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Die verpasste Integration

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 7. September 2017

Merkels vergessene Schwestern

File:Pegida Demonstration in Dresden am 05.01.2015 (16084446507).jpg

Von Anja Maier

Frust Im Westen stößt die Wut der Ostdeutschen auf Unverständnis. Die sächsische SPD-Frau Petra Köpping hört Wendeverlierern zu. Die erzählen von der Arroganz des Westens und ganz realer Benachteiligung – auch heute noch.

Junge Männer halten pfeifend rote Karten hoch. Gesetzte Herren im hellen Kurzarmhemd brüllen: „Hau ab!“ Und 13 Männer und Frauen, so viele wie „MERKELMUSSWEG“ Buchstaben hat, recken ihre selbst gemalten Pappschilder in die Bitterfelder Sommerluft. Angela Merkel macht Wahlkampf in Sachsen-Anhalt, stoisch hält sie vorn auf der Bühne ihre Rede, manche Wörter muss sie wiederholen, um im wütenden Lärm, der von den Rändern heranschwappt, überhaupt verstanden zu werden. Denn von dort, von hinten, schreien Merkels eigene Leute hasserfüllt gegen sie an: Sie, die „Volksverräterin“, möge, verdammt noch mal, verschwinden aus ihrer Stadt.

Was ist hier eigentlich los? Warum sind die Ostdeutschen so wütend in diesem Wahljahr? Und wieso wissen sie die Freiheit des Westens nicht zu schätzen, sondern tun sich vor allem leid? Woher rührt dieses Gefühl der Unverbundenheit mit diesem Land und dessen politischer Klasse? Einem Land, das sie wiederum bereit sind, misstrauisch und notfalls mit Gewalt gegen alles Neue, Fremde zu verteidigen?

Ein Stachel der Demütigung

In Dresden sitzt zwei Tage nach Merkels Wahlkampftrip nach Sachsen-Anhalt Petra Köpping auf der Dachterrasse des Landtagsrestaurants. Vorn fließt die Elbe, links prangt die herzzerreißend schöne Silhouette der Dresdner Altstadt, über der Kuppel der wiederaufgebauten Frauenkirche spannt sich ein himmlisches Blau. Die sächsische Staatsministerin für Integration muss gleich wieder zurück ins Plenum, sie hat eine Dreiviertelstunde Zeit für einen Eiskaffee und Antworten auf Fragen nach ihren „Ossis“.

Über die spricht die SPD-Politikerin in letzter Zeit viel und öffentlich. Im Kabinett ist sie seit drei Jahren zuständig für Gleichstellung, Integration von Zuwanderern und Demokratieförderung. Als 2014 immer montags Pegida in Dresden aufmarschierte, ist sie vom Landtag rüber zu den Demonstranten gegangen, hat sich an den Rand gestellt und sie angesprochen: „Kommt doch mal her, redet doch mal mit mir.“ Sie habe da gemerkt, erinnert sie sich, dass „die Reden, die da gehalten wurden, und die persönlichen Probleme weit auseinandergingen“. Vieles, wenn nicht das meiste habe mit Ängsten zu tun. Das Unbekannte, die Flüchtlinge, bedeuten für Ostdeutsche auch: Es ändert sich etwas. Schon wieder.

Datei:Angela Merkel 10.jpg

Dem Osten, sagt Köpping, sei ja nach der Wende eine ganze Generation abhanden gekommen, die gut Ausgebildeten, allen voran die Frauen, seien weggegangen. „Da schreien auch Männer, die gern eine Familie hätten und den kleinen Frieden zu Hause. Das sind oft Leute, die bis heute nicht in der neuen Zeit angekommen sind.“

Im letzten Herbst hat Petra Köpping am Reformationstag eine aufsehenerregende Rede gehalten. Sie hat darin zu ergründen versucht, warum die Rechtspopulisten im Osten stärker sind als im Westen. Ihr Fazit: Solange das gesamte Deutschland sich nicht respektvoll mit den Umbrüchen der Nachwendezeit auseinandersetzt, wird es keinen gesellschaftlichen Frieden geben. Und Auseinandersetzung – das hieße nicht nur zuhören, sondern auch, Fehler wiedergutzumachen, Unrecht zu heilen. Durch die Wiedervereinigung, vor allem durch den eilig zusammengeschriebenen Einigungsvertrag, sei vieles falsch gelaufen und nie korrigiert oder zumindest eingeräumt worden.

„Es gibt unzählige Beispiele, wie damals Menschen über den Tisch gezogen wurden, weil sie – oftmals zutiefst blauäugig – die neuen Regeln nicht überblicken konnten“, hat Köpping in ihrer Rede zum Reformationstag ausgeführt. Da sei ein „Stachel der Demütigung“. Viele Leute hätten sich damals gefragt: Und das soll Demokratie sein?

Schuld am Frust sei eigentlich nicht die Demokratie als staatliches Prinzip gewesen. Vielmehr sei die Wiedervereinigung in eine historische Phase gefallen, in der westdeutsche Eliten im Osten ihren lang gehegten neoliberalen Traum verwirklicht hätten. Vor allem Sachsen mit dem CDU-Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf an der Spitze sei zum „Versuchsfeld“ gemacht worden.

