mediale Akzeptanz und Legitimation erfährt. Zudem wird die aus dem Urteil ableitbare ultimative Handlungsnotwendigkeit täglich im Säurebad parteipolitischer Kompromisslogiken aufgelöst. Die Proteste von Klimaschützer*innen drohen kriminalisiert zu werden, während die Regierungsvernunft allzu pragmatisch ausfällt. Schließlich muss der UN-Generalsekretär einschreiten, um darauf hinzuweisen, dass Klimaaktivist*innen geschützt werden müssen. Aber dem gesamten politischen Zirkus fehlt der Kompass, den Latour/Schulz und vor ihnen schon viele Aktivist*innen des globalen Südens anders ausgerichtet haben: „Die Welt, von der man lebt, mit der zur Deckung zu bringen, in der man lebt.“

Juristische Waffengleichheit“

„Das ökologische Grundgesetz“ (Kersten, 2022) sieht in seiner gründlichen, revolutionär zu nennenden Überarbeitung des deutschen Grundgesetzes vor, den Anthropozentrismus zu bändigen. Rechtspersonen, zu denen bisher erwachsene Menschen, Kinder, aber auch Vereine und kapitalistische Unternehmen gerechnet wurden, sollen sich ihre Rechtssubjektivität künftig mit mehr-als-menschlichen Lebewesen und Ökosystemen teilen. Das oben erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts würde an die Legislative zurückgebunden und der Staat als alleiniger Beschützer der Natur um ein nunmehr pluraleres Feld an Rechtspersonen verstärkt, die ihre Rechte künftig selbst einklagen können sollen. Die neue Verfassung sähe vor, „juristische Waffengleichheit“ zwischen anthropozentrischen und ökozentrischen Interessen herzustellen.

Übersetzen müssen ökologische Diplomat*innen zunächst zwischen Menschen, denn Menschen sind angesichts der gewaltigen Zerstörung der „Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten“, so Latour/Schulz, „unvorbereitet, mittellos, übungslos“. Übersetzt werden müssen jedoch auch die Rechte der Mehr-als-Menschlichen, die in der Geschichte des Liberalismus, aber auch in der Geschichte des Marxismus wenig bedacht wurden (Fahim Amir, 2018). Latour/Schulz wählen Begriffe aus der marxistischen Denktradition als Übersetzungsbeschleuniger, versäumen es aber auch nicht, auf Mängel hinzuweisen: „Die Analyse in Begriffen der ökologischen Klasse bleibt materialistisch, aber sie muss sich anderen Phänomenen als der alleinigen Produktion und der alleinigen Reproduktion ausschließlich der Menschen zuwenden.“

Mit dem Atomkraft- und Fortschrittkritiker Günther Anders ließe sich ergänzen, dass die Aneignung der Produktionsmittel ohne den umfassenden Rückbau der Produktivkraft-Technologien nur Teil des Problems wäre, nicht aber Teil der Lösung (Christian Dries, 2023). Noch nie wurden kapitalistische Produktionsmittel von sozialistischen Regierungen in Kollektivbesitz genommen, um die Produktion zurückzufahren und den dafür notwendigen Exktraktivismus zu stoppen. Sylvia Winter hat im Rekurs auf marxistische Revolutionen klar gestellt, dass der eine, alle einigende Befreiungsschlag nicht mehr zu erhoffen ist:

„As many of us were to do for many years, including Marxist feminists, we would attempt to theoretically fit all our existentially experienced issues – in my case, that to which we give the name of race – onto the Procrustean bed of Marx’ mode of economic production paradigm (.)… The idea was that once this was done (an exploitation system transformed into a new socialist mode of production) everything else would follow – including our collective human emancipation from what is, for Marxism, merely our present law-likely generated superstructural relations of production! (…) This change was to automatically follow! It didn’t, of course.“ (Wynter, 2015)

Wie könnte folglich ein „verwilderter Marxismus“ (Amir) aussehen, der die Menschlichen und Mehr-als-Menschlichen als Teil der ökologischen Klasse gleichermaßen aktiviert? Wie könnte ein dekolonial motiviertes Verlernen westlich-moderner Epistemologien Diplomat*innen einer ökologischen Klasse damit betreuen, das eigene Wissen permanent zu hinterfragen, damit sich „problematische Dichotomien“ nicht wiederholen: „subject / object, observer / observed, nature / culture, male / female, materiality / discourse, matter / meaning, ontology / epistemology“ (Karen Barad, 2015).

