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RENTENANGST

Ein Beitrag des „Salong“

Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 13. Februar 2022

Die Pandemie ist ein Trainingslager für zugewandtes Sprechen

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Nur zu Hälfte besetzt, darf auch eine Meinung haben

Von Marlene Colle, Sven Kämmerer und Kai Schächtele

Auch wenn es schon oft zu hören war, ist es dennoch wahr: Die Pandemie hat Dinge ins Rollen gebracht, ist eine Chance auf ein besseres Morgen. Unsere Gruppe ist der beste Beweis dafür. Die Pandemie war keine vier Wochen alt, als wir beschlossen, uns nicht auch mit dem parallel zum Virus grassierenden Wahnsinn anzustecken. Nicht nur auf der Straße und in den sozialen Medien liefen die Debatten heiß, sondern auch in unserem Freundeskreis, einer weit verzweigten und diversen Gruppe von etwa 150 Menschen, die sich über viele Jahre durch die Organisation von Festivals und kreativen Protestaktionen aufgebaut hatte.

Weil wir noch im Sommer vorher zusammen getanzt und gelacht hatten, verabredeten wir uns an einem Sonntagabend auf Zoom, um miteinander zu sprechen. Unsere Runde verselbstständigte sich schnell, weil schon an diesem ersten Abend alle spürten, wie angenehm es ist, zur Meinung eine Stimme zu hören und zum Weltbild ein Gesicht zu sehen. Wir nannten uns „Salong“, und den gibt es bis heute.

Im Frühjahr gehen wir in die 50. Runde. Wir treffen uns alle zwei Wochen über unsere Computerbildschirme, laden Gäste ein und tauschen uns aus. In der angeschlossenen Chatgruppe sind mittlerweile über 280 Menschen. Wir sind in keinem Fall immer derselben Meinung, aber uns eint die Überzeugung, dass man auch dann im Gespräch bleiben muss, wenn man das Telefon zum Abkühlen am liebsten in die Spree schmeißen würde. Der „Salong“ hat sich für uns zu einem Trainingslager für zugewandtes Sprechen entwickelt.

Die Pandemie verlangt uns viel ab: Durchhaltevermögen, Empathie, Gelassenheit. Andererseits erleben wir gerade eine Politisierung, wie sie Deutschland schon lange nicht mehr gesehen hat. Was für eine Chance! Auf den Demonstra­tio­nen von Impf­skep­ti­ke­r:in­nen und Geg­ne­r:in­nen der Coronapolitik, auf „Spaziergängen“ und in den Diskussionen im Freundes- und Fami­lien­kreis wird spürbar, wie sehr viele Menschen plötzlich den Mund zum politischen Landes- und Weltgeschehen aufmachen, die sich selbst noch bis vor zwei Jahren als unpolitisch beziehungsweise nicht politisch aktiv bezeichnet hätten. Menschen finden neue Freunde und Zusammenhalt, vielleicht sogar neuen Lebensinhalt. Diese Dynamik wertzuschätzen und im Dialog in konstruktive gesellschaftliche Mitgestaltung zu verwandeln, ist unser bescheidenes Weltverbesserungsvorhaben.

Anfang Dezember führte ein Beitrag in der taz in unserer Gruppe zu hitzigen Debatten. Für viele von uns treffend erklärte ein Autor unter der Überschrift „Der Stolz der Störer“, dass wir nach Jahrzehnten der Entsolidarisierung die Gesellschaft geworden sind, die wir uns verdient haben. Freiheit ist zum individuellen Statussymbol geworden. Verloren gegangen ist uns das Verständnis, dass Freiheit nur von Wert sein kann, wenn sie für die gesamte Gesellschaft gilt. Doch dabei ging er so weit, alle, die sich mit der Impfung schwer tun, als Ego­zen­tri­ke­r:in­nen und Globuli­trupps zu diffamieren, die sich hauptsächlich an ihrer neu gewonnenen Lautstärke ergötzen. Vielen von uns ging das zu weit. Wer auf diese Weise Menschen zum Nachdenken bringen will, braucht sich nicht zu wundern, dass niemand zu Kaffee und Kuchen kommt.

„Heute Abend nichts vor?“

Auch bei uns tun sich viele mit den Argumenten gegen die Impfung schwer. Wir trainieren jedoch regelmäßig in unserem „Salong“, wie man ruhig bleibt, wenn Texte zirkulieren, die die einen für gefährlich manipulative Halbwahrheiten halten und die anderen für eine mutige Haltung gegen den Mainstream. Weil wir wissen, dass hinter jedem Post ein Mensch steckt, dem wir beim nächsten Digitaltreffen wieder in die Augen blicken können wollen, sind böse Fouls ausgeschlossen. Und dann schwärmen wir in unsere Freundeskreise und Familien aus und wenden an, was wir geübt haben. Das geht nicht immer gut. Aber es ist immer besser, als sofort loszuschreien.

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Es steht viel auf dem Spiel. Die Demonstrationslust speist sich aus dem nachvollziehbaren Frust über die vielen nicht eingehaltenen Versprechungen für mehr Wohlstand und Sinn, aus dem Ärger über eine Gesellschaft, in der die Ungleichheit immer größer wird und Menschen in systemrelevanten Berufen so schlecht behandelt werden, dass sie in Scharen fliehen. Doch in dieser grundsätzlich unterstützenswerten Bewegung steckt ein kleiner, giftiger Splitter. Die starke Politisierung der Impfgegner:innen-Milieus geht oft einher mit einem rebellischen Stolz, der ohne Feindbild nicht auskommt. David gibt es nicht ohne Goliath, das „Wir hier unten“ nicht ohne „Die da oben“. Doch geht man diesem „Die da oben“ nicht sorgfältig auf den Grund, findet man sich wieder neben dem einen mit der Reichskriegsflagge und der anderen, die von „den Rothschilds“ raunt, und beide freuen sich darüber, eine weitere Tür aufgestoßen zu haben vom äußersten Rand zur Mitte der Gesellschaft.

Die Annahme, in einem versteckt autoritären Staatssystem permanent manipuliert und betrogen zu werden, führt zum Misstrauen gegen den Apparat als Ganzes. Damit stirbt jeder mögliche Austausch und die Suche nach Konsens. In Vergessenheit gerät, dass wir trotz kapitalistischer Verseuchung in einer Demokratie leben. Dass Teilhabe möglich ist, beweist nicht zuletzt die enorm hohe Anzahl neuer Bundestagsabgeordneter unter 35. Allein in der SPD sind es 50. Mit einer von ihnen haben wir uns vor zwei Wochen im „Salong“ unterhalten.

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben   —        séance au parlement allemand

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Unten     —     Protest von Verschwörungsgläubigen gegen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes während der Abstimmung im Bundestag am 21. März 2021. Die Kundegebung wurde wegen Missachtung der Hygieneregeln aufgelöst, woraufhin versucht wurde an das Brandenburg Tor zu gelangen und den Tiergarten zu besetzen.

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