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Digitalisierung in China

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 16. Mai 2019

Ein Code für alle Fälle

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Von Felix Lee

Ein Taxi bestellen, den Aufzug rufen, Strafzettel bezahlen: Wer in China lebt, kommt an der App WeChat nicht vorbei. Da wird selbst Facebook neidisch.

Die Kassiererin blickt genervt auf. „Kein Portemonnaie dabei?“, fragt sie. Verlegen wühle ich in meiner Jackentasche herum, fummele an meinem Smartphone. Apple-Pay funktioniert bei dieser Edeka-Filiale noch nicht. Das weiß ich. Aber gibt es nicht irgendeine andere App, mit der ich meinen Einkauf bezahlen kann? WhatsApp vielleicht? Die Kassiererin schaut mich verdutzt an.

Es ist bereits das zweite Mal, dass ich mit vollen Tüten vor einer Kasse in einem deutschen Supermarkt stehe und nicht bezahlen kann, weil ich mein Portemonnaie vergessen habe. Sieben Jahre habe ich in China gelebt. Seit einem Monat bin ich wieder in Berlin. Schwer gefallen ist mir die Rückkehr nicht. Die Luft in Berlin ist sehr viel besser, ich kann wieder unbedenklich das Wasser aus dem Hahn trinken und muss es nicht vorher abkochen und zigfach filtern. Die Straßen in Berlin sind nicht ganz so voll wie in Peking.

Andererseits vermisse ich die Maultauschen – „Drei Sorten“ mit Krabbe, Schwein und Shiitake-Pilzen – von meinem Lieblingsimbiss um die Ecke. Und auch an etwas anderes muss ich mich wieder gewöhnen: das Portemonnaie einstecken. Denn in China brauchte ich für den Alltag nur mein Smartphone. Und genau genommen auch nur eine App: WeChat.

Es ist noch nicht lange her, da haben viele auch in China noch über diese App gelästert. Sie sei ja bloß ein Abklatsch von WhatsApp, das in der Volksrepublik nur einen kurzen Auftritt hatte, dann von der Zensurbehörde allerdings blockiert wurde, weil es eben keine chinesische App war.

Optisch gleichen sich die beiden Apps: Auf beiden Logos sind weiße Sprechblasen zu sehen. Und so wie WhatsApp hatte auch WeChat als Kurznachrichtendienst begonnen. Doch WeChat, das auf Chinesisch Weixin heißt, ist längst mehr. Sehr viel mehr. Eine Art Super-App.

Mit dem Barcode die Äpfel bezahlen

Außer Nachrichten und Emojis verschicken, Online-Telefonie mit und ohne Videobild, lassen sich über WeChat auch Tickets im Hochgeschwindigkeitszug buchen, Flüge, Fahrtdienste, Kinokarten.

Das funktioniert so: Der Nutzer erhält einen eigenen Barcode. Mit der Kamera des Smartphones kann jeder andere WeChat-Nutzer diesen Barcode innerhalb weniger Sekunden lesen. Daraus ergeben sich viele weitere Funktionen: Der Barcode ersetzt die Visitenkarte, findet sich auf jeder Firmenwebseite.

Vor allem aber lässt sich an jeder Ecke damit bezahlen. Denn die App ist mit dem Bankkonto verbunden. Es genügt, den Barcode des Gegenübers zu scannen und die Summe wird abgebucht.

In einem Land wie China ist das besonders von Vorteil. Gerade auf dem Land haben die meisten Bauern und Händler keine teuren Kreditkartenlesegeräte für Visa, Mastercard oder Union Pay, dem chinesischen Pendant. Das Bargeld wiederum ist oft sehr dreckig, die Scheine angerissen, weil sie durch so viele Hände gingen.

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Mit WeChat muss selbst die Obsthändlerin an der Ecke bloß ihren Barcode zeigen, und schon hat der Kunde seine Äpfel bezahlt. Ein Smartphone hat in China inzwischen jeder.

