Ein sozialliberales Projekt
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 9. November 2021
Ein Vorschlag aus aktuellem Anlass
Von Yannick Haan
Die ungleiche Verteilung von Erbschaften ist unsozial, schadet aber auch der Idee der Leistungsgerechtigkeit.
Ja, ich habe geerbt. Keine Milliarden oder Millionen, aber ausreichend, um mir eine Wohnung kaufen zu können. Auch mit meinem „kleineren“ Erbe spüre ich im Leben bereits einen großen Unterschied. Ein Erbe gibt finanzielle Sicherheit. Es spannt ein Sicherheitsnetz. Für meine Generation jedoch, die Generation Y, ist es schwierig, abseits eines Erbes Vermögen aufzubauen. Gefangen zwischen steigenden Mieten, befristeten Verträgen und Familiengründungen bleiben die allermeisten jungen Menschen finanziell stecken. Dabei werden die Vermögen bei wenigen immer größer. Nur sind diese meist leistungslos geerbt.
Dieses Missverhältnis nimmt mittlerweile groteske Züge an. In den zurückliegenden zehn Jahren ist die Höhe der durchschnittlichen Erbschaft von 72.000 auf 85.000 Euro gestiegen. Parallel dazu hat sich aber auch die Ungleichheit unter den Erben erhöht. 10 Prozent der Erben erhalten die Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen. Die anderen 90 Prozent teilen sich die restliche Hälfte. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt die Höhe der jährlichen Schenkungen und Erbschaften auf atemberaubende 400 Milliarden Euro.
Diese Zahlen zeigen, dass wir mittlerweile eine gesellschaftliche Schieflage erreicht haben, in der wir in das System Erbschaft eingreifen müssen. Wir haben uns von der sozialen Marktwirtschaft, von der Leistungsgesellschaft und vom Aufstiegsversprechen zugleich verabschiedet. Es gibt keinen Grund, an diesem System noch länger festzuhalten – und es ist unerklärlich, warum wir nicht bereits längst eingegriffen haben. In den derzeitigen Koalitionsverhandlungen spielt das Thema offenbar keine Rolle. Mit dem FDP-Mantra, Steuererhöhungen auszuschließen, ist das Thema anscheinend abgeschlossen.
Dabei ist dieses Mantra eine intellektuelle Weigerung, nachzudenken. Das Erben in seiner jetzigen Form entfernt unsere Gesellschaft immer weiter vom liberalen Grundgedanken. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der die Abstammung über die Zukunft entscheidet. Dabei ist Deutschland bereits heute eines der ungleichsten Länder Europas, in keinem anderen Land ist die Vermögensungleichheit so festbetoniert wie bei uns. Das Vererben scheint mit dem in der Verfassung festgeschriebenen Prinzip des Sozialstaats kaum noch vereinbar, vielmehr scheint es die Entwicklung zu einer Feudalgesellschaft zu fördern, die sich an das Gestrige klammert – und trotzdem wird beharrlich daran festgehalten.
Diese Entwicklung sollte eines der zentralen Themen bei den Koalitionsverhandlungen sein. Beim Thema Erben trifft die soziale auf die liberale Idee: Erben ist ein Prinzip, das dem Grundgedanken der SPD – soziale Gerechtigkeit –, aber auch der FDP – individuelle Leistung soll sich lohnen – widerspricht. Kaum ein anderes Thema eignet sich so gut, um ökonomisch den großen sozialliberalen Wurf zu versuchen. Die FDP müsste sich nur von ihrem hartnäckigen Steuermantra verabschieden.
So könnten die Parteien ein Gesellschaftserbe einführen. Junge Menschen im Alter von 21 Jahren bekommen 20.000 Euro vom Staat vererbt. Dieses Geld dürfen diese für Ausgaben in Ausbildung, Wohneigentum oder die Gründung eines Unternehmens verwenden. Zur Finanzierung der Maßnahme wird die Steuer auf große Erbschaften und Schenkungen erhöht. Mit diesem Schritt eröffnen sich für viele junge Leute neue Chancen. Sie erhalten in einer für sie entscheidenden Phase des Lebens finanzielle Möglichkeiten: Sie bekommen die Möglichkeit, Praktika zu absolvieren, eine Ausbildung oder ein Studium zu starten oder das Geld einfach zu investieren. Das Gesellschaftserbe würde das Leben vieler junger Menschen entscheidend verändern.
Mein eigenes Beispiel zeigt das: In der Schule war ich ein schwacher Schüler. Mein Interesse an den meisten Schulfächern war nur bedingt ausgeprägt. Ich war zwar physisch anwesend, aber geistig woanders. Dementsprechend fiel auch mein Notendurchschnitt aus. Am Ende haben sich meine Eltern jeden Tag hingesetzt und mit mir gelernt. Ich habe zusätzlich dazu Nachhilfeunterricht erhalten. Das Abitur habe ich mit einer immerhin mittelmäßigen Note geschafft. Ohne die familiäre Hilfe hätte mein schulischer Weg sicherlich anders ausgesehen. Mir wurden Auslandspraktika ermöglicht und auch mal Phasen, in denen man „nachdenkt“. Diese Möglichkeiten bekommen junge Leute nur mit einem gewissen finanziellen Puffer. Dieser ist oftmals entscheidend für die Zukunft. Das Gesellschaftserbe würde allen diesen Puffer geben. Das Innovative an der Idee ist, dass sie Vertrauen in Menschen hat.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
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