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Die Wut kam später

Erstellt von Redaktion am Sonntag 1. August 2021

Als Schwarzes Kind auf dem Dorf

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Von Neneh Sowe

Sprüche im Bus, AfD-Plakate vor der Haustür: Als Schwarze Person auf dem Dorf aufzuwachsen ist nicht einfach. Aber es gibt auch gute Seiten.

Das typische deutsche Dorfkind läuft barfuß durch Wald und Wiese. Das typische deutsche Dorfkind trägt kurze Hosen und friert als letztes – auch im Winter. Es klettert liebend gern auf Bäume, sammelt Steine und andere Dinge, kennt sich super mit Tieren aus und trinkt in Jugendjahren auf Partys alle anderen unter den Tisch. Und das typische deutsche Dorfkind ist natürlich weiß.

Auf mich trifft eigentlich nur eines dieser Klischees zu: Ich würde behaupten, dass ich mich gut mit Tieren und Pflanzen auskenne. Ansonsten bin ich kein typisches deutsches Dorfkind. Und ich bin Schwarz.

Vielleicht überrascht es Sie, dass ich Schwarz großschreibe. Das tue ich deshalb, weil Schwarz in diesem Zusammenhang ein politischer Begriff ist, der nicht auf den Hautton abhebt, sondern auf die Diskriminierungserfahrungen, die Schwarze Menschen erleben und erlebt haben.

Laut deutschland.de leben 15 Prozent der Menschen hierzulande in Orten unter 5.000 Einwohner*innen. Erhebungen dazu, wie viele Schwarze Personen darunter sind, gibt es nicht. Das Statistische Bundesamt zählte 2018 über 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. 12,7 Prozent von ihnen wohnten laut Bundeszentrale für politische Bildung in ländlichen Regionen.

Zu „Menschen mit Migrationshintergrund“ zählen auch die, die einen deutschen Pass und eine Migrationsgeschichte haben. Wie meine Familie und ich.

„Ach krass, du kommst vom Dorf? Wie war es da so?“, werde ich oft von Leuten aus der Stadt gefragt, mit denen ich die Diskriminierungserfahrung teile, nicht weiß zu sein. Und ein kurzes Zögern meinerseits wird auch schon als negative Reaktion gewertet. Trotzdem habe ich auf diese Frage bis heute keine Antwort.

Denn insbesondere die letzten beiden Sommer in der Coronapandemie haben mir vor Augen geführt, wie schön und wertvoll meine Kindheit auf dem Dorf war – weil ich gerne dorthin zurückkehre. Dabei spreche ich natürlich nicht für jede nichtweiße Person, die in einem Dorf aufwächst. Ich hatte das Glück, in einem kleinen Ort groß zu werden, in dem die Menschen zum größten Teil nett und freundlich zu mir waren. Doch gibt es eben auch die anderen Erfahrungen; je nachdem, in welchem Umfeld und in welcher Region man groß geworden ist.

Bisher gibt es noch keine Studien, die die Erfahrungen und Gefahren erfassen, denen Schwarze Menschen und Menschen of Color ausgesetzt sind, die auf dem Dorf aufwachsen. Doch dass sich diese Erfahrungen von denen der weißen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, das weiß ich – aus meiner eigenen Kindheit, aus Gesprächen mit meinen Geschwistern und aus Gesprächen mit Miri, Kofi, Virginnia, Josephine und Stephanie, die in verschiedenen ländlichen Regionen Deutschlands groß geworden sind und die ich bei der Recherche zu diesem Artikel befragt habe. Zu ihrem persönlichen Schutz nenne ich nur ihre Vornamen und benenne auch nicht die Dörfer, in denen sie ihre Kindheit verbracht haben.

Hier will ich unsere Geschichten erzählen, die sich weit entfernt von belebten Stadtzentren zugetragen haben. Wie ist es also, als Schwarzes Kind in einem kleinen Dorf in Deutschland groß zu werden?

