Eine Minderheitsregierung
Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 2. November 2017
Mehr Mut zur Minderheitsregierung
von Rudolf Walther
Der Widerstandskämpfer und spätere italienische Staatspräsident Sandro Pertini erwiderte auf die obligate Frage nach dem Grund für die häufigen Regierungswechsel zwischen 1953 und 1985: „Wissen Sie, Italien ist das einzige europäische Land, das eigentlich keine Regierung braucht.“ Das war kein Bekenntnis zu einem rustikalen Anarchismus, sondern ein Rekurs auf die radikaldemokratische und sozialistische Tradition, für die Politik immer mehr und auch anderes war als nur Regieren. Franz Münteferings Ausspruch, „Opposition ist Mist“, gehört insofern gerade nicht in diese Tradition, sondern eher in die eines seichten Liberalismus, der sich seit den Zeiten des Kaiserreichs als Aktionär im lukrativen Regierungsbusiness versteht und verhält.
Von der SPD hätte man sich nach der krachenden Niederlage bei der Bundestagswahl das Selbstbewusstsein Pertinis und einen Rekurs auf die radikaldemokratische und sozialistische Tradition gewünscht – als Antwort auf die Zumutung, angesichts der Schwierigkeiten bei der parlamentarischen Mehrheitsfindung bleibe der Partei nur das Weiterregieren mit der CDU/CSU in der großen Koalition. Mit dem Hinweis auf „Stabilität“ und „Verantwortung“ wollen konservative und liberale Politiker sowie über den „Staatsnotstand“ phantasierende Journalisten die regierungsunwillige SPD zum Mitregieren zwangsverpflichten. Doch die mit guten Gründen regierungsunwilligen Sozialdemokraten sind weder „Deserteure“ noch „Verantwortungsverweigerer“. Sie nehmen sich die in der parlamentarischen Demokratie selbstverständliche Freiheit, den Willen und die Interessen derer, die sie gewählt haben, nach bestem Wissen und Gewissen mit der sozialdemokratischen Programmatik und den verbindlichen Wahlversprechen in größtmögliche Übereinstimmung zu bringen. Dazu bedarf es Zeit zum Nachdenken und Diskutieren, um sich auf die neue politische Lage einzustellen. „Weiter wie bisher“ ist daher keine Lösung für die angeschlagene Linke. In parlamentarischen Demokratien gibt es weder ein Recht noch eine Pflicht zu regieren. So wie jeder frei gewählte Abgeordnete – im Prinzip – nur seinen Wählern und seinem Gewissen gegenüber verantwortlich ist, so sind Parteien beziehungsweise Fraktionen frei, sich an Regierungen zu beteiligen oder als Opposition die Regierung zu kontrollieren.
Soweit die Theorie. In der Praxis werden Abgeordnete im Namen von Partei- oder Fraktionsdisziplin dazu genötigt, Regierungsverantwortung zu übernehmen bzw. mitzutragen. Dass die große Koalition oder die anvisierte Jamaika-Koalition „alternativlos“ seien, beruht allerdings auf dem systemisch erzeugten Selbstzwang, wonach Regieren nur mit stabiler Mehrheit möglich sei. „Alternativlos“ ist der vermeintliche Zwang zum Regieren mit stabilen Mehrheiten deshalb nicht, weil Minderheitsregierungen, die sich ihre parlamentarische Mehrheit von Vorhaben zu Vorhaben zusammensuchen, durchaus möglich und verfassungsmäßig sind.
Politische Stabilität und Verantwortung allein daran zu messen, ob eine Regierung über eine dauerhafte Mehrheit im Parlament verfügt, ist dagegen genauso ein Aberglaube wie die „schwarze Null“ im Staatshaushalt. Das Gegenteil ist richtig: Minderheitsregierungen führen keineswegs, wie so oft behauptet, zum Chaos, schon weil sie nur solche Vorlagen ins Parlament einbringen werden, von denen sie annehmen, dass es im Prinzip möglich ist, dafür eine Mehrheit zu gewinnen. Das böte im Übrigen auch den Kollateralgewinn, dass Gesetzesvorlagen, die nur die bornierten Interessen einer Klientel bedienen (wie etwa das Burka-Verbot oder die Abschaffung von Vermögenssteuern), unter einer Minderheitsregierung gar nicht ins Parlament kämen. Abgeordnete und Fraktionen müssen sich im Gegenzug bei jeder Vorlage entscheiden, ob diese ihrer politischen Programmatik und ihrer Interessenlage nahe genug kommen, um ihr zuzustimmen oder ob sie die Vorlage scheitern lassen und damit unter Umständen Neuwahlen riskieren.
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Deutsch: Weimarer Republik, Möglichkeiten zu regieren, Möglichkeiten Gesetze zu verabschieden
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Author | Stefan B. Link |
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