Ein Flüchtling aus den Irak
Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 2. Juli 2017
Warum starb Schabas Al-Aziz?
von Steffi Unsleber
Ein junger Mann kommt als Flüchtling aus dem Irak nach Sachsen. In einem Supermarkt gibt es Ärger, vier Männer fesseln ihn an einen Baum. Kurz bevor ihnen der Prozess gemacht werden soll, findet man den Flüchtling tot in einem Wald.
Die Luft riecht nach Erde, als der Jäger von Dorfhain an diesem Ostermontag in den Wald geht. Ein kühler Tag: 8 Grad, wenig Sonne, immer wieder Regenschauer. Er läuft querfeldein, der feuchte Waldboden federt unter seinen Füßen. Es ist Frühjahr im Erzgebirge; die Zeit, in der Jäger das Wild zählen. Der Jäger läuft und schaut. Zwischen den Rotbuchen liegt etwas am Boden. Etwas –. Er tritt näher. Es ist ein Mann.
„In einem Waldstück bei Dorfhain hat am Montagabend ein Jagdpächter einen männlichen Leichnam gefunden“, meldet zwei Tage später die sächsische Polizei. „Der Tote trug eine Aufenthaltsgestattung bei sich, die auf einen 21-jährigen Iraker ausgestellt war. Die Dresdner Mordkommission hat die Ermittlungen übernommen.“
Der Mann, stellen die Polizisten fest, als sie seine Fingerabdrücke überprüfen, ist ihnen bekannt. Sie hatten bereits nach ihm gefahndet, weil er als Zeuge in einem Prozess aussagen sollte. Vor einem Jahr war er von vier Männern im sächsischen Arnsdorf verprügelt und anschließend an einen Baum gefesselt worden. Die Staatsanwaltschaft Görlitz hat Anklage gegen die Männer erhoben, wegen Freiheitsberaubung. In einer Woche sollte der Prozess beginnen.
Montag, 24. April 2017, der Prozess findet statt. Schon früh am Morgen haben sich rechte Demonstranten vor dem Amtsgericht Kamenz versammelt. AfD-Politiker sind gekommen, Pegida-Sprecher, NPD-Funktionäre und Aktivisten der rechten 1-Prozent-Initiative. Sie halten Schilder in die Kameras, auf denen steht: „Zivilcourage ist kein Verbrechen“. Rechte Rocker aus Arnsdorf blockieren den Eingang – ihr Chef ist einer der Angeklagten. Als er mit den drei anderen Angeklagten das Gerichtsgebäude betritt, darunter ist auch der CDU-Gemeinderat Detlef Oelsner, applaudieren die Menschen.
Der Staatsanwalt wird von zwei Männern begleitet, die kleine weiße Knöpfe in ihren Ohren tragen. Es sind Beamte des Landeskriminalamts. Nachdem die Leiche des Irakers gefunden wurde, bekam der Staatsanwalt eine Drohmail, dann einen Drohanruf. Wenn er zum Prozess erscheine, sagte eine männliche Stimme, werde er erschossen.
Eigentlich waren zehn Verhandlungstage angesetzt, aber Richter, Verteidiger und Staatsanwaltschaft einigen sich kurz nach der Eröffnung darauf, den Prozess einzustellen. Die Schuld sei gering, sagt Richter Laschewski. Und es bestehe kein öffentliches Interesse – an dieser Stelle hört man ein leises Schnauben von den vielen Journalisten im Saal. „Das Opfer hatte kein großartiges Interesse an der Sache“, präzisiert der Richter. „Und nun ist Herr Saleh leider verstorben, wir können ihn also nicht persönlich kennenlernen.“
Die Journalisten stehen danach noch lange in Grüppchen zusammen und tuscheln. Wie konnte es sein, dass der Staatsanwalt erst monatelang Zeugen einsammelte, sie auf zehn Verhandlungstage terminierte und dann zustimmte, das Verfahren einzustellen? Hatte er Angst bekommen, weil er bedroht wurde? Und was war mit dem Iraker passiert? Dem Hauptbelastungszeugen? Er wurde südlich von Freital gefunden, wo die Polizei vor einem Jahr eine rechte Terrororganisation hochgenommen hatte. Wollte jemand verhindern, dass er aussagt? Wurde er von Neonazis umgebracht?