Meine Familie zog in den späten 1990er Jahren aufs Land. Meine Familie, das sind mein Schwarzer Vater, meine weiße Mutter, meine ältere Schwester und meine beiden älteren Brüder. Mein Vater war damals Schichtleiter in einer Getränkefirma, die ihren Standort gewechselt hatte. Nach zwei Jahren, in denen mein Vater pendelte, entschieden sich meine Eltern, der Firma hinterherzuziehen.

Also ging es aus der Millionenstadt Berlin in ein niedersächsisches Dorf mit 600 Ein­woh­ne­r*in­nen zwischen Wolfsburg und Hannover. Aber auch aus einer Vierzimmerwohnung in ein Haus mit großem Hof und Garten. Ein Jahr lebte meine Familie schon dort, dann wurden meine Zwillingsschwester und ich geboren.

Rodenberger Allee 41, 1, Bad Nenndorf, Landkreis Schaumburg.jpg

Wir wuchsen in einem Dorf auf, durch das man in weniger als zehn Minuten gehen kann. Drumherum alles grün, viele Felder, auf denen Raps, Mais, Weizen oder Gerste wachsen, ein paar Wiesen, auf denen Pferde grasen oder Gänse watscheln, dazu viel Wald. Auch das Dorf selbst ist nicht gerade hässlich, wenn man sich auf die Fachwerkhäuser konzentriert und die grau verputzten Fassaden außer Acht lässt. Und das Beste ist, dass mittendurch ein kleiner Bach fließt, in dem wir den ganzen Sommer über in unseren Gummistiefeln planschen und kleine Fische fangen konnten.

Der Bus fuhr nur stündlich

Nicht so schön fanden wir hingegen, dass der Bus nur stündlich fuhr – obwohl wir uns eigentlich nicht beklagen konnten, immerhin fuhr er damit deutlich häufiger als in den Nachbardörfern. Dafür findet sich bei uns weit und breit kein Supermarkt, sodass meine Zwillingsschwester, meine beste Freundin und ich die Tankstelle ansteuern mussten, wenn wir Hubba-Bubba-Kaugummis und Lakritzlollis wollten. Zum Glück gab es damals schon den Tennisplatz, wo ich die Massen an Zucker in Energie umsetzen konnte, außerdem Fußballturniere, ein kleines Festival, Freibadpartys, Dorf- und Schützenfeste – irgendwas war immer los.

Auf dem Dorf hatten wir mehrere Banden: In der Grundschule waren wir „Die Wilden Kerle“. Wir hatten sogar Ausweise, auf denen die Namen der Charaktere standen. Ich war Fabi, „der schnellste Rechtsaußen der Welt“. Zwei Jahre später habe ich mich mit meiner Zwillingsschwester und unserer besten Freundin zu den „Wilden Hühnern“ ­zusammengeschlossen. Mit Bandenbuch! Während die anderen Dorf­kinder in größeren Gruppen zusammen im Garten spielten oder ins Freibad fuhren, blieben wir zu dritt und zogen auf unseren Fahrrädern durch den Ort.

Da hatte meine Entfremdung von dem Dorf schon begonnen. Sie passierte schleichend und lässt sich am besten am Musikgeschmack festmachen: Ich weiß noch, wie irritierend ich es fand, wenn auf den Dorffesten Mickie Krauses „Geh mal Bier hol’n“ gespielt wurde. Während die meisten anderen Kinder solche Ballermann-Hits leidenschaftlich mitsingen konnten, ging ich lieber vor die Tür und schnappte frische Luft.

Bei uns zu Hause wurde andere Musik gehört. In Videos aus unserer Kindheit sieht man meine Schwester und mich mit drei oder vier Jahren zu R&B-Songs von Whitney Houston, Usher und D’Angelo tanzen. Diese Künst­le­r*in­nen prägten mich, und so kommt es auch nicht von ungefähr, dass mein erstes Konzert nicht von Helene Fischer war, sondern von Alicia Keys. Durch ihre Musik lernte ich auch Klavier spielen, „If I Ain’t Got You“ war der erste Song, den ich singen und wozu ich mich selbst begleiten konnte.

