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Ein Lob der Langsamkeit

Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 16. Dezember 2021

Tempo spart keine Fahrzeit

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer

Wer sich langsam in einer Kutsche bewegt – wird länger gesehen !!

Von Roland Stimpel

Warum wir mit Tempo 25 in der Stadt eher am Ziel sind – und sicherer, klimafreundlicher, entspannter und gesünder sowieso.

Entschleunigung klingt hübsch, aber romantisch-gestrig. Man genießt sie im Urlaub in gemütlichen Örtchen mit dem „Cittàslow“-Siegel. Aber im Alltag müssen wir immer schnellstmöglich irgendwohin. Langsamer würden wir unser Pensum gar nicht schaffen, glauben wir.

Aber das täuscht gewaltig: Tempo spart erstens keine Fahrzeit und bringt uns zweitens nicht an mehr Ziele. Das zeigt eine alle paar Jahre wiederholte Langzeitstudie mit wechselndem Titel; derzeit heißt sie „Mobilität in Deutschland“.

Zwar ist seit den 1970er Jahren unser Durchschnittstempo auf der Straße, dem Gleis und in der Luft um 43 Prozent gestiegen, aber die täglich zurückgelegten Kilometer haben sogar um 68 Prozent zugenommen. Also sind wir länger unterwegs, und das trotz der höheren Geschwindigkeit. Wir machen mehr Wege per Auto und nicht zu Fuß, mit der S-Bahn statt dem Bus, im Billigflieger statt im Nachtzug, aber wir kommen immer später an.

Gestiegen ist der Aufwand an Zeit, Geld, Energie und Nerven, sind Flächenfraß und Treibhausgas – aber nicht gestiegen ist verrückterweise der Ertrag. Laut der ersten Studie von 1976 erreichten die Menschen im Schnitt 3,1 Ziele pro Tag. Und nach der Explosion von Tempo und Kilometern waren es 2017 – seufz – genauso viele. Mit mehr Tempo kommen wir nicht öfter irgendwo an, sondern fahren wir bloß weiter weg.

Den Aufwand gigantisch erhöht, den Ertrag nicht im Geringsten gesteigert. Deutschlands Verkehrsminister mit ihren Multi-Milliarden-Etats sind nicht erst seit Andreas Scheuer (CSU) die miserabelsten Manager im Land.

Aber natürlich liegt es nicht nur an ihnen. Fast alle haben wir die fatale Neigung, mehr Tempo nicht in kürzere Fahrzeit umzumünzen, sondern in längere Wege. Von der Stadtwohnung ins Eigenheim im Grünen – auch weil die Straße vor der Wohnung so laut geworden ist. Als Berliner mit einem Job bei VW zweimal täglich 180 ICE-Kilometer, damit man nicht in Wolfsburg wohnen muss. Der VW-Konzern wirbt dafür auf einer eigenen Website „Pendeln zum Arbeitsplatz“.

Man könnte ja sagen: Tempo ist halb so schlimm, wenn nur die Verkehrsmittel stimmen. Aber jährlich zwei Erdumrundungen per VW-ICE haben mit Klimaschutz auch nichts mehr zu tun. Und es gibt tückische Rückwirkungen: Wird eine Stadtbahn unter die Straße verlegt und dabei beschleunigt, füllen oben zusätzliche Autos den gewonnenen Raum gleich wieder.

Und da die Leute vom Stadtrand jetzt unten fahren, gibt es oben mehr Raum für Autofahrer vom Dorf, die Trips in die Stadt machen. Alle sind schneller – und auf der Straße fahren sie längere Strecken.

Selbst gut gemeinte Radwege können zusätzlichen Autoverkehr provozieren. In den viel gelobten Niederlanden wurden sie konsequent abseits der Fahrbahnen gebaut; auch Mopeds mussten hier fahren. Die breiten Straßen wurden Zweirad-frei, das Autofahren damit attraktiver. Seit den 1990er Jahren stieg in den Niederlanden die Zahl der jährlichen Autokilometer dreißigmal mehr als die Zahl der Radkilometer – ein ökologisches Desaster.

