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Eine Mauer ist eine Mauer

Erstellt von Redaktion am Dienstag 27. Juni 2017

Utopisch bis zynisch: Architekten und Künstler entwerfen Grenzanlagen zwischen Mexiko und den USA

Muro di Berlino 01.JPG

von Jeremy Harding

Präsident Barack Obama hat während seiner Amtszeit mehr illegale Einwanderer deportieren lassen als alle seine Vorgänger. Das wird jedenfalls behauptet. Ende 2014, also nach der Hälfte von Obamas zweiter Amtszeit, war die Zahl auf 2 Millionen gestiegen. Deshalb hat Janet Murguia, die Vorsitzende des National Council of La Raza,1 Obama den Titel „deporter-in-chief“ verliehen. Aber die neuesten Zahlen, die das US-Heimatschutzministerium Ende 2016 – kurz vor dem Amtsantritt von Donald Trump – veröffentlicht hat, ergeben ein etwas anderes Bild.

Was genau ist unter Deportation zu verstehen? Diese juristisch vage Sammelbezeichnung wurde seit den 1990er Jahren nach und nach durch zwei konkretere Begriffe ersetzt: Abschiebung (removal) und Rückführung (return). Abgeschoben werden kann jeder illegale Einwanderer, der in den USA angetroffen wird; aber auch Mi­gran­ten mit Aufenthaltsberechtigung können abgeschoben werden, wenn sie ein schweres Verbrechen begangen haben. Juristisch handelt es sich um ein Abschiebeverfahren, das mit einer Zwangsausweisung endet. Abgeschobene Personen dürfen eine bestimmte – von Fall zu Fall unterschiedlich lange – Zeit nicht mehr in die USA einreisen. Werden sie vor deren Ablauf erneut in den USA aufgegriffen, droht ihnen eine Gefängnisstrafe und eine Verlängerung des Einreiseverbots. Eine Abschiebung ist also eine schwere Sanktion.

Dagegen setzt eine Rückführung – auch als freiwillige Ausreise oder freiwillige Rückkehr bezeichnet – keinen formellen Abschiebebeschluss voraus. Auch ist den Menschen, die in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden, die legale Rückkehr in die USA nicht verwehrt. In den meisten Fällen handelt es sich um Ausländer, die illegal ins Land zu kommen versuchen und dabei an oder in der Nähe der Grenze gefasst werden. Sie bleiben kurze Zeit in Haft und werden dann zurückgeschickt. Von den Menschen, die über die Grenze kommen, wird nur ein Bruchteil zurückgeführt, zumeist ältere Leute, Kranke oder auch Kinder; die große Mehrheit der Grenzgänger wird hingegen abgeschoben.2

Dass die Behandlung der illegalen Migranten in der Obama-Ära rabiater zu sein schien als unter früheren Regierungen, liegt auch daran, dass sich die dabei angeführten Zahlen meist auf das schärfere Verfahren der Abschiebung bezogen. Nachdem inzwischen alle Statistiken veröffentlicht sind, steht außer Zweifel, dass unter Obama mehr Menschen abgeschoben wurden als unter seinem Vorgänger, und zwar 3 Millionen, gegenüber 2 Millionen unter George W. Bush.

Anders sieht es bei den Rückführungen aus: Unter Bush waren es 8 Millionen, also weit mehr als die 2,1 Millionen in der Amtszeit Obamas. Wenn wir die Abschiebungen und die Rückführungen während der jeweils zwei Amtsperioden zusammenzählen, kommen wir auf insgesamt 10,3 Millionen „Deportationen“ unter Bush und lediglich 5,3 Millionen unter Obama.3

Die widersprüchlichen Zahlen sind weniger rätselhaft, als sie aussehen. Die erste Obama-Regierung strebte zwar eine Einwanderungsreform an, agierte aber vorsichtiger als die Bush-Regierung. Deshalb verwies sie auf die hohe Zahl von Abschiebungen, um die Kritiker zum Schweigen zu bringen, die Obama einen „zu weichen“ Umgang mit illegaler Einwanderung vorwarfen.