Mit zehn Jahren fing ich außerdem an, Geige zu spielen. Erst unfreiwillig, dann mit immer mehr Begeisterung. Weil meine Mutter im Dorfkindergarten arbeitete, war sie gut vernetzt, sie hatte Kontakt zum Bürgermeister, und so kam es, dass meine Zwillingsschwester und ich öfters als Streichduo für Se­nio­r*in­nen­fei­ern engagiert wurden. Zwei Schwarze Kinder, die für eine Gruppe alter weißer Menschen Musik machen: Das mag aus heutiger Sicht wie eine exotisierende Zurschaustellung wirken – doch das war es bei uns nicht. Als viel unangenehmer sind mir die Auftritte beim Musikwettbewerb „Jugend musiziert“ in Erinnerung geblieben. Der machte seinem Ruf, eine klassische weiße und elitäre Musikszene zu repräsentieren, alle Ehre. Wir waren die einzigen Schwarzen Kinder dort und konnten die Blicke der anderen Teil­neh­me­r*in­nen auf unseren Körpern förmlich spüren.

Bis auf die Sache mit der Musik war das Dorfleben für mich und meine Geschwister als akzentfrei sprechende light-skinned Personen, also Schwarze mit hellerem Hautton, aber eigentlich ziemlich gut. Andere hatten da weniger Glück, wie ich aus dem Gespräch mit Miri erfahre.

Miri wuchs, ebenfalls in den späten 1990er Jahren, in einem Dorf mit 800 Ein­woh­ne­r*in­nen in Thüringen auf. Sie hat eine Schwarze Mutter, einen weißen Vater und einen jüngeren Bruder.

Im Dorf zog sich die rechte politische Gesinnung deutlich durch die Gesellschaft und äußerte sich auch ihr gegenüber, erzählt sie mir am Telefon. Zum Beispiel, als ihr kleiner Bruder aus dem Schulbus stieg und vor der Schule von Nazikindern in den Schwitzkasten genommen wurde, weil seine Schwester – im Gegensatz zu ihm – „nicht deutsch“ aussieht. Es zeigte sich auch in der Schule: Ein Mitschüler und Kind von NPD-Wähler*innen beleidigte sie über Jahre hinweg im Unterricht. „Ich bin immer ruhig geblieben, aber als er das N-Wort zu mir sagte, da musste der Frust raus und ich habe zurückgeschrien“, sagt Miri. Die Leh­re­r*in­nen machten nichts, und am Ende bekam sie Ärger und musste zur Schulleitung. Für ihren Mitschüler gab es keine Konsequenzen.

Sie kann es nicht ignorieren

Miris Mutter, die in den 1970er Jahren ebenfalls auf dem Dorf aufwuchs, sagte ihr stets: „Du musst es ignorieren, irgendwann hört es auf.“ Für die Mutter hat das vielleicht funktioniert, für deren Schwester, Miris Tante, allerdings nicht. Sie kam nicht mit den rassistischen Äußerungen zurecht und verließ das Dorf, in dem sie groß wurde, sobald es ging. Sie konnte die rassistischen Erfahrungen nicht ignorieren.

Denn es hörte nicht einfach auf. Damals nicht und auch nicht später, wie Miri erzählt. Wie sollte sie auch darüber hinwegsehen, dass ihre weißen Kolleginnen und Kollegen vor ihrer geplanten Reise nach Australien zu ihr sagten: „Wenn das so weitergeht mit den ganzen Flüchtlingen, dann kannst du gleich in Australien bleiben.“ Das war 2015, als vermehrt Menschen nach Deutschland geflüchtet sind und sich der Hass auf die, die nicht der typischen Vorstellung vom „Deutschsein“ entsprachen, auch in Miris Umfeld verstärkte.