Auch Bettler nutzen die App

Selbst die Bettlerin. In meiner Nachbarschaft saß immer an der gleichen Stelle eine behinderte Frau mit ihrem ebenfalls behinderten Sohn und bettelte um Geld. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, alles Kleingeld, was sich bei mir ansammelte, in ihren Korb zu werfen. Doch dann wollte sie die vielen Münzen und Scheine nicht mehr. Sie zeigte stattdessen auf einen Zettel vor ihr mit einem Barcode drauf. Sie bat mich, ihr das Geld künftig auf ihr Konto zu überweisen. Natürlich mittels WeChat.

Andere Netzwerke, die im Rest der Welt verbreitet sind, spielen in China keine Rolle. Facebook? Ist vielen zwar ein Begriff, in China aber gesperrt. Twitter? Ebenso. Und auch YouTube, Snapchat, Instagram sowie die meisten bekannten Google-Dienste sind nur schwer oder gar nicht abrufbar. WhatsApp funktioniert sporadisch – meistens aber nicht. Die übergroße Mehrheit stört das wenig. Schließlich haben sie ihre eigenen Dienste.

Mehr als eine Milliarde Chinesinnen und Chinesen nutzen WeChat inzwischen. Wegen der vielen Funktionen. Oft sind sie spielerischer, bedienerfreundlicher und meist auch schlicht besser in der Anwendung.

War China nicht eben noch ein Entwicklungsland? Jetzt ist es an den Europäern vorbei ins digitale Zeitalter gesprungen. Was ist passiert?

Die Great Firewall

Rückblick auf das Jahr 2009. Uigurische Aktivisten begehren gegen die Autoritäten auf. Uiguren sind eine muslimische Minderheit im Nordwesten der Volksrepublik. Seit Jahrzehnten fühlen sie sich unterdrückt. Und das werden sie auch. Ihren Protest haben sie über Facebook organisiert. Weil Facebook und Twitter sich zu der Zeit auf mehrfache Aufforderung der chinesischen Behörden weigerten, die Einträge zu löschen, ließ das chinesische Sicherheitsministerium kurzerhand die US-Dienste sperren. Die Great Firewall war geboren – Chinas staatliche Internetzensur.

Ganz abgeschnitten ist das Land damit aber nicht vom Rest der Netzwelt. Facebook und Co. sind mittels VPN-Tunnel erreichbar, wenn auch umständlich. Offiziell ist das verboten, verfolgt werden Vergehen aber bislang nicht.

Die kommunistische Führung hatte die Great Firewall in erster Linie aus politischen Gründen errichtet. Daraus ergab sich jedoch ein ökonomischer Nebeneffekt: Die chinesischen Gegenstücke zu den US-Größen – bis dahin auch in China nur von wenigen genutzt – konnten sich im Land rasch ausbreiten. Sie heißen Baidu, Alibaba, Tencent – und sie gehören nach Facebook, Google und Amazon heute zu den mächtigsten IT-Playern der Welt.

Doch die Zensur ist nicht der alleinige Grund für den Erfolg der chinesischen Pendants zu den international bekannten Diensten. Denn Tencent macht mit WeChat einiges anders als etwas Facebook mit WhatsApp.

Er ist 50 Jahre alt, trägt gerne Jeans und Kapuzenpullis und ist Erfinder von WeChat. Zhang Xiaolong ist eine Legende: Zhang, der sich im internationalen Kontext mit Vornamen auch Allen nennt, macht sich in der Öffentlichkeit eher rar. Der gelernte Programmierer gilt als schüchtern, introvertiert, und meidet große Veranstaltungen, ähnlich wie sein Boss, Tencent-Chef Pony Ma. Wenn sich Zhang einmal blicken lässt, dann hat er meist Wegweisendes zu verkünden.

Eine App als eigene Plattform

So auch vor anderthalb Jahren in der Wirtschaftsmetropole Guangzhou, wo WeChat seine Zentrale hat. 4.000 Softwareentwickler aus dem ganzen Land hatte er zu einer Entwicklerkonferenz in ein Kongresszentrum geladen.

Die Entwickler waren aber nicht gekommen, um an WeChat zu arbeiten. Es handelte sich um Mitarbeiter unabhängiger Firmen, die Mini-Programme machen, die innerhalb von WeChat laufen. Denn auch das ist eine Stärke von WeChat. Der Dienst ist nicht wie WhatsApp bloß ein Kurzmitteilungsdienst mit Telefonfunktion und ein paar weiteren Gadgets.

