DEMOKRATISCH – LINKS

                      KRITISCHE INTERNET-ZEITUNG

RENTENANGST

Ein Vorschlag zum Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 21. Februar 2023

Ukraine: Versöhnung nach dem Beispiel der griechischen Tragödie

undefined

Das Dionysostheater

Quelle      :        INFOsperber CH.

Nicolai Petro /   

Das Mitgefühl muss die Wut ersetzen. Eine Versöhnungskommission könnte wie anderswo die verfeindeten Gruppen befrieden.

upg. Kaum ein Nicht-Ukrainer kennt die Ukraine so gut wie Nicolai Petro, Professor an der US-University Rhode Island. Er kennt Russland und die Ukraine auch aus eigener Anschauung. Sein neustes Buch heisst «The Tragedy of Ukraine»*. Im Folgenden ein Essay, das er auf Englisch für De Gruyter verfasste.

Im klassischen Athen hatte die «Tragödie» eine therapeutische und heilende Funktion. Sie ermöglichte es den Athenern, sich mit ihren tiefsten Ängsten und ihrem Hass auseinanderzusetzen und durch einen Prozess der Katharsis, der Sinnesänderung, zu überwinden. Eine Versöhnungskommission könnte die Funktion der antiken Tragödie übernehmen und die Entwicklung in der Ukraine beeinflussen.

Die Aufführung von Tragödien wurde im fünften Jahrhundert v. Chr. zu einem wesentlichen Bestandteil des athenischen öffentlichen Diskurses. Dank dieser Institution konnten sich die Bürgern mit den politischen und sozialen Krisen der Zeit auseinandersetzen. Tragödien bildeten das schlagende Herz der athenischen Demokratie, wo das öffentlich zur Schau gestellt wurde. Die Rückbesinnung auf die staatsbürgerliche Funktion der Tragödie könnte auch heute ein wertvolles Instrument sein, um soziale und politische Spaltungen zu überwinden.

Der britische Kulturtheoretiker Raymond Williams definierte die Tragödie ähnlich wie die antiken Athener. Die Tragödie soll sich sich auf die politischen und sozialen Folgen von tragischen Handlungen konzentrieren. Nach Williams «liegt die Tragödie nicht im individuellen Schicksal…, sondern im allgemeinen Zustand eines Volkes, das sich selbst reduziert oder zerstört, weil es sich seines wahren Zustands nicht bewusst ist».

Beim «Zustand» geht es um unser gemeinsames Versagen als Menschen. Der Politikwissenschaftler Hans J. Morgenthau bezeichnete das Versagen als «Schwäche der menschlichen Vernunft, getragen von den Wellen der Leidenschaft. Diese Schwäche betrifft alle Menschen, Griechen und Perser, Amerikaner und Russen.» Wir sind allzu oft besessen von Gerechtigkeit, die oft mit Rache verwechselt wird. Der verständliche Wunsch nach Vergeltung macht uns blind für das Mitgefühl, das notwendig ist, um die Gesellschaft zu verbinden und ihre Wunden zu heilen.

Im Fall der Ukraine hat eine jahrzehntelange nationalistische Politik die Ost- und Westukrainer in Fragen der Sprache, der Religion und der kulturellen Zugehörigkeit gespalten und dabei die Bande der bürgerlichen Identität zerstört. Die destruktiven Erzählungen der beiden Seiten über die jeweils Andere heizte eine tragische Spirale an. Das förderte Konflikte im Namen der Gerechtigkeit.

Indem beide Seiten darauf beharrten, dass vor jedem Gespräch die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit korrigiert werden müssten, trugen beide Seiten unwissentlich dazu bei, dass ihre gegenseitige Tragödie fortbesteht.

Für die alten Griechen kommt es zu einer Tragödie, wenn der Einzelne nicht erkennen kann, wie sehr sein eigenes Handeln zur gegenwärtigen Lage beitrug. Sie sahen die Lösung darin, den Zusammenhang zwischen Handeln und Katastrophe ins Zentrum zu stellen und die Hybris zu entlarven, die Menschen (und Nationen) daran hindert, die wahre Bedeutung von Gerechtigkeit – nämlich Barmherzigkeit – zu begreifen.

