Die Totenglocken der USA
Erstellt von DL-Redaktion am Freitag 14. Januar 2022
Trumps große Lüge und der Durchmarsch der religiösen Rechten
Es handelte sich hierbei nicht um Zufall, sondern um eine seit langem geschmiedete Allianz. Der christliche Nationalismus, den man am 6. Januar beobachten konnte, tauchte nicht erst mit Trump auf der politischen Bühne auf. Bei näherem Hinsehen war es auch wenig überraschend, dass Rassismus das verbindende Element zwischen der religiösen Rechten und White Supremacists darstellte: Schon während der Anfänge der organisierten modernen religiösen Rechten in den 1960er Jahren war Rassismus die treibende Kraft.
Die Spur des christlichen Nationalismus zieht sich durch die amerikanische Geschichte. So politisch einflussreich wie heute konnte er allerdings nur durch eine straff organisierte religiöse Rechte werden. Unter dem Begriff versammelt sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Gruppierungen. Sie erkennen die Trennung von Kirche und Staat nicht an, sondern träumen davon, Amerika für Gott „zurückzugewinnen“, die christliche und amerikanische Identität sind für sie untrennbar miteinander verbunden. Anhänger der religiösen Rechten streben eine Gesellschaftsordnung an, in der Gott nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in politischen Institutionen und Gesetzen präsent ist. Sie wollen ein Amerika, in dem konservative Christen alle säkularen Institutionen des Landes besetzen und diese nach ihrem Verständnis im Sinne Gottes leiten.[1] Es geht um die Durchdringung der Gesellschaft in all ihren Bereichen, sei es in der Politik oder im Kulturbetrieb, in der Justiz, im Bildungssystem oder in den Medien. Um ihr Ziel einer durch und durch christlichen Nation zu erreichen, baute die religiöse Rechte in den letzten Jahrzehnten ein hocheffizientes Netzwerk aus Medienimperien, Kirchen, Organisationen und Lobbygruppen auf, dessen erfolgreiche Wählermobilisierung ihnen langsam, aber sicher den Weg ins Machtzentrum von Washington ebnete.
Wer die aktuelle politische Situation in den USA verstehen will, muss die Denkmechanismen der religiösen Rechten, das Knäuel aus Kulturkampf, Ideologie, Apokalypse-Sehnsucht, Verschwörungsdenken und Macht entwirren. Diese Verbindungen haben dazu geführt, dass es ein Kandidat wie Trump ins Weiße Haus geschafft hat – und dass auch nach dessen Amtszeit eine straff organisierte Bewegung die demokratischen Grundprinzipien der Vereinigten Staaten systematisch untergräbt. Trump war nicht das Ende. Längst besitzen die religiösen Hardliner eine landesweite politische Infrastruktur, die eingespielt ist und schnell reagieren kann. Bereits seit mehreren Jahrzehnten ist die religiöse Rechte zu einem Powerplayer der amerikanischen Politik geworden, dessen hartnäckige Beständigkeit selbst amerikanische Polit-Profis überrascht zu haben scheint. Immer wieder veröffentlichten Medien Nachrufe auf die religiöse Rechte. Jedes Mal lagen sie falsch.
Der christliche Nationalismus wie auch die religiöse Rechte in den USA sind zutiefst politisch, mit realen Machtambitionen und dank Großspendern mit scheinbar unerschöpflichen finanziellen Mitteln gesegnet. Die moderne religiöse Rechte hat es durch geschickte politische Themensetzung in den Kulturkämpfen geschafft, frühere Konflikte zwischen Konfessionen zu überwinden und ihre Basis zu einem effektiven Wählerblock zu formieren.