„Die Ostdeutschen waren auf diesen Kapitalismus null vorbereitet. So sei er halt, ,der Westen‘, dachten viele. Konservative Hardliner aus Bayern und Baden-Württemberg frohlockten hingegen, endlich ohne Gewerkschaften, gesellschaftliche Beteiligung und ,Sozial-Klimbim‘ ihre nationalliberale Agenda durchzusetzen“ sagte Köpping in der Rede. Diese Politik habe dann auch noch lange Jahre satte demokratische Mehrheiten bekommen.

Petra Köpping reist durchs Land. Sie trifft sich mit Wendeverlierern, erzählt von Brüchen, die sie, Jahrgang 1958, selbst erfahren hat. Als Bürgermeisterin einer kleinen Gemeinde in Sachsen musste sie dort zum Beispiel nach der Wende der „feierlichen Sprengung“ der Bergbaugeräte beiwohnen. „Ich sah die Bergleute neben mir“, schildert sie diesen Tag, „denen standen die Tränen in den Augen.“ Es seien Tränen der Trauer und der Perspektivlosigkeit gewesen. Viele hätten das nie verarbeitet; „es wurde keine Trauerarbeit geleistet“.

Stattdessen ziehe sich bis heute die Erzählung von Sinnlosigkeit, Chaos und Demütigung durch die Familien, die viele Ostdeutsche mit der Wiedervereinigung verbinden. „Junge Leute hören heute von ihren Eltern: Das wäre mir zu DDR-Zeiten nicht passiert“, sagt Petra Köpping. „Wenn wir das nicht aufarbeiten, wird vergessen, dass die DDR eine Diktatur war.“

Sie macht nun geduldig aufmerksam auf rechtliche Benachteiligungen, die durch den Einigungsvertrag entstanden sind. Und sucht Verbündete in der Politik, um sie wiedergutzumachen. Insgesamt 18 Berufsgruppen kämpfen bis heute für Renten, die durch Fehler im Einigungsvertrag zu gering ausfallen. Lehrer, Bergleute, Tänzer – alles Wählerinnen und Wähler, samt ihren Familien, die meinen, diesem Land weniger als gar nichts zu schulden. Ihr weitererzählter Frust, das Jahrzehnte andauernde Nichtgehörtwerden, gilt als einer der Gründe, warum Pegida oder die AfD im Osten so stark werden konnten.

Jeder könnte das wissen, wenn es denn interessieren würde. Aber Jammerossis, quengelige Leute mit seltsamen Dialekten – die werden im Zweifel lieber ausgelacht. Und der Ossi-Versteherin Petra Köpping werden immer dieselben Fragen gestellt. Was nicht stimmt mit ihren Leuten. Warum die nicht zufrieden sind mit den topsanierten Städten und den schicken Straßen. Was die auszusetzen haben an der Demokratie – die hätten sie doch schließlich gewollt 1989.

File:Karikatur Mindestlohn Merkel.jpg

Es sind Fragen von Leuten, die die Wiedervereinigung – Petra Köpping sagt lieber friedliche Revolution – bis heute als Tauschhandel sehen. Gesinnung gegen Wohlstand. Als eine Art verspäteten, sauteuren Marshallplan für den Osten. Unsere Steuergelder gegen eure Anpassung, so in etwa. Aber heute, im Wahljahr 2017, sind diese Leute weder dankbar noch zufrieden, im Gegenteil. Sie spucken auf den Boden, wenn ihnen auf der Straße Flüchtlinge begegnen. Sie bilden Bürgerwehren, wählen AfD und marschieren bei Pegida-Demos mit. Sie sind misstrauisch gegen alles Staatliche, gegen Medien und Politiker. Gegen die ganz besonders.

In Dresden halten sie Galgen für Sigmar „Pack“ Gabriel und „Mutti“ Angela Merkel in den Himmel. Der ihnen so verhasste Rechtsstaat lässt sie gewähren. Die Staatsanwaltschaft Dresden konnte in der selbst gebastelten Tötungsfantasie keine „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Gewalttaten“ erkennen. Wenn also Angela Merkel im Wahlkampf in ihre Stadt kommt, gehen sie da hin und schreien ihr auf perfekt sanierten Marktplätzen ihren Hass ins Gesicht. Freie Meinungsäußerung, eh klar.

Warum denn dieser Merkel-Hass, Frau Köpping?

File:Karikatur Merkel Politikerdiäten.jpg

Quelle    :    TAZ     >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen  :

Pegida  in Dresden —  Transparente auf Pegida-Demonstration 5. Januar 2015.
Links: „Gaspadin Putin! hilf uns, rette uns …“. Mitte: „Deutsches Volk: Stopp dem Volkstod und Heimatverrat …“ Rechts: „Deutsche Familien fördern […] Müttergehalt“ (abgeklebtes NPD-Transparent)

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Merkel mit 3 d Brille —  Angela Merkel anlässlich der Eröffnung des Materials Research Center der Merck KGaA in Darmstadt.

Fotograf: Armin Kübelbeck, CC-BY-SA, Wikimedia Commons
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Der Schrei (1910)   —-   Edvard MunchGoogle Art Project

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Ein Sack voll Euro  —   Grafik

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