Ein Jahr Russischer Krieg
Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 15. Februar 2023
Ein Jahr russischer Angriffskrieg: – Das Elend der linken Legenden

Von Paul Schäfer
Bald ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion ist ein geschärfter Blick auf die Brutalität des Krieges gegen die Ukraine unabdingbar. Wladimir Putin ist zu Hause unter Druck geraten und muss nun Erfolge vorweisen. Mit einer geplanten Frühjahrsoffensive will der Kreml die gesamte Donbass-Region und Gebiete darüber hinaus unter Kontrolle bekommen.
Zugleich gehen in Wellen die Terrorattacken auf die Lebensadern der ukrainischen Gesellschaft weiter, die nur eins im Sinn haben: Die Ukraine soll zur Aufgabe des Widerstands und zur Unterwerfung gezwungen werden. Die Eskalation wird garniert durch die russische Bereitschaft zu Gesprächen, wenn die ukrainische Seite „die neuen territorialen Realitäten“ anerkenne. Dass die Ukraine nicht die Ergebnisse des Angriffskrieges akzeptieren kann, weiß man in Moskau genau. Was ist angesichts dessen zu tun? Reden wir Tacheles: Man muss die Ukraine weiter in die Lage versetzen, den Invasoren effektiven Widerstand zu leisten. Nur wenn Putin seine Felle wegschwimmen sieht, wird er einlenken. Erst dann wird es zu echten Friedensverhandlungen kommen. Friedensappelle, losgelöst von dieser harten Realität, beruhigen das Gewissen, bewirken aber nichts.
Welche Waffen geliefert werden sollen, folgt aus der Bewertung der Gefechtslage und der Dynamik des Krieges. Auch wenn es schwerfällt: Wir reden über militärische Logik. Daneben sind natürlich das internationale Recht in bewaffneten Konflikten sowie die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten und elementare politische Risiken abzuwägen. So ist es richtig, dass die Ukraine im Einklang mit ihren Verbündeten grundsätzlich darauf verzichtet, die Stellungen der russischen Armee in Russland anzugreifen – was völkerrechtlich durchaus legitim wäre. Doch Russland ist eine Atommacht und hat noch erhebliche Reserven, was sein Zerstörungspotenzial betrifft. Daher ist der stupide Ruf nach immer schärferen Waffen durch einschlägig bekannte Wichtigtuer in Medien und Politik hierzulande verantwortungslos.
Umgekehrt ergibt es wenig Sinn, strikt nach defensiven oder offensiven, leichten oder schweren Waffen unterscheiden zu wollen. Drohnen etwa wird man nicht eindeutig diesen Kategorien zuordnen können. Wer sich gegen die Lieferung schwerer Waffen ausspricht, sollte bedenken, dass der Vorwurf dann schnell – und mit Recht – lauten könnte, die Ukrainer würden damit zu Kanonenfutter degradiert. Was die Ukraine eindeutig braucht, sind Mittel, um sich gegen Artilleriefeuer, gegen Flugzeuge, taktische ballistische Raketen und Marschflugkörper verteidigen zu können, sprich: Mars II-Abwehrraketen, die Panzerhaubitze 2000 mit Reichweiten zwischen 40 und 60 Kilometern, Iris-T oder Patriot-Abwehrraketen. Raketen mit noch längerer Reichweite, die für Angriffe auf russisches Territorium genutzt werden könnten, gehören hingegen nicht dazu. Um den russischen Vormarsch am Boden aufzuhalten, brauchen die ukrainischen Streitkräfte gepanzerte Verbände. Dabei geht es aber auch darum, wie viele Kampfpanzer für eine raumgreifende Offensive benötigt werden – und ob man eine solche wollen kann. Denn es bleiben Zweifel, was dieser Schritt in der russischen Wahrnehmung bedeuten würde. Auch die Ukraine wird die Folgen eines solchermaßen weiter eskalierten Krieges mitbedenken müssen.
Angesichts der zu erwartenden Opfer des sich verschärfenden Krieges ist der Ruf nach Friedensverhandlungen allzu verständlich. Allerdings reicht das nicht. Dennoch sprechen sich viele Linke gegen Waffenlieferungen aus, so auch jüngst die Linkspartei-Vorsitzende Janine Wissler. In einem früheren Statement hatte sie eingeräumt, wenig Hoffnung zu haben, dass ihr Ruf in Moskau gehört wird. Was dann? Die Antwort darauf bleibt sie schuldig. Denn ohne weitere Waffen blieben für die Ukraine nur Rückzug und Unterwerfung. Doch das Schießen, Morden, Vertreiben würde damit nicht aufhören. Und Putin hätte seine wichtigsten Kriegsziele erreicht. „Solidarität mit der Ukraine“ zu rufen, wie es die Linkspartei tut, und sich zugleich dem zu verweigern, was dafür getan werden muss, ist inkonsequent, moralisch fragwürdig und letztlich Ausdruck von Politikunfähigkeit.