Doch Deutschland lernt nicht daraus: Berlins Radplaner bei der Senatsfirma Infravelo propagieren breite Schnellpisten im Grünen und durch Parks, auf Kosten von Natur und Erholung – aber zur „Entlastung des Straßenverkehrs für die Kraftfahrzeug-Fahrenden“.

Tempo bringt uns nicht an mehr Orte, ist klimaschädlich, raumfressend, gefährlich und wegen seiner Kosten unsozial. Es kann und muss runter. Aber auf welches Niveau? Die Frage drängt vor allem in den Städten, wo Verkehr besonders dicht und bunt ist. Gesucht wird die optimale Geschwindigkeit auf Straßen fürs Gehen, Rad- und Autofahren.

Dieses bestmögliche Tempo soll uns mit wenig Zeitaufwand, sicher, angenehm und für die übrige Welt schonend ans Ziel bringen. Dazu soll es den Verkehr möglichst effizient, gleichmäßig und hemmungsfrei laufen lassen.

Fangen wir mit der Sicherheit auf Fahrbahnen an, die zu Fuß überquert oder per Rad befahren werden. Dummy-Tests und Studien zeigen: Werden Menschen frontal von Fahrzeugen gerammt, dann wird es schon bei Tempo 30 lebensgefährlich; ein Zehntel der Angefahrenen stirbt. Die Kurve geht danach steil hoch: Bei Fahrzeugtempo 50 kommen viermal so viele Gerammte um, bei 70 sterben fast alle.

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Ein guter Kompromiss zwischen Sicherheit und Beweglichkeit liegt also irgendwo unter 30 Stundenkilometern. Zumal bei dieser niedrigen Geschwindigkeit der Bremsweg nur wenige Meter lang ist, also viele Unfälle gar nicht mehr passieren.

Wir brauchen die Verkehrswende – als Entschleunigung

Dies rettet und bewahrt viel Lebenszeit. Die vom Unfall Verschonten bleiben gesund und glücklich, ihre Liebsten werden nicht zu Hinterbliebenen, und auch all jene Menschen, die den Unfällen hinterherräumen müssten, sparen viel Zeit – in Krankenhäusern und Gerichten, bei Versicherungen und Bestattern, in Werkstätten und Reha-Zentren.

Autobahnen sind alles andere als leistungsstark

Effizienter ist eine niedrige Geschwindigkeit auch. Ein gängiges Vorurteil heißt: Unter 30 Stundenkilometern schleicht alles und staut sich, auf der Autobahn brausen gleichzeitig Tausende zum Ziel. Aber das täuscht – die Autobahnen sind alles andere als leistungsstark. Denn je schneller gefahren wird, desto mehr muss der Sicherheitsabstand wachsen. Die Autoschlange besteht zum größten Teil aus schlechter Luft und braucht nicht weniger, sondern mehr Straßenraum.

Bei welchem Tempo und angemessenem Abstand am meisten Fahrzeuge in einer Stunde durchkommen, lässt sich genau berechnen. Von 0 bis 22,5 Stundenkilometer können umso mehr Autos passieren, je schneller sie sind.

Doch danach ist es genau anders herum: Je schneller die FahrerInnen sein wollen, umso langsamer geht es voran. Denn je höher die Geschwindigkeit wird, desto größer muss der Sicherheitsabstand sein, um im Notfall bremsen zu können. Das Ergebnis ist paradox: Ab Tempo 22,5 wird mehr Sicherheitsabstand nötig, als schnelleres Durchfahren Raum frei macht.

Quelle       :       TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Besuch von Bundesinnenminister Horst Seehofer bei dem Ministerpräsidenten von Sachsen-AnhaltReiner Haseloff, am 29. November 2018 in MagdeburgStaatskanzlei des Landes.

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