Das Bedürfnis nach einem stark auftretenden, rassistische Ressentiments bedienenden Anführer, der es „den Linken“ mal so richtig zeigt und die angeblich christliche Identität des Landes bewahrt, indem er klare Grenzen zwischen „wahren“ und „falschen“ Amerikanern zieht, ist auch nach Trumps Niederlage 2020 noch vorhanden, vielleicht sogar stärker denn je. Die Basis scheint noch motivierter als zuvor, der Einfluss des Trumpismus auf die Republikanische Partei ist ungebrochen – auch wenn unklar ist, wie die Zukunft Trumps selbst aussieht. Unabhängig von seiner Rolle in der Republikanischen Partei – sein Erbe, die „große Lüge“ von der gestohlenen Wahl, wird bleiben und die Basis motivieren. Das zeigte sich mustergültig im Mai 2021, als die Mehrheit der Republikaner im Kongress erneut offenbarte, dass sie sich von der Realität verabschiedet hatte. Nur 35 republikanische Mitglieder des Repräsentantenhauses und sechs republikanische Senatoren stimmten für die unabhängige Untersuchung der Attacke auf das Kapitol.[2] Das führte bei politischen Beobachterinnen und Beobachtern zu Fassungslosigkeit – wie konnten die Männer und Frauen, deren Leben Trump in Gefahr gebracht hatte, ihn nicht zur Rechenschaft ziehen? Der entscheidende Faktor hierfür war ein jahrzehntelanger Prozess der Radikalisierung. In Bezug auf den 6. Januar habe sich gezeigt, „dass man viel weiter dabei gehen kann, in den Vereinigten Staaten an die Macht zu gelangen, als man es je für möglich gehalten hätte“, analysiert der Faschismus-Experte Jason Stanley.[3]
Die Macht des Mythos von der »verlorenen Amtszeit«
Die Ablehnung der Realität durch eine der beiden großen Parteien ist ein böses Omen für die Zukunft der amerikanischen Demokratie. Der Mythos vom Lost Term, der „verlorenen Amtszeit“ Trumps, gewinnt immer mehr an Macht. Auf einer QAnon-Veranstaltung forderte Trumps ehemaliger Sicherheitsberater und General Michael Flynn einen Militärputsch nach dem Vorbild Myanmars – auf derselben Konferenz trat auch der republikanische Abgeordnete Louie Gohmert auf.[4] Spätestens Liz Cheneys Abwahl aus ihrer Führungsposition in der republikanischen Fraktion im Repräsentantenhaus hat deutlich gemacht, dass der Lackmus-Test für Republikaner nicht mehr ist, wie konservativ sie sind, sondern ob sie sich Trumps „alternativer Realität“ verschrieben haben.
Es gibt auch scheinbar keine Berührungsängste mehr mit der extremen Rechten: Steve Bannon forderte in seinem Podcast die Enthauptung des Chef-Virologen Anthony Fauci. Derlei Aussagen führen in der heutigen Republikanischen Partei jedoch nicht mehr dazu, zur persona non grata zu werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine andere Personalie: Elise Stefanik wurde im Mai 2021 zur Nachfolgerin von Liz Cheney im Fraktionsvorstand der GOP im Repräsentantenhaus gewählt. Kurz zuvor hatte sie noch in Steve Bannons Podcast Trumps Lüge vom Wahlbetrug befeuert.
Die republikanische Partei bereitet sich auf eine Zukunft vor, in der sie auch die nächste Präsidentschaftswahl verlieren könnte – das Narrativ macht eine erneute Leugnung der Fakten möglich. Die Totenglocken der amerikanischen Demokratie läuten spätestens, seitdem die einzelnen Bundesstaaten begonnen haben, die Lüge vom Wahlbetrug durch Gesetzgebung zu institutionalisieren und ihren Einfluss auf ihre Wahlmänner und -frauen sowie ihre Wahlbeamten auszuweiten. Doch auch schon davor zeugten die erleichterten Stimmen, die Demokratie habe dem Angriff standgehalten, von geradezu atemberaubender Naivität. „‚Die Institutionen haben gehalten‘ ist ein wirklich schlechtes Argument. Sie haben gerade so gehalten. Wenn man sich auf neun ungewählte Menschen in ulkigen Roben verlassen muss, ist das nicht wirklich eine gesunde Demokratie“, bemerkte Timothy Snyder und bezog sich damit auf den Obersten Gerichtshof.[5] Nach Bidens Inauguration bezweifelten einige Stimmen die Parteilichkeit des Obersten Gerichtshofs – denn schließlich habe der Trumps unbeholfene juristische