Wie Apple beim iPhone externen Programmierern eine Plattform geboten hat, damit sie sich bei der Entwicklung neuer Apps austoben können, geht Tencent bei WeChat nun ähnlich vor. Im Unterschied zu anderen Apps müssen diese Mini-Programme allerdings nicht extra heruntergeladen und installiert werden – sie sind innerhalb von WeChat sofort einsatzbereit. Das Programm hat sich binnen weniger Jahre auf diese Weise zu einer eigenen Plattform entwickelt.

Ohne kann man kaum mehr ein Taxi rufen in Peking. Vor einiger Zeit stehe ich an einer lauten Ausfallstraße irgendwo im Süden der Stadt und will weg. Noch vor kurzem wäre das kein Problem gewesen. Ich musste bloß meine Hand ausstrecken. Schon hätte ein Taxi gehalten. Doch das geht jetzt nicht mehr. Denn das funktioniert fast nur noch mit WeChat. Ein paar Mal tippen, dann über die Mikrofonfunktion sagen, wohin man möchte, schon gibt es eine Benachrichtigung, dass ein Taxifahrer mich gleich abholen wird.

Der Vorteil für den Taxifahrer: Er muss nicht mehr durch die verstopften Straßen gurken, bis er einen Kunden am Straßenrand findet, sondern kann den Kunden direkt abholen. Der Nachteil für Touristen aus dem Ausland: Ohne WeChat findet er kein Taxi mehr. Mir blieb also gar nichts übrig, mich mit meinem Account ebenfalls für diese Funktion anzumelden.

Über 600.000 Mini-Programme

Eine Plattform – das wollen heute alle sein. Auf Branchentreffen wie dem Web Summit in Lissabon oder auf der republica in Berlin ist das derzeit ein Modewort. Auch Jack Ma, der Gründer des E-Commerce-Giganten Alibaba, eine Art chinesisches Amazon, bezeichnet seinen Dienst als Plattform. Ein Unternehmen bietet den Rahmen an, in dem andere Geschäfte machen. Die machen die eigentliche Arbeit und sind kreativ. Aber die Plattform verdient mit.

Genau darin besteht die Leistung von WeChat: Eine App zur Verfügung zu stellen, die ohnehin jeder hat, und darauf Tausende weitere Anwendungen zu satteln, sodass sie zu einer Alles-App wird.

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Über 600.000 so genannte Mini-Programme lassen sich in das Ökosystem WeChat integrieren. Es ist nicht notwendig, immer wieder eine App herunterzuladen oder sich den Namen der Marke zu merken. Es reicht völlig aus, dem Barcode zu folgen, der auf Firmenwebsiten eingebaut, auf Broschüren, Visitenkarten und in Chat-Gruppen zu finden ist. Die meisten Mini-Programme kommen von Drittanbietern. Viele davon sind Spiele.

Allen Zhang lädt inzwischen regelmäßig zur Entwicklerkonferenz nach Guangzhou ein – und tritt dann auch an die Öffentlichkeit. Er wolle nicht zuletzt auch selbst erfahren, „welche neuen Trends die Programmierer aufspüren.“ Doch Zhang will mehr. Geht es nach ihm soll WeChat so ziemlich alle Internetangebote ersetzen, die der chinesische Bürger im Alltag benötigt.

In China finden das alle praktisch. Bei einer Recherche traf ich die fünfjährige Yu, die über ein Kuscheltier kommuniziert, in dem ein kleiner Computerchip eingebaut ist. So kann sie mit ihren Eltern sprechen.Von Yu bis zur Bettlerin – alle lieben WeChat.

Quelle        :          TAZ        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben       —          Photo taken at a press conference between Chatime and WeChat. On the far left and right are Malaysian celebrities and WeChat ambassadors, Lisa Surihani and Shaheizy Sam. Second to the left is Bryan Loo, CEO of Chatime Malaysia.

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2. von Oben        —     This is the SQ code of a WeChat Official Accounthttps://mp.weixin.qq.com/s/ghPwCVBuUAUYx9I96x0nbg

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Unten      —        Shenzhen Shekou district, Tencent head quarter

Author Dmitry Lysenko

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