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Die Suche nach einer Antwort führt bis nach Sulaimaniyya, im kurdischen Teil des Irak. Dort kam das Opfer her.
Sulaymaniyah with Dukan Lake, Halabja and Ranya
Der junge Mann, den der Jäger tot aufgefunden hatte, hieß Schabas Saleh Al-Aziz und wurde 1995 in Sulaimaniyya geboren. Er hatte einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester, ging einige Jahre zur Schule, wurde dann Zimmermann. Sein Vater ist Taxifahrer, der Bruder betreibt einen Obststand. Ein bescheidenes Leben, aber ein gutes und vom Krieg weitestgehend verschont.
Als Schabas Al-Aziz fünfzehn Jahre alt ist, erwacht die Familie von einem Schrei. Schabas wird von Krämpfen geschüttelt, hat Schaum vor dem Mund. Dann wird er ohnmächtig. Als er wieder aufwacht, ist er schwach und verwirrt.
Seitdem hat er diese Krankheit: Epilepsie. Die Familie geht mit ihm zum Arzt. Der verordnet Schabas Tabletten: Lamictal 100 mg, Loxol 100 mg. Die Anfälle kommen trotzdem wieder, alle drei Monate ungefähr.
Die Familie fährt mit ihm in den Iran, lässt Schabas dort von Ärzten untersuchen. Es hilft nicht. Seine Freunde machen sich über ihn lustig. Schabas schämt sich.
Vier Jahre vergehen. Schließlich sagt Schabas Al-Aziz seinem Vater, dass er nach Deutschland fahren möchte. Er hofft, dass ihm die Ärzte dort helfen können. Im April 2015 bricht er auf. Er fährt nach Istanbul und zahlt 5.000 Dollar an Schlepper. Die bringen ihn nach Griechenland. Von dort aus nimmt er die Route über den Balkan. Unterwegs hat er immer wieder epileptische Anfälle. Er überlebt, weil sich die Schlepper und die Mitreisenden um ihn kümmern.
Im September 2015 erreicht er Deutschland. Schabas Al-Aziz wird nach Freital geschickt, in die Erstaufnahmeeinrichtung im ehemaligen Hotel Leonardo. In Freital sind die Kritiker der Flüchtlingspolitik besonders schrill und laut. Steffen Frost, Kreisrat und AfD-Bürgermeisterkandidat, ist einer von ihnen. Er fordert ein Ende der „fehlgeleiteten Asylpolitik“.
Gegen die Unterkunft, in der Schabas Al-Aziz jetzt wohnt, protestieren wütende Anwohner und Rechtsradikale seit Monaten. Das Haus wird mehrfach angegriffen: mit Böllern, mit Steinen. Vor anderen Freitaler Unterkünften explodieren im Herbst Sprengsätze.
In Freital nehmen Al-Aziz’ epileptische Anfälle zu. Er hat seine Medikamente aus dem Irak mit nach Deutschland gebracht, aber sie sind inzwischen aufgebraucht. Er wird jetzt alle drei Tage von Krämpfen geschüttelt.
Elfmal muss der Krankenwagen kommen, um ihn in die Notaufnahme zu bringen. Eine Ärztin, die ihn damals behandelte, erzählt, dass ihre Kollegen die Augen verdrehten, wenn sie sahen, dass es schon wieder Schabas Al-Aziz war. Die Ärzte sagten, er sei ein Trinker – deshalb habe er so viele Anfälle. Was nicht stimmte, sagt die Ärztin. In seinem Blut hat man nie Alkohol gefunden.