Im Übrigen hatte zu Beginn von Obamas erster Amtszeit im Jahr 2009 die bereits seit 2007 anhaltende Rezession dafür gesorgt, dass die Zahl der an der mexikanischen Grenze aufgegriffenen Menschen zurückging. Da jedoch viele von ihnen aus anderen lateinamerikanischen Ländern stammten, konnten sie nicht – wie mexikanische Staatsbürger – als freiwillige Rückkehrer regis­triert und behandelt werden, was die Statistik der Abschiebungen ansteigen ließ.

Ein letzter Faktor: Obama nahm, wie schon sein Vorgänger Bush, verstärkt spezielle Gruppen illegaler Migranten ins Visier: zum einen gewalttätige Personen oder Straftäter, zum anderen Leute, die entweder kurz zuvor oder bereits zum zweiten Mal illegal über die Grenze gekommen waren. Auch deshalb gab es unter Obama mit der Zeit deutlich mehr Abschiebungen als Rückführungen.

Glühender Boden als Hindernis

Regierungen nutzen solche statistischen Feinheiten, um ihre Grenzpolitik im Sinne ihrer politischen Ziele zu verkaufen. So gab die Obama-Regierung seit Anfang 2014, als sich Hillary Clintons Präsidentschaftskandidatur abzeichnete, nicht mehr die reinen Abschiebungszahlen bekannt, sondern nur noch die Gesamtzahl von Abschiebungen plus Rückführungen. Zweck der Übung war, die Politik Obamas gegenüber der von Bush als milder darzustellen – in der Hoffnung, bei der Wahl die Stimmen der Latinos zu gewinnen. Aber die Migrationsgegner haben diese Taktik rasch durchschaut und gegen Obama gewendet. Ihr Argument: Der Präsident habe die Kategorie Abschiebungen in früheren Statistiken überbetont, um fälschlicherweise den Eindruck zu vermitteln, er verteidige die territoriale Inte­gri­tät der USA mit großer Entschlossenheit.

Grenzen als solche stehen erst einmal fest. Doch was sie bedeuten, unterliegt einem ständigen Wandel – je nachdem, wie Regierungen ihre Einwanderungs- und Sicherheitspolitik austarieren und wie sehr die Bürger ihre Ängste auf die Randgebiete ihrer Staaten projizieren. Das gilt auch für die Grenze zwischen den USA und Mexiko.

Grenzgebiete sind Räume, die für Geografen, Demografen, Soziologen und Politologen eine besondere intellektuelle Herausforderung darstellen. Mit recht unterschiedlichen Resultaten: 1991 veröffentlichte der britische Grenzgeograf Julian Minghi – unter dem Eindruck des Berliner Mauerfalls – einen berühmt gewordenen Aufsatz. Darin proklamierte er eine neue Ära, die „normale und harmonische Kontexte“ bringen werde, als Bausteine einer „humanen Geografie“ der Zukunft.4

Seitdem sind bei dem Versuch, eine Grenze zu überqueren, mindestens 35 000 Menschen umgekommen, schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM). Die meisten starben an den Außengrenzen der EU, aber mehr als 6000 auch an der Grenze zwischen Mexiko und den USA.5 Diese wahrscheinlich ohnehin viel zu niedrig angesetzten Zahlen steigen weiter an, während gleichzeitig die Staaten für die Bewachung der Grenzen immer mehr Personal und öffentliche Gelder bewilligen.

In den 1970er Jahren war die Zahl der US-Grenzschützer entlang des Rio Grande mit 1350 Leuten nach Ansicht des britischen Geografen John House „lächerlich gering“.6 Heute beschäftigt die US-Grenzschutzbehörde 21 000 Beamte, von denen die meisten an der Grenze oder in ihrer Nähe patrouillieren. House war im Gegensatz zu Minghi Realist. In seinen Augen war die Grenze zwischen den USA und Mexiko „ein eindeutiges, aber variables Hindernis für einen andernfalls vereinten binationalen Arbeitsmarkt“. Und das ist sie bis heute.

Im Februar 2017 hat das US-Heimatschutzministerium einen Architektenwettbewerb ausgeschrieben, bei dem es um „den Entwurf und Bau von mehreren Prototypen für Mauerelemente in der Nähe der US-Grenze zu Mexiko“ geht. Donald Trumps ehrgeiziger Plan, den größten Teil der 3200 Kilometer langen Grenze mit einer Mauer zu befestigen (auf 1100 Kilometern gibt es bereits Grenzanlagen), ist höchst verlockend, solche Aufträge werden schließlich viel Geld einbringen. Allerdings stellt die Aufgabe, Hindernisse zu entwerfen, die Menschen aufhalten sollen, für Architekten ein ethisches Problem dar.

