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Ein Kolonialer – Alptraum

Erstellt von Redaktion am Sonntag 3. April 2022

„Aber da muss man ran, an Mord, an Genozid, da musst du ran“

Blick auf die Kaiser-Wilhelm-Brücke in Wilhelmshaven. Erbaut von 1905 bis 1907.

Aus Wilhelmshaven von Benno Schirrmeister

Die Stadt Wilhelmshaven ist ein Freilichtmuseum des deutschen Imperialismus. Sie zu dekolonialisieren ist eine fast unmögliche Aufgabe, doch es könnte gelingen – durch eine Umkehrung des Blicks.

Hart kommt das Auto zum Stehen. „Jetzt schau dir das an!“, sagt Wilma Nyari beim Aussteigen, die Luft schmeckt nach Salz, legt sich feucht auf die Haut, bedeckter Himmel über Wilhelmshaven. „Es ist so unfucking fassbar!“. Wilma Nyari zeigt aufs Obergeschoss des rechten der zwei leer stehenden Minendepots auf der Schleuseninsel: fünfstöckige Großbauten, weiß und symmetrisch, Gründerzeit, denen Türmchen mit Giebeldach an den jeweiligen Schmalseiten eine herrenhausartige Anmutung verleihen. „Ich sag doch, das hat hier Methode, in Wilhelmshaven“, und sie hat ja recht, so wie eben am alten Schlachthof steht da schon wieder ein Mansardenfenster sperrangelweit offen, in diesem Baudenkmal, sodass die korrosive Seeluft eindringen kann. Sie wird die Wände durchfeuchten, Risse werden sich auftun im alten Mauerwerk, vielleicht auch Schimmel wachsen lassen.

Es wirkt, als würde jemand darauf hoffen, dass Regen, Frost und Hitze die historische Substanz ruinieren. So wie es augenscheinlich schon an der Kammgarnspinnerei geklappt hat, 1910 als U-Boot und Torpedowerft errichtet, ab 1945 dann zivil genutzt, bis zur Pleite in den 1990ern. „Das ist so unfucking fassbar!“, sagt Wilma wieder, sie ärgert sich. „Un-fucking-fassbar!“

Unfucking fassbar, das hatte sie schon beim ersten Zwischenstopp der spontanen Stadtrundfahrt gesagt, sie mag diesen Ausdruck, der für sich genommen vielleicht nicht besonders sinnvoll ist, aber funktioniert. Noch ist etwas Zeit zum Termin. Die Sitzung des runden Tischs Dekolonialisierung beginnt erst um 15 Uhr, zum Glück.

Denn nur wer eine Idee davon hat, was dieses Wilhelmshaven eigentlich ist, bekommt eine Ahnung, was Dekolonialisierung hier bedeuten könnte: Sie muss alles infrage stellen. Und die Grundsätzlichkeit ihres Anliegens tritt nirgends in Deutschland deutlicher hervor als in der Kulisse dieser Stadt, die als ein Freilichtmuseum des Imperialismus durchgehen könnte: Wilhelmshaven und deutscher Imperialismus sind untrennbar miteinander verbunden. Die Stadt, einst nur für ihn erbaut, ist heute seine monumentale Allegorie.

Einzelne besonders grausame Kolonialverbrechen haben hier ihren Ausgangspunkt: So hatte das berüchtigte Kanonenboot „SMS Habicht“ hier seinen Heimathafen, seine Strafexpeditionen führten es nach Neu-Mecklenburg in Papua-Neuguinea, nach Kamerun und selbstverständlich auch in die Lüderitzbucht vor Deutsch-Südwest, wo die Marinetruppen am Völkermord an den Nama und Herero mitwirkten.

Datei:Bundesarchiv Bild 102-13211, Wilhelmshaven, Abgewrackte Kriegsschiffe.jpg

SMS HABICHT der Kaiserlichen Marine Kanonenboot Baujahr 1879 Typschiff der gleichnamigen Klasse Bis zur Außerdienststellung 1906 ununterbrochen im Auslandsdienst 1904 eingesetzt im Aufstand der Herero und Nama Verschrottet.

Greifbar wird an diesem Ort auch die von Globalhistorikern betonte Kontinuität zwischen Kolonialismus und NS-Verbrechen. So wird seit 1941 Kommodore Friedrich Bonte durch die Benennung des Kais am großen Hafen dafür geehrt, dass er und seine Zerstörerflotte am 9. April 1940 das neutrale Norwegen und Dänemark überfielen. Von hier aus.

Ein Verbrechen, auch wenn er dafür nicht verurteilt wurde, weil er dabei starb. Heute ist es eine sehr schicke Wohnadresse, und den Anliegern will keiner zumuten, ihren Briefkopf zu ändern.

Andere deutsche Küstenstädte haben eine ältere Kolonialismus-Geschichte: Emden war im 17. und 18. Jahrhundert der preußische Stützpunkt für den Versklavungshandel, Flensburgs Reichtum ist Frucht der Ausbeutung von Saint Thomas in der Karibik, wo Schwarze Menschen durch Arbeit im Zuckerrohranbau und in der Melasseküche vernichtet wurden.

Ende des 19.Jahrhunderts, als Wilhelmshaven bedeutsam wurde, ist das passé, aber anders als Emden oder Flensburg hat die Stadt keine Geschichte vor oder jenseits des Kolonialismus. Wilhelmshaven verdanke seine „Entstehung einzig und allein dem Machtstreben eines werdenden Weltstaates, das in dieser Stadt geradezu seine Verkörperung findet und sie deshalb in gleichem Maße künstlich mit sich emporreißt, wie dieses Streben seine Erfüllung erfährt“, so drückte es, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, ein gewisser Gerhard Kaiser aus. Der war Leiter des Industrieamts von Rüstringen, der fast hufeisenförmig um die Kasernen- und Militäranlagenstadt Wilhelmshaven herum gebauten Arbeitersiedlung.

Seine Analyse hat sich besser gehalten als sein vaterländisch-revanchistisches Pathos: „Das ist die DNA der Stadt“, so lautet die gegenwärtige Metapher für dasselbe Phänomen, nüchterner, ohne Sehnsucht nach verlorener Größe, schicksalsergeben. Alle Ge­sprächs­part­ne­r*in­nen bemühen sie, mal mit, mal ohne Abtönung. Alle.

Aber ließe sich denn der Imperialismus dekolonialisieren? Kann so ein Projekt etwas anderes bedeuten, als Stück für Stück diese am Reißbrett entstandene Stadt abzutragen – bis zum Grundstein der Garnisonskirche, ihrer Keimzelle, den Wilhelm I., damals noch preußischer König, am 7. Juni 1869 gelegt hat?

Als 1853 der Jadevertrag zwischen den Ländern Oldenburg und Preußen das Vorhaben besiegelt, hier im schlickigen Niemandsland einen gigantischen Marinehafen zu bauen, schreibt er die Pflicht der preußischen Militärboote fest, die Handelsschiffe „zu schützen und zu vertheidigen“, die die eben nicht nur Wein aus Bordeaux und Portugal, sondern auch Tabak, Baumwolle, Kopra oder ganz allgemein „Kolonialwaren“ nach Norddeutschland transportieren.

Wilma Nyari ist eine große Frau. Energie strahlt sie aus, Tatendrang, eine echte Freude daran, etwas zu unternehmen blitzt aus ihren Augen. Ihr Leben – sorry, aber das ist ein Roman für sich. An die Nordsee gezogen ist sie erst vor sieben Jahren. Der Name ist ungarisch, die Mutter hat die Nazi-Zeit im Versteck verbringen müssen, weil Romni. Manchmal klingt ein hessischer Akzent durch, wenn Wilma spricht. Friedberg, da ist sie in einer Zeit aufgewachsen, als es in Deutschland reichte, ein Schwarzes Kind zu sein, um ins Heim zu kommen.

Die barmherzigen Schwestern haben sie dann rausgeschmissen, da war sie 13. Neue Einrichtung: Frankfurt am Main, städtisch. Als die drei Jahre später den Standort wechselte, hatte die Leitung die Insassin Wilma Nyari vergessen. Seither ist sie auf sich allein gestellt gewesen, immer, eckt an, gerade weil sie etwas los macht und, als Autodidaktin, eben oft andere Worte und auch andere Wege findet als die gewohnten.

Was vielleicht ganz gut ist bei einer Stadt, die, wirtschaftlich krass gebeutelt und gesellschaftlich eigentümlich fragmentiert, wirkt, als wisse sie nicht, was sie mit sich anfangen soll. Vor allem mit dieser beschissen-militaristischen Geschichte, für die man sich irgendwie schämt: Was soll man damit anfangen? Aber auch sonst so: Eine Stadt mit 10,1 Prozent Arbeitslosen kann ja schlecht am Standort einer Schwerindustrie-Anlage rumnörgeln, auch wenn es dort alle Nasen lang brennt und ins citynahe Wohngebiet qualmt. Aber lässt es sich dann noch zur Top-Adresse luxussanieren? Und wie verträgt sich das mit dem dringenden Wunsch, touristisch attraktiv zu sein, wenn die Rauchfahne den einzigen Festlandssüdstrand der Nordseeküste erreicht?

„Die Wilhelmshavener“, bestätigt der Regionalhistoriker Hartmut Peters den Eindruck einer gewissen Planlosigkeit, „neigen dazu, nicht zu sehen, was ihre Stadt ausmacht.“ Es gebe einen „regelrechten Selbsthass“, aus Unvermögen, mit dem Erbe umzugehen, dabei „ist die Stadt im Grunde eine einzige Attraktion – was Wilma Nyari mit ihrem Blick von außen sofort erkannt hat“.

Und es ist echt unfucking fassbar, was die Stadt dadurch an Chancen versiebt und Potenzial vernichtet: Als Wilma Nyari hierher zog, weil sie so begeistert war von Wilhelmshaven, stand zum Beispiel die Südzentrale noch. Eins der bedeutendsten Industriedenkmale Deutschlands, das ab 1908 für die Versorgung der Marine errichtete Elektrizitätswerk, reinster Jugendstil, das größte Europas bis weit in die 1920er, genutzt bis 1993. Ein Wahrzeichen gleich bei der Hafeneinfahrt.

Südzentrale 1506.JPG

Ehemaliges Kraftwerk Südzentrale in Wilhelmshaven

Man hat es verfallen lassen, dann vertickt, der Investor hat‘s trotz Denkmalschutz und Bürgerprotesten abgerissen, 2015. Jetzt fehlt ihm offenbar die Kohle, um das Gelände anders nutzbar zu machen: Da gähnen Ruinen, eine klaffende Wunde. Unfucking fassbar findet Wilma Nyari, was hier an historischer Substanz verrottet, wie man Filetgrundstücke, die dadurch freiwerden, verramscht und wie mit ihnen spekuliert wird.

Sie spricht von einer „negativen Geschichtsschreibung“, als könnte man die Spuren verwischen, die Dinge, die nicht schön sind, „da hat man immer versucht ein Deckmäntelchen drüber zu legen“, sagt sie. „Aber da muss man ran, an Mord, an Genozid, da musst du ran“, schließlich gehe es darum „die Essenz rauszufiltern. Wir müssen etwas Positives daraus gewinnen“, sagt sie, „für die Gegenwart.“

Logisch, dass sie politisch aktiv ist. Im Stadtrat hatte sie bis zur Kommunalwahl 2021 gesessen, für die Grünen, die waren ihr aber zu rassistisch, ist sie also raus, hat den Landesverband der Partei „Die Urbane – eine Hiphop-Partei“ mitgegründet, „auch wenn ich mit Hiphop nichts am Hut habe“, wie sie sagt. Für ein Mandat hat es mit denen nicht gereicht.

Das kann Wilma Nyari, mit Jahrzehnten aktivistischer Arbeit in Hessen auf‘m Buckel, nicht bremsen. Hat sie halt ohne Mandat den runden Tisch ins Leben gerufen, im Sommer. Und das Verrückte ist: Es funktioniert. Schon jetzt hat das Küstenmuseum, das auch die Stadthistorie mitbearbeitet, „auf Anregung des runden Tischs Dekolonialisierung“ die Wanderausstellung „Homestory Deutschland“ hergeholt, eine Biografien-Sammlung der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland.

„Das passt zu uns“, sagt Museumsleiter Sven-Hinrich Siemers. Gerade erforsche man in Kooperation mit der TU Berlin die Provenienz der eigenen Bestände aus kolonialen Kontexten. „Und dabei kam die Frage auf, inwieweit gibt es auch eine Schwarze Geschichte Wilhelmshavens?“ Die ist noch unerforscht, völlig, „ein weißer Fleck“, so Siemers. Aber „es müsste eigentlich eine Präsenz von Menschen aus den Kolonien hier im Stadtgebiet gegeben haben“, sagt der Archäologe.

Die Arbeitstreffen der De­ko­lo­ni­sie­re­r*in­nen finden etwa einmal pro Monat statt. Sie versammeln nicht nur die hochmotivierten studentischen Zirkel, die Dekolonialisierung, verdienstvoll, besten Willens, enthusiastisch in Uni-Städten wie Hamburg, Bremen oder Freiburg auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Ohne deren Impulse würde sich auch in Wilhelmshaven nix rühren. Aber anders als dort droht der Diskurs hier nicht ins Akademisieren abzugleiten. Es hat viel mehr etwas von einer Graswurzelbewegung, an der bewährte Altlinke wie Regionalhistoriker Peters ebenso selbstverständlich teilnehmen wie Ingenieurin Jessica Obame Angoue, die im Herbst die Afrika Union Wilhelmshaven-Friesland gegründet hat, Siemers ist auch dabei und ebenso der Ku­ra­to­r*in­nen und der Direktor des Deutschen Marinemuseums, Stephan Huck, das, vom Verteidigungsministerium gesponsert, finanziell ein bisschen mehr Beinfreiheit hat. Sich an der Diskussion zu beteiligen, sei „eine Frage der Professionalität“, sagt Huck. Schließlich „gehören das Thema Kolonialismus und Marine unmittelbar zusammen“.

Quelle       :         TAZ-online       >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Kaiser-Wilhelm-Brücke

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2.) von Oben    —   Bundesarchiv Bild 102-13211, Wilhelmshaven, Abgewrackte Kriegsschiffe.jpg

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Namensnennung: Bundesarchiv, Bild 102-13211 / CC-BY-SA 3.0

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Ein Dahmer – Eigenes Werk

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