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RENTENANGST

Ein Fall von Klassenverrat

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 4. Mai 2023

Giffey verwahrt sich hartnäckig gegen ein ursozialdemokratisches Politikprojekt

Ein Debattenbeitrag von Ingo Arend

Franziska Giffeys Berliner SPD macht sich gerade jene Klientel zum Partner für Wohnungsneubau, die eine Volksentscheids-Mehrheit enteignen wollte.

Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt“. Das hat nicht August Bebel gesagt, sondern sein Zeitgenosse Henrich Zille. Das Mietskasernenelend des proletarischen „Milljöhs“ am Ende des 19. Jahrhunderts, das der legendäre Künstler mit dem Spruch anprangerte, existiert zumindest im Berlin des 21. Jahrhunderts so nicht mehr.

An Cholera, Typhus und den Blattern, wie es Friedrich Engels in seinen Schriften zur Wohnungsfrage beklagte, sterben Mie­te­r:in­nen der deutschen Hauptstadt nicht mehr.

Aber die „Wohnungsfrage“ unserer Tage ist zu einer ähnlichen sozialen Zeitbombe geworden. Was sich nicht nur an den rasant steigenden Obdachlosenzahlen und den Zeltlagern des Lumpenproletariats unter Brücken und S-Bahn-Bögen, vor Supermärkten und Sparkassen ablesen lässt.

Berlin hat seit den 2000er Jahren einen ebenso rabiaten wie konzertierten Angriff des internationalen Investmentkapitals auf einen, infolge von 40 Mauerjahren relativ günstigen Wohnungsmarkt erlebt. Die Äxte, mit der die anonymen Pensionsfonds, Anlagefonds und Briefkastenfirmen, die dieses lukrative Terrain planmäßig aufrollten und dessen Nutznießer bis heute erschlagen, heißen Mietsteigerung und Umwandlung in Eigentumswohnungen.

„Diese Stadt lässt Dich machen“ – in ihrem neuesten Werbefilm beutet eine Berliner Biermarke einmal mehr den Mythos von der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten aus. Derweil flüchtet sich das unbotmäßige Kreativvölkchen auf das der Spot zielt, ins Umland, weil es die lustigen Orte, an denen er gedreht wurde, nicht mehr bezahlen kann oder diese von der öden Investarchitektur a la Mercedes-Benz-Arena am Spreeufer plattgemacht wird.

Es ist diese kaum verhüllte Gier, die zum Volksentscheid am 26. September 2021 geführt hat. Dabei hatten sich bekanntlich 59,1 Prozent der Abstimmenden dafür ausgesprochen, profitorientierte Wohnungsunternehmen wie die Deutsche Wohnen oder Vonovia in Gemeineigentum zu überführen.

Es gehörte also schon einige Chuzpe von SPD-Spitzenfrau Franziska Giffey dazu, ausgerechnet diese Klientel zu Partnern für ein „Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen“ auszurufen. Die ideologische Augenwischerei bestand darin, eine sozialpartnerschaftliche Symmetrie zu suggerieren, die nicht existiert. Der Fall des Milliardärs Nicolas Berggruen steht dabei pars pro toto. Kaum hatte er sich in der Stadt mit ein paar Vorzeigeprojekten das Image des Kulturfreunds zugelegt, warf er seine Mie­te­r:in­nen reihenweise aus ihren Wohnungen und Ateliers.

Es steht paradigmatisch für die Lage der linken Volkspartei, dass sie die „Expropriation der Expropriateure“ scheut, die die Theoretiker der Arbeiterbewegung von Karl Marx über August Bebel bis Otto Bauer propagierten. Ja selbst Kevin Kühnert wollte mal BMW kollektivieren. Stattdessen bemüht Giffey das Gewissen, das schwieg, als sie bei ihrer Doktorarbeit schummelte, um diese Ini­tiative zu verhindern.

Lassen wir das Moralargument einmal beiseite, hinter dem sich eine ähnliche Entideologisierung von Politik verbirgt wie hinter der stereotyp wiederholten Formel „Das Beste für Berlin“ – als ob es nicht um die soziale Gestaltung der Stadt ginge. Lassen wir auch die Ablehnung eines demokratischen Mehrheitsvotums für eine in der Verfassung vorgesehene Maßnahme beiseite. Den Verursachern des größten anzunehmenden Wohnungsproblems seit dem 2. Weltkrieg will Giffey nun gar noch Steuererleichterungen gewähren, um den Wohnungsbau anzukurbeln.

So hartnäckig, wie sich Giffey gegen ein ursozialdemokratisches Politikprojekt verwahrt, fragt man sich langsam: Von wem wird diese Frau bezahlt? Von der SPD? Den Steuerzahler:innen? Oder der Immobilienwirtschaft? Primus – dem „Immobilienentwickler im Luxussegment“, der die SPD mit einer Spende von 9.999 Euro bedachte, dankte sie mit den Worten: „Sie können mich bei Fragen oder Anregungen gerne direkt ansprechen“.

Auch nach der Wahl bleibt die Rhetorik auffällig: Kein Tag vergeht ohne neue Beispiele von Verdrängung und Entmietung – einer anderen Form von Enteignung. Doch der jetzt vorgestellte Koalitionsvertrag mit der CDU sorgt sich um die „schwierige und krisenhafte Rahmenbedingungen in der Bauwirtschaft“ – kein Wort über die existenzielle Gefährdung tausender Mieter:innen.

Quelle      :        TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben       —     29th plenary session of the 19th legislative period of the Abgeordnetenhauses of Berlin: Election of the Governing Mayor

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Unten        —     Karl Marx, The Prophet

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