Bereits 2006 hat der US-Kongress den sogenannten Secure Fence Act verabschiedet. Mit diesem Gesetz wurde der Ausbau des Zauns an der Grenze zu Mexiko beschlossen, den schon die Clinton-Regierung in den 1990er Jahren begonnen hatte. Von dem Zeitgeist, der 2006 in Washington herrschte, ließ sich auch die New York Times inspirieren. Sie forderte ausgewählte Architekten auf, das vom Kongress beschlossene Bauwerk als gutnachbarlichen Gartenzaun zu entwerfen, dem seine abweisende Funktion der Abschottung nicht anzusehen sein sollte. Die Zeitung stellte sich einen Zaun vor, der „nicht als Hindernis, sondern als Horizont der Möglichkeiten“ konzipiert sein sollte.7

Dieser merkwürdige Designwettbewerb erinnert an das legendäre Experiment des Yale-Psychologen Stanley Milgram aus den 1960er Jahren: Es testete die Bereitschaft von Menschen, auf die Anweisungen einer anerkannten Autorität hin andere Menschen mit Stromstößen zu foltern. Wie weit würden die 13 eingeladenen Architekten gehen, um die Idee vom Bau einer Barriere zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden für ihre Karriere zu nutzen?

Fünf von ihnen reichten Entwürfe ein, zu denen etwa der raffinierte „Glaswald“ des kalifornischen Architekten Eric Owen Moss gehörte. Die makaberste Idee kam von Antoine Predock. Der Architekt aus New Mexico schlug ganz im Geiste des in den letzten Zügen liegenden Postmodernismus vor, die Mauer zu „entmaterialisieren“: Sein Befestigungswall sollte aus gestampfter Erde bestehen und von mexikanischen Tagelöhnern gebaut werden. Entlang des Walls wollte er eine Art Heizplatte installieren, deren flirrende Luftspiegelungen den optischen Eindruck erzeugen, als schwebe der Erdwall über dem Boden. Allerdings würde die 100 Meter breite Heizplatte zugleich der Abschreckung dienen, weil sich die Migranten beim unerlaubten Grenzübertritt die Füße verbrennen würden.

Predock hätte mit diesem Entwurf wahrlich den „Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft“ verdient, den Adolf Hitler 1937 als Alternative zum Nobelpreis gestiftet hatte. Einer der Preisträger war 1938 Fritz Todt, der Auto­bahnbauer. Todt hatte auch die Oberaufsicht über den Bau des Westwalls, der damals auf einer Länge von 650 Kilometern an der Westgrenze des Deutschen Reichs errichtet wurde.

Vor Kurzem hat Ronald Rael, Architekturprofessor an der University of California (UCLA), in einem Manifest über die Grenze zwischen den USA und Mexiko eine gute Frage formuliert: „Machen sich Architekten, die sich einem Mauerwettbewerb verweigern, weniger zu Komplizen als solche, die sich beteiligen?“ Was er anscheinend sagen will, ist, dass es nicht hilft, sich aus Gründen der Ethik herauszuhalten. Mit der Verweigerung sorge man lediglich dafür, dass am Ende Leute wie Antoine Predock solche Anlagen in die Finger bekommen. Rael wäre es natürlich lieber, wenn es die Grenze nicht gäbe, aber er ist nicht bereit, sich Illusionen hinzugeben und so zu tun, als existiere sie nicht. Gleichwohl glaubt er, dass schräge, fantastische Konzepte den erklärten Zweck der Grenze unterlaufen könnten.

Zahlreiche akademische Lehrer, Grenzaktivisten und Künstler haben begonnen, absurde, pseudoutopische Pläne für bessere Grenzanlagen zu entwickeln, die deren dystopischen Charakter kenntlich machen. Einige dieser Ideen sind von bitterer Ironie gekennzeichnet, zum Beispiel der Vorschlag, oben auf der Mauer eine Reihe Kinderwippen anzubringen, sodass Kinder beidseits der Grenze miteinander auf und nieder schaukeln können.

Quelle  : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle   :   Berlin wall

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