Auch Kofi fühlte sich während seiner Kindheit und Jugend unwohl, wie er mir erzählt. Er wuchs in einem Dorf in Brandenburg auf, das in den 2000er Jahren Schwerpunkt der rechten Szene war. Auch wenn er damit glücklicherweise selten direkt konfrontiert wurde, beeinflusste allein das Wissen darum sein Lebensgefühl.

Josi hingegen empfindet das Dorf, in dem sie aufwuchs, als einen Ort, an den sie auch heute gerne zurückkommt. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schule, die sie als einen Ort des Unwohlseins beschreibt, der von rassistischen Sichtweisen geprägt war.

Eines Tages entdeckten wir, wie jemand provokativ ein AfD-Wahlplakat an der Laterne direkt vor unserem Grundstück befestigt hatte

In Josis Schilderungen finde ich mich wieder. Denn sobald ich mich aus der Geborgenheit meines Dorfes hinausbewegte, wurde ich mit rassistischen Übergriffen konfrontiert. Das fing schon mit der Busfahrt zur Schule an, wo immer mindestens zwei Schü­le­r*in­nen meine Zwillingsschwester und mich beleidigten. Entweder bewarfen sie uns mit Murmeln oder flüsterten das N-Wort und andere rassistische Beleidigungen. Ich trainierte mir anfangs an, alles zu ignorieren, so zu tun, als hörte ich es nicht. Aber in mir brodelte es. Und das Brodeln wurde immer lauter. Kochte hoch, flachte ab und nahm wieder zu.

Weidemannscher Hof Einfahrt 2017.jpg

Witze über meinen Namen führten so weit, dass meine Schwester vorschlug, einen anderen Bus zu nehmen, um diese Kinder zu meiden. Irgendwann konnte ich die Wut nicht mehr unterdrücken und wollte sie rauslassen. Ich wollte mich wehren und warf die Murmeln zurück. Es fühlte sich gut an, nicht alles herunterzuschlucken, es war erleichternd: wie eine Last, die abfiel. Danach warfen sie nicht mehr mit Murmeln und ließen uns in Ruhe.

Doch selbst in meinem Dorf änderte sich die Stimmung. Eines Tages entdeckten wir, wie jemand ein AfD-Wahlplakat an die Laterne direkt vor unserem Grundstück gehängt hatte. Es folgten viele weitere. Meine Zwillingsschwester und ich entfernten sie ein ums andere Mal, um unserer Wut Luft zu machen, auch wenn es nur eine kleine Aktion war. Meine Familie fasste es zwar als Provokation auf, wir machten uns aber eher darüber lustig, als uns Sorgen zu machen. Trotzdem gab es mir ein Gefühl von Unwohlsein: Durch die Plakate war die Bedrohung näher gerückt und sichtbarer geworden.

Wut verspürte ich auch, als mein Lehrer im Sportleistungskurs beim Thema Doping die kenianischen Lang­stre­cken­läu­fe­r*in­nen als Beispiel nahm und sagte: „Die ernähren sich da unten auch nicht nur von Reis und Wasser“ – mit einem Lächeln im Gesicht, weil er schon wusste, dass ein paar meiner Mit­schü­le­r*in­nen über seine Bemerkung lachen würden. Denn, ja klar, in „Afrika“ gibt es nur Reis und Wasser und sonst nichts – da müssen die „Afrikaner*innen“ ja irgendetwas Leistungssteigerndes genommen haben, um gute Läu­fe­r*in­nen zu sein.

Die Wut orchestrieren

Quelle         :           TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Foto einer Großfamilie aus Kapstadt, Kimberley und Pretoria (Südafrika)

Author Henry M. Trotter at English Wikipedia     –    Transferred from en.wikipedia to Commons.
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2.) von Oben      ––     das Haus Rodenberger Allee 41 in Bad Nenndorf

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