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Die Verhinderungswaffe

Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 8. September 2022

Der Datenschutz: Der Fortschritt und seine Feinde

Bild des Jahres 2011: Blick auf den Bondhus-See in Norwegen.

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Dem real existierenden Datenschutz geht es leider häufiger ums Prinzip als um das digitale Leben.

Datenschutz. Eine gute Idee, ein wichtiges Konzept und über Bande durch die »informationelle Selbstbestimmung« seit einem Verfassungsgerichtsurteil von 1983 auch grundgesetzlich geschützt . Irgendwie. Und natürlich ist Datenschutz in Zeiten von digital angetriebenen Überwachungsmöglichkeiten essenziell, bestimmte persönliche Daten gehen den Staat nichts an und alle anderen auch nicht. Leider gibt es ein Aber. Denn die Idee Datenschutz unterscheidet sich erheblich von dem, womit man in der Netz- und IT-Welt fast täglich konfrontiert wird.

In Deutschland herrscht nicht ein menschenzugewandter, aufgeklärter, progressiver Datenschutz vor, sondern ein real existierender Datenschutz. Natürlich gibt es eine Vielzahl von Leuten, die einen modernen, aufgeklärten Datenschutz propagieren, vielleicht sind sie sogar in der Mehrheit. Es wäre aber eine sehr leise Mehrheit, denn der Diskurs und damit auch die öffentliche Meinung wird geprägt von so lauten wie oft fundamentalistischen Neinsagern. Real existierender Datenschutz basiert nicht auf der sinnvollen Übertragung von Grundwerten ins digitale 21. Jahrhundert – sondern auf einem veralteten, dysfunktionalen Bild der digitalen Gesellschaft und einer Reihe von längst nicht mehr haltbaren Erzählungen.

Damit beginnt das Problem, denn Datenschutz und die dazugehörige Gesetzgebung ist so oft umständlich und im Detail unklar, dass man auf Vermutungen und Erzählungen zurückgreift, selbst in informierten Kreisen. Konkret bedeutet das, dass ein und derselbe Sachverhalt von unterschiedlichen Fachleuten derart unterschiedlich interpretiert wird, dass man oft nicht einmal ein Mindestmaß an Gewissheit erreichen kann. Dieses im digitalwirtschaftlichen Alltag lähmende Manko ist entgegen dem Mantra vieler Datenschützer durch die DSGVO vielleicht besser, aber noch lange nicht gut geworden. Wie man zum Beispiel am fortlaufenden deutschen E-Rezept-Fiasko  erkennen kann.

Staatliche und halbstaatliche IT-Projekte sind in Deutschland ohnehin eine Abfolge von 50 Shades of Scheitern. So sollte das E-Rezept schon mehrfach längst eingeführt worden sein, die dahinterstehenden Technologien sind auch wirklich kein magisches Hexenwerk digitaler Aliens. E-Rezept-Konzepte werden in Europa angewendet in Albanien, Kroatien, Dänemark, Estland, Finnland, Island, Lettland, Litauen, Tschechien, Griechenland, Malta, Montenegro, Norwegen, Portugal, Rumänien, Slowenien, Schweden, Spanien, der Ukraine, den Niederlanden, Frankreich, Italien, Russland und im Vereinigten Königreich. Außerhalb von Europa in China, Indien, Südafrika, Bangladesch, Ägypten, Malaysia, Australien, Ruanda, den Philippinen, Brasilien, Israel, Thailand, Kanada, Ecuador, Kenia, Bolivien, Panama, Costa Rica, Paraguay und jeder Menge anderer Länder.

Hier lohnt es sich ausnahmsweise mal nicht, genauer hinzuschauen, schon weil man dann völlig verzweifelt wäre und alles anzünden wollen würde. Aber die erste sinnvolle Reaktion auf diese Absage ist ja komplett inhalteunabhängig, denn sie lautet zwingend: Moment – hätte man das nicht vorher wissen können? Ja, hätte man sogar müssen. Aber hier zeigt sich das ganze Elend des real existierenden Datenschutzes: Er ist durch eine Vielzahl von Absurditäten, Inkonsistenzen und Fortschrittsfeindlichkeiten zu einer intransparenten Verhinderungswaffe geworden.

Datenschützer selbst sind an diesem Zustand aber nicht völlig unschuldig. Beim Datenschutz gibt es wie bei ungefähr allem anderen verschiedene Schulen und Strömungen. Einige darunter haben über Jahrzehnte sehr laut und sehr unnachgiebig und sehr schwer nachvollziehbar gegen fast jede Form von Datengebrauch gewettert. So hat sich ein selbstverstärkendes Bild verfestigt: Wer in der Öffentlichkeit in erster Linie mit Warnungen, Mahnungen und Verboten präsent ist und dann auch noch schwer nachvollziehbar oder lebensfern kommuniziert, trägt eine gehörige Mitverantwortung für das Gefühl in so vielen Köpfen: Datenschutz nervt und verhindert.
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Die öffentlich empfundene Unnachgiebigkeit des Datenschutzes liegt vor allem an einer in Deutschland sehr einflussreichen Strömung des Datenschutzes, die im deutschen Mekka des Datenschutzes, Schleswig-Holstein, geprägt wurde. Sie beruft sich auf sehr unerquickliche Weise auf das oben angeführte Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Das Gericht hat damals maßgeblich mit dem Artikel 1 des Grundgesetzes argumentiert, also: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Das liegt nahe, aber hat heute in der harten Ausdeutung der radikalen Datenschutzfraktion die Folge, dass es den Interessenausgleich erschwert oder verunmöglicht. Wenn Datenschutz praktisch gleich Würde ist, dann ist jede Verhandlung aussichtslos oder sogar frevelhaft, weil die Würde ja unverhandelbar ist. Das ist der Kern meiner Kritik am real existierenden Datenschutz: Es geht zu selten um praktische Abwägung von Nutzen und Kosten und viel zu oft um vorgeblich unverhandelbare Absolutheiten.

Daraus entstehen groteske Situationen. Während der Pandemie wollte im Sommer 2021 der hessische Landesdatenschutzbeauftragte den Schulen Videokonferenzsysteme wie Microsoft Teams verbieten und begründete dies damit, dass im neuen Schuljahr ein landeseigenes Videokonferenzsystem zur Verfügung stehen würde . Doch die Landesregierung sagte die Einführung dieses Systems kurzfristig wieder ab, sodass die Schulen völlig umsonst vor den Kopf gestoßen wurden. Datenschilda.

Quelle        :        Spiegel-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Bild des Jahres 2011: Blick auf den Bondhus-See in Norwegen.

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