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Ein Gigabyte Leben

Erstellt von Redaktion am Samstag 25. August 2018

Disrupt!
Widerstand gegen den technologischen Angriff

Graffiti in Vallcarca, Barcelona.

Quelle   : untergrund-blättle

Autorin  –  Edith Förster / kritisch-lesen.de

Warum die digitale Durchdringung der Gesellschaft bedrohliche Ausmasse annimmt – und trotzdem zum Scheitern verurteilt ist.

Das capulcu-Redaktionskollektiv bezeichnet sich auf seiner Website als Gruppe von technologie-kritischen Aktivist*innen und Hacktivist*innen – also Personen, die Computer und Computernetzwerke für politische Protestaktionen nutzen. Unter dem Motto „keep the future unwritten“ veröffentlichen sie Texte in verschiedenen linken Medien, bringen Broschüren heraus und bieten auf ihrem Blog Diskussionen, Seminare und Schulungen an.

Ihre Broschüre „DISRUPT! – Widerstand gegen den technologischen Angriff“ kritisiert gegenwärtige Versuche, „das menschliche Dasein den Anforderungen einer reduktionistischen künstlichen Intelligenz zu unterwerfen.“ (o. S.) Technologische Entwicklungen werden als Angriff auf unsere Autonomie und in ihrer entsolidarisierenden Wirkung analysiert. Die Zielrichtung ist dabei eine aktivistische: Die Autor*innen plädieren für die „Wiederbelebung einer praktischen Technologiekritik zwischen Verweigerung und widerständiger Aneignung spezifischer Techniken“ (ebd.).

IT heisst Angriff

Capulcu sehen in der Geschichte zwei antagonistische Prozesse am Werk: Auf der einen Seite wird versucht, Menschen zu standardisieren und ihr Verhalten maschinellen Prozessen gleichzuschalten, auf der anderen Seite entfaltet sich gerade im Widerstand gegen diese Tendenzen ein grosser Reichtum sozialen Lebens und menschlicher Ausdrucksformen. Der Bogen führt von den Maschinen der industriellen Revolution (Dampfmaschine, Webstühle) über Taylorismus und Fordismus bis zum heutigen informationstechnologischen Angriff.

Das Kollektiv befasst sich mit der Erzählung einer omnipotenten künstlichen Intelligenz, die in Medien und Wissenschaft zunehmend Verbreitung findet und angeblich Menschen überflüssig macht oder ein ewiges Leben auf Computerhardware ermöglicht. Capulcu entdecken eine rücksichtslose, jegliche Kritik als überflüssiges und rückständiges Zweifeln beiseite schiebende Agitation. Damit einher geht ein Interesse nach möglichst umfassender Überwachung und Speicherung von Daten, sowohl von kommerzieller als auch staatlicher Seite.

Neue Möglichkeiten gezielter Manipulation entstehen: Die öffentliche Diskussion verschiedener Ansichten und freie Wahlen auf Grundlage einer allen gemeinsamen Informationsbasis werden verhindert. Etwa über die Technologie des Nudging könnten Unternehmen oder Politik ohne viel Aufwand Einfluss ausüben, der als solcher oft gar nicht erkennbar ist und viel eher unhinterfragt bleibt als etwa rechtsstaatliche Regularien. Ein Beispiel: Durch das Herunterladen einer Software stimmt man automatisch der kommerziellen Weiterverwendung der angegebenen Daten zu; wer das nicht will, muss extra per Mail widersprechen.

Allein aus Trägheit würden viel mehr Personen „zustimmen“ als wenn sie sich aktiv einverstanden hätten erklären müssen. Auch an weiteren Prozessen gezielter Einflussnahme übt das Kollektiv Kritik, etwa bei der Kreditvergabe. Dort entstünden Zwänge der Normierung und Selbstoptimierung: Wer im Leben – sei es beim Wohnen, Studium oder Autokauf – auf Kredite angewiesen ist, muss sich als Träger*in von „Humankapital“ möglichst so verhalten, dass die eigene Rendite maximiert wird.

Kontrollgesellschaft im Multiplayermodus

Im Jahr 2015 wurde in China das „Sesame Credit System“ eingeführt, welches durch „Gamifizierung“ verhaltenssteuernder Elemente Menschen zur „freiwilligen“ Beteiligung motiviert. Wie in einem Computerspiel erfährt man die eigene Punktzahl und arbeitet gerne an seiner Verbesserung mit – ohne die Kriterien zu hinterfragen. Aber auch andernorts werden ähnliche Praxen angewendet: Derzeit werden etwa in Supermärkten selbstlernende Gesichts- und Emotionsanalysen zur Umsatzsteigerung angewendet. Das Kollektiv kritisiert an ihnen das fragwürdige Vorhaben massenhafter Manipulation und die mögliche Unzuverlässigkeit der Technologie, da sie auf einem veralteten Modell basiere.