Epistemologische Gerechtigkeit

Der Natur Rechtssubjektivität zu verleihen und Ökosystemen vor Gericht eine Stimme zuzuerkennen, würde bedeuten, dass Natur nicht mehr objektiviert und dem Schutz des Staates oder dem paternalistischen Greenwashing von Unternehmen überlassen würde. So könnten künftig auch hierzulande Wälder, Moore, Meere, Pilzsysteme, Ökosysteme usw. klagen – wie dies gegenwärtig besonders in Ecuador und Kolumbien Normalität geworden ist. In Kerstens Entwurf gibt es aber auch noch weitere Hebel: Ein veränderter Eigentumstitel etwa, der den Eigentumsinhalt neu bestimmt und die Kohle unter Lüzerath und dem Hambaches Forst ferner nicht mehr dem Eigentum von RWE zurechnen würde.

Der Diskurs um die Rechte der Natur am Beispiel Ecuador zeigt auch, was passiert, wenn der moderne, europäische Verfassungsstaat auf vormoderne, indigene Kosmologien trifft. Denn es geht auch um epistemologische Gerechtigkeit. Jeder Prozess beinhaltet die Möglichkeit der erneuten Aushandlung von anthropozentrischen und ökozentrischen Interessen und damit auch von westlichen und indigenen Wissenssystemen. Diese „Rechtshybridität“ erhält nun immer mehr Einzug auch in die innereuropäische Diskussion um die Rechte der Natur (Andreas Gutmann, 2021). Und „juristische Waffengleichheit“ bedeutet auch nicht, dass die Natur immer gewinnen wird. Denn, darauf hat bereits Walter Rodney in den 1970er Jahren hingewiesen, ganze Länder drohten um des Naturschutzes willen in „Tierschutz-Republiken“ umgewandelt zu werden: „Es wurden alle Anstrengungen unternommen, um Touristen anzulocken, die sich Tiere ansehen wollten, die einen höheren Stellenwert als die Menschen hatten“ (Rodney, 1972).

Damals wie heute kann weißer Ökozentrismus auch bedeuten, Indigene von ihrem Land zu vertreiben und „Schutzgebiete“ für Biodiversität einzurichten, wobei den Investor*innen des globalen Nordens allzu oft in neokolonialer Manier vorbehalten bleibt, die Einhegungen zu gestalten und innerhalb der Schutzgebiete doch noch Konzessionen für den Rohstoffabbau zu erwerben (Aby Sène-Harper, 2023). Naturschutzpolitik geht dann häufig auch mit einem repressiven Strafrechtssystem einher und korrumpiert damit die Idee der Rechte der Natur, die mit der Souveränität indigener und lokaler Gemeinschaften einhergehen muss. Die Rechte der Natur brauchen folglich auch die Anbindung an rechtlich geschützte Commons, die ihre Regeln weder vom Staat, noch von der Privatwirtschaft erhalten.

Die Skripte der gegenwärtigen diplomatischen Schlachten kommen Palimpsesten gleich: Unter den abgekratzten Schichten der gegenwärtigen Rechtssprechung, die dringend überarbeitet werden muss, wirkt ein älteres und gleichzeitig mit mehr Zukunft versehenes Zeitmaß, das mit Anthropozän nur unzureichend beschrieben werden kann. Ältere Epistemologien kommen zum Vorschein und greifen in neue onto-epistemologische Versuche, die westliche Moderne mit ihren Glaubenssätzen abzulösen (Denise Ferreira da Silva, 2022). Latours Frage „Warum versuchen wir nicht, eine freundlichere Kosmologie zu entwerfen und zwar durch unsere Praktiken?“ bleibt für die Entstehung einer pluralen ökologischen Klasse die entscheidende.

Anm.d.Red.: Der Autor dieses Beitrags führte im im Rahmen des BG-Schwerpunkts „After Extractivism“ ein Gespräch mit Fabian Flues.

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