Sie versuchten, dies erlebbar zu machen, indem sie auf der Bühne die Schrecken nachstellten, die aus dem unnachgiebigen Streben nach Rache resultieren. Die griechischen Dramatiker hofften so, das Publikum zur Katharsis zu führen, einer Reinigung von Emotionen, die so stark ist, dass sie Raum für Gefühle wie Mitleid und Mitgefühl schafft und anstelle der Wut treten.

Aristoteles glaubte, dass die Katharsis die Gesellschaft von der endlosen Wiederholung eines tragischen Drehbuchs befreien kann, indem sie den Zuschauern vor Augen führt, wie ihr fehlendes Mitgefühl sie ins Verderben führte.

Bei den öffentlichen Aufführungen an den jährlichen Bürgerfesten, den Dionysien, sollten die Tragödien den Bürgern die verheerenden Folgen von Entscheidungen der Politik vor Augen führen.

undefined

Historische Rekonstruktion des Dionysostheaters in römischer Zeit

Man kann sich die klassische griechische Tragödie als eine Reihe von Dialogen vorstellen, welche die Bürger mit ihren eigenen tragischen Fehlern konfrontierten. Erst wenn die Bürger zu begreifen beginnen, wie ihre eigenen Handlungen den Hass der anderen schüren, können sie einen anderen Weg einschlagen.

Versöhnungskommissionen als moderne Form von Tragödien

Die athenische Polis war klein genug war, um fast jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft in diese bürgerlichen Rituale einzubeziehen. In der modernen Gesellschaft scheint es keinen Mechanismus zu geben, der dieselbe Funktion erfüllen kann. Doch ein vergleichbares Verfahren gibt es seit mehr als vierzig Jahren und wurde in über 50 Ländern eingeführt: Wahrheits- und Versöhnungskommissionen.

Wie die Dionysien der Antike versuchen solche Kommissionen, tiefe soziale Traumata zu heilen und soziale Versöhnung herbeizuführen. In meinem Buch* untersuche ich, wie solche Kommissionen Südafrika, Guatemala und Spanien veränderten. Jedes dieser Beispiele hat der ukrainischen Gesellschaft etwas zu bieten.

  • In Südafrika spielten die anglikanische Kirche und insbesondere Erzbischof Desmond Tutu eine Schlüsselrolle, damit es statt zu gewaltsamer Vergeltung zu Vergebung und Heilung kam.
  • In Guatemala trug die Kommission (vor Ort als Historische Aufklärungskommission bekannt) dazu bei, trotz des Widerwillens der Militärregierung eine nationale Diskussion über die umstrittene Völkermordgeschichte des Landes zu fördern.
  • In Spanien vereinbarte ein Pakt zwischen den politischen Parteien des Landes, die Vergangenheit buchstäblich zu vergessen (Pacto de Olvido). Das gab neuen demokratischen Institutionen Zeit, sich zu entwickeln. Diese brachten schliesslich eine Zivilgesellschaft hervor, die in der Lage ist, die Vergangenheit in einem neuen und konstruktiven sozialen Kontext aufzuarbeiten.

In vielen Ländern waren Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in der Lage, als Therapie ergreifende emotionale Zeugnisse aller Seiten zusammenzutragen, öffentlich zu präsentieren und die Öffentlichkeit so zu einer Katharsis zu führen – einer Läuterung des gegenseitigen Hasses, die eine Heilung der Gesellschaft ermöglicht. Dem einst feindlichen Anderen wurde seine Menschlichkeit zurückgegeben.

Die Ukraine ist durch jahrzehntelange interne Zwietracht zerrissen. Durch Interventionen von aussen wurde diese Zwietracht noch verschlimmert. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, die den Ängsten und dem Leid aller Seiten eine Stimme gibt, und die darauf abzielt, ein von allen geteiltesbürgerliches Konzept der ukrainischen Identität zu schmieden, das niemanden ausschliesst, könnte einen wertvollen Beitrag zu einem dauerhaften Frieden leisten.

____________________

Übersetzung: Infosperber

FREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —    Das Dionysostheater

Kommentar schreiben

XHTML: Sie können diese Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>