Die Abgabe der Kontrolle an die Geräte erzeuge ein maschinistisches Menschenbild, das mit Zwängen zur Leistung und Optimierung, mit sozialen Ungleichheiten, Entsolidarisierung und Diskriminierungs- und Stigmatisierungspotenzialen einhergeht. Die derzeitige Forschung und beginnende Praxis selbstlernender Gesichts- und Emotionsanalysen, so das Kollektiv, ermögliche ein umfassendes Herausfiltern von abweichendem Verhalten. Capulcu untersuchen auch die Entwertung von Arbeit, etwa der Elektronikindustrie und im click- und crowd-working des digitalisierten Kapitalismus. Der Prognose zufolge wird in Zukunft nicht nur die Arbeit, sondern jegliche individuelle Lebensäusserung Inwert gesetzt werden.

Zuletzt dokumentieren Capulcu Widerstandsbemühungen, die im Zusammenhang mit neuen Technologien in den vergangenen Jahren, 2013 bis 2017, entstanden sind – Hacks, Sabotage-Aktionen und Proteste. Beispiele für widerständige Aktivitäten sind das Whistleblowing, also das Veröffentlichen geheimer Informationen. Als Beispiel: „Phineas Fisher“ – ein oder mehrere unbekannte Hacker*innen – haben Überwachungssoftware herstellende Firmen gehackt, deren Quellcode und Mails offen gelegt und 10.000 in Bitcoins erbeutete Euro der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava gespendet.

Die Essensauslieferer von Deliveroo konnten in einem Streik erfolgreich Forderungen durchsetzen, und das facebook-Angebot eines auf 35 ausgewählte Seiten limitierten Internets als „Entwicklungshilfe“ durch öffentlichen Druck verhindert werden. Erwähnt wird ausserdem der Widerstand gegen die Gentrifizierung in San Francisco, ein Sabotage-Akt gegen die Deutsche Bahn anlässlich des G20-Gipfels im Juni 2017, sowie mit Farbbeuteln und Lack geführte „Angriffe“ gegen den Hauptsitz von Google in München, die Kölner Firma CoGAP oder den Berliner Software-Hersteller PSI.

Viel Aktivismus, wenig Analyse

„DISRUPT!“ bietet einen Überblick über verschiedene Bereiche neuer Technologien und beschreibt deren mögliche gesellschaftliche Auswirkungen anhand von konkreten Beispielen. Der Text ist sehr verständlich geschrieben und setzt keine technologischen Vorkenntnisse voraus, die über das alltägliche Benutzen eines Computers oder Smartphones hinausgehen. Der Text bezieht klar Position gegen das von dem Autor_innenkollektiv als „technologischen Angriff“ bezeichnete Problem. Dieses wird als offenbare Tatsache behandelt, nicht als eine unter diversen möglichen Interpretationen von Geschichte. Etwaige Limitationen dieser Interpretation, Probleme und Chancen digitalen Widerstand werden nicht abgewogen.

Der Verzicht auf tiefergehende Diskussionen und Differenzierungen wird nachvollziehbar, wenn man das aktivistische Anliegen des Autor_innenkollektivs berücksichtigt. Eine detaillierte Darstellung der erwähnten Technologien hätte die Lesbarkeit zugegebenermassen beeinträchtigt. Trotzdem ist es schade, dass es nur wenige Quellenangaben und Verweise gibt, falls die Leser*in sich darüber informieren möchte – was für ein fundiertes Verständnis und eine mündige Beteiligung am Diskurs unabdingbar wäre. Die Vereinfachung geht dabei mitunter bis zur Verfälschung: Etwa erweckt ein Satz wie „durch kleine Programme, die Algorithmen“ (S. 35) den Eindruck, dass zwischen beidem keinerlei Unterschied bestehe.

Der Text behauptet, dass sich sozialer Reichtum gerade in den Aktionen des Widerstands gegen den „technologischen Angriff“ entfaltet, räumt aber den Aktivist*innen und ihren Ausdrucksformen zu wenig Platz ein, als dass sich dies für den oder die Leser*in nachvollziehen liesse. Alles in allem aber bietet „DISRUPT!“ einen leicht verständlichen Überblick über wichtige Diskussionsstränge und regt dazu an, sich über Informationstechnologie und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen tiefergehend zu informieren, zu reflektieren, zu diskutieren, und – nicht zuletzt – selbst aktiv zu werden.

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çapulcu redaktionskollektiv: DISRUPT! – Widerstand gegen den technologischen Angriff. Unrast Verlag Münster 2017. 160 Seiten, ca. SFr 14.00. ISBN 978-3-89771-240-9

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.

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Grafikquelle     :    Graffiti in Vallcarca, Barcelona. / Jordi Bernabeu Farrús (CC BY 2.0 cropped)

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