Es war sehr schwierig für Schabas Al-Aziz, an seine Medikamente zu kommen, sagt die Ärztin. Wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte er Tabletten für drei Tage. Sobald sie aufgebraucht waren, musste er beim Sozialamt Pirna die Kostenübernahme für weitere Medikamente beantragen. Der Antrag wurde oft nicht bewilligt. Schließlich erlitt Al-Aziz wieder einen Anfall, der Krankenwagen kam und holte ihn ab. Im Krankenhaus schickten sie ihn mit Tabletten für drei Tage nach Hause, danach kam der nächste Anfall. „Alle chronisch kranken Flüchtlinge haben dieses Problem“, sagt die Ärztin. „Ihre Versorgung funktioniert nur sehr eingeschränkt.“ Das behindert sie seit Jahren in ihrer Arbeit.
So geht das einige Monate. Manchmal überfällt Al-Aziz Panik, dann greift er andere Bewohner an. Einmal rennt er nackt durch seine Unterkunft. Schließlich kommt er in die Psychiatrie. Das Amtsgericht Kamenz stellt fest, dass er nicht in der Lage ist, für sich selbst zu entscheiden. Ein gerichtlicher Betreuer soll das für ihn tun. Verantwortlich für Al-Aziz ist ab sofort der AfD-Politiker und Berufsbetreuer Steffen Frost.
Es folgt eine unruhige Zeit. Während Schabas Al-Aziz in der Psychiatrie in Arnsdorf ist, wird die Unterkunft in Freital geschlossen, sein Wohnsitz wird nach Pirna verlegt. Die Ärztin, die ihn betreut hat, und seine Freunde in der Unterkunft verlieren den Kontakt zu ihm.
Am 21. Mai 2016 betritt Schabas Al-Aziz den Netto-Supermarkt in Arnsdorf und kauft sich eine Telefonkarte. Sie scheint nicht zu funktionieren, also geht er zurück und versucht, mit der Kassiererin zu sprechen. Er kann ein paar Wörter Deutsch, ein paar Wörter Englisch, dann probiert er es auf Sorani, seiner kurdischen Muttersprache. Es klappt nicht. Er wird später seiner Familie erzählen, dass die Kassiererin Belgisch gesprochen habe. Wahrscheinlich kam ihm der sächsische Akzent vor wie eine andere Sprache. Schabas Al-Aziz will nicht gehen, bis sein Problem gelöst ist. Die Marktleitung ruft die Polizei.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Eingang zum Walderlebnis Grillenburg
Freitag 8. September 2017 um 18:25
ABEND DES W A H N S I N N S
(nach der Melodie von „Eve of destruction“)
Text: Stefan Weinert, 24.8. 2017
Musik: P. F. Sloan, 1963/ performed: Barry McGuire
Ich hörte von Bomben, man hat sie geworfen,
in Japan haben sie Menschen zerschmolzen.
Sie fielen auf Russland, England und Polen.
Sie verbrannten Vietnam und vergasten Franzosen,
Ich hörte von Bomben, man hat sie geworfen.
Oh, sag’ mir, sag’ mir mein Freund, ob es wahr ist, was
ich denk’: Wir sind schon längst am Abend des Wahnsinns,
(sind) schon längst am Abend des Wahnsinns.
Ich hörte von Menschen, die Menschen verbrennen,
doch sie als Ratten und nicht als Menschen benennen.
Die sie verwerten, ihre Haut, ihre Knochen,
keiner hat’s gewusst, doch alle ham’s gerochen.
Ich hörte von Menschen, die Menschen verbrennen.
Oh, sag’ mir, sag’ mir mein Freund, ob es wahr ist, …
Ich höre von Bomben und von Raketen, die
mit einem Schlag alle Menschen vernichten.
Sie liegen bereit, ein Knopfdruck genügt,
leider gibt es die, die tun’s, sind so verrückt.
Ich höre von Bomben und von Raketen.
Oh, sag’ mir, sag’ mir mein Freund, ob es wahr ist, …
Ich höre von Menschen, die Menschen verbrennen,
mit ihren Worten und sie als Halbaffen benennen.
Sie verwerten Sie für sich und für ihre Politik
Und werden dann in den sich’ren Tod geschickt.
Keiner hat’s gewusst, doch alle ham’s „geblickt“
Oh, sag’ mir, sag’ mir mein Freund, ob es wahr ist, was
ich denk’: Wir sind schon längst am Abend des Wahnsinns,
(sind) schon längst am Abend des Wahnsinns.