Das verweist auf ein größeres Problem der linken Positionierung zu diesem Krieg: Nach wie vor vertreten viele Linke hierzulande – keineswegs nur in der Linkspartei – gerne die These, Russland gehe es allein um defensive Belange und man müsse den Überfall auf die Ukraine als Reaktion auf ein Bedrängnis von außen verstehen. Mit der Realität hat das rein gar nichts zu tun. Für das Verständnis des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die Metamorphose der russischen Macht entscheidend: Moskaus Politik leitet sich aus inneren Widersprüchen und der signifikanten Kluft zwischen Weltmachtanspruch und semi-peripherem Status in der Welt ab.
Das immer wieder zur Begründung des Krieges herangezogene Sicherheitsinteresse Russlands spielt in der russischen Perzeption zwar eine Rolle, wird jedoch im Rahmen imperialer Regimeinteressen instrumentalisiert. Es gab zu keinem Zeitpunkt eine existenzielle – sprich: militärische – Bedrohung Russlands. Ein Angriff der Nato auf das Land lag nie auch nur im Denkhorizont der „westlichen Eliten“. Anderslautende Behauptungen von Präsident Putin oder Außenminister Sergej Lawrow dienen vor allem der Verschleierung eigener Expansionsziele. Ein Blick auf die Landkarte macht zudem klar, dass die behauptete „Einkreisung“ Russlands eine fixe Idee ist. Man kann das flächenmäßig größte Land der Erde, mit langen Grenzen zu verbündeten oder neutralen Staaten – darunter China und Kasachstan – nicht „einkreisen“.
Im linken Spektrum ist als Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für den Krieg der Verweis auf die „Geopolitik“ gegenwärtig äußerst populär. Dass man dabei gerne Anleihen bei Vertretern der neorealistischen Schule wie John Mearsheimer macht, mag auf den ersten Blick erstaunen, sind doch diese Theoretiker ausschließlich auf Macht, Imperien und Militär fokussiert. Aber sich auf dieser gedanklichen Abstraktionsebene zu bewegen, bietet ungemeine Vorzüge: Betrachtungen zu den unmittelbaren Akteuren dieses Krieges – die Ukraine und Russland – geraten in den Hintergrund und müssen uns nicht weiter beschäftigen. Gesellschaftliche Verhältnisse, Prozesse und Widersprüche, die zwischen Menschen ausgetragen werden, bleiben notorisch unterbelichtet, kommen in dieser Denkrichtung bestenfalls als „soft power“ vor. Die linken Autoren Horst Kahrs und Klaus Lederer haben dazu festgestellt: „Die Welt und die Menschen spielen in dieser Lesart bestenfalls als Insassen imperialer Interessensphären und als Verschiebemasse großer Mächte eine Rolle; kaum einer offensiven kritischen Befassung wert zu sein scheinen dagegen der fortschreitende Umbau der russischen Gesellschaft zur repressiven Autokratie, die nachhaltige Kollaboration Putins mit dem globalen Rechtsradikalismus, das russische Streben nach Destabilisierung liberal-demokratischer Verhältnisse oder die demokratische Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung gegen die Unterwerfung unter russische Vormundschaft.“[1]
Rückzug auf die vertrauten Kategoriesysteme
Dass der Krieg Putins in bestehende internationale Konfliktkonstellationen eingebettet ist, kann in einer globalisierten Welt nicht verwundern. Aber sich auf diese Metaebene zu verengen, erleichtert die Einordnung des Geschehens ungemein: Man kann sich auf vertrautem Terrain bewegen und sich auf die alten Kategoriensysteme verlassen. Da darf nicht unerwähnt bleiben, dass die USA an der Spitze des kapitalistischen Weltsystems stehen und sich als einzige Weltmacht auch mittels militärischer Bündnisse wie der Nato zu behaupten versuchen. Und dabei wird stets darauf verwiesen, USA und Nato hätten Russland mit ihrer Osterweiterungspolitik so weit an den Rand gedrängt, dass man mit einer harten Reaktion rechnen musste. Folgerichtig enden solche Erwägungen wider alle Evidenz an dem Punkt, dass eigentlich „der Westen“ diesen Krieg angezettelt habe. Dass man damit die Legitimationsversuche Putins exakt übernimmt, scheint manche nicht zu schrecken. Aber, so könnte man durchaus fragen, hat der Kriegsherr im Kreml vielleicht doch recht?
Ja, es stimmt, auch andere Mächte, nicht zuletzt die USA, haben ein massives Sündenregister vorzuweisen: Militärinterventionen, bei denen Völkerrecht verletzt wurde, bei denen viele Menschen geopfert und Zerstörungen angerichtet, Grenzen gewaltsam verschoben wurden; Eingriffe, in denen es um imperiale Machtinteressen und Ressourcenausbeutung ging. Sieht man vom begrenzten Erkenntniswert dieser Durchsagen über allzu Bekanntes ab, so ist doch auf zwei Dinge hinzuweisen: Erstens darf der Verweis auf westlich-imperiale Politiken nicht als Relativierung oder gar Rechtfertigung der russischen Aggression missdeutet werden. Étienne Balibar schreibt völlig zu Recht: „Selbst wenn die Nato den euroasiatischen Raum, der traditionell von Russland dominiert wird, hätte ‚einkreisen‘ wollen, was unbestreitbar scheint, hat sie Russland nicht angegriffen. Wir dürfen niemals vergessen, wessen Armeen in die Ukraine eingefallen sind und sie derzeit zerstören.“[2] Nota bene: Unrecht wird nicht durch andere unrechtmäßige Handlungen entschuldbar.
Zweitens aber käme es darauf an, den ursächlichen Zusammenhang dieser Völkerrechtsverstöße mit dem gegenwärtigen Krieg exakt zu benennen und nachzuweisen. Indirekte Bezüge gibt es durchaus. „Westliche“ Politik hat in Libyen, im Irak oder anderswo zur Erosion regelbasierter Ordnung beigetragen und Vorwände für Putin geliefert. Eine kausale Verbindung ergibt sich daraus aber in keiner Weise, sie ist ein Konstrukt. Könnte die verzweifelte Suche nach „den eigentlich Schuldigen“ auch damit zu tun haben, dass man der Ungeheuerlichkeit des Putin-Krieges und daraus folgenden Konsequenzen ausweichen möchte?
Aber was ist mit dem Hauptargument, dass die besonders von den USA vorangetriebene Nato-Osterweiterung für Russland eine solche Bedrohung darstellte, auf die Putin irgendwann reagieren musste? Und ist diese Expansion nicht gezielt verfolgt worden, um Russland in die Enge zu treiben?
Tatsächlich hat sich gezeigt, dass die Entscheidung zur Osterweiterung grundsätzlich und mehr noch die Art ihrer Durchführung fragwürdig waren. Auch die Warnungen kluger Sicherheitsexperten, dass dieser Prozess den Aufstieg rechter, militaristischer Kreise in Moskau begünstigen würde, haben sich als zutreffend erwiesen. Der Hauptvorwurf liegt darin, dass die Verantwortlichen in den Nato-Mitgliedsstaaten es versäumt haben, nach 1995 mit der OSZE eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu entwickeln. Aber zur Wahrheit gehört auch dies: „Anders als behauptet war die Ausdehnung nicht das Ergebnis einer orchestrierten Einverleibung, sondern entsprach der Absicht der meisten Staaten Mittel- und Osteuropas, die eigene Sicherheit durch die Mitgliedschaft in der Allianz zu erhöhen.“[3] Schon im Februar 1991 schlossen sich Polen, die damalige Tschechoslowakei und Ungarn zum Viségrad-Bündnis zusammen und begehrten heftig die Aufnahme in die Nato. Dies sollte die Eintrittskarte in den westlichen Club werden, dem man unbedingt angehören wollte. Den Dränglern folgten weitere Staaten, der Westen hingegen war eher zögerlich.
Quelle : Blätter-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Montage of the 2022 Russian invasion of Ukraine
Montage created by me, JoleBruh – File:Eiffel Tower with the colors of the Ukrainian flag (51910907690).jpg – Pierre Blaché (CC0 1.0) File:Reporter’s Notebook – Confusion, Chaos as Russia Invades Ukraine 02.jpg – Yan Boechat/VOA (Public Domain) File:Storage building in Sumy after shelling during Russian invasion, 18 March 2022 (01).jpg – State Emergency Service of Ukraine (CC-BY 4.0) File:Russian military move from Crimea to Ukraine.jpg – Сергей Васильевич Дейнеко (CC-BY 4.0) File:Reporter’s Notebook – Thriving Kyiv Becomes Battle Zone, Almost Overnight 03.jpg – Yan Boechat/VOA (Public Domain)
- CC BY-SA 4.0
- File:Russian invasion of Ukraine 2022 montage (1).png
- Erstellt: 3. März 2022
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Unten — Міст біля станції метро Берестейська
rbc.ua
- CC BY 4.0
- File:Міст біля станції метро Берестейська.jpg
- Erstellt: 1. März 2022
Erstellt am Mittwoch 15. Februar 2023 um 13:34 und abgelegt unter Asien, Europa, Kriegspolitik, Medien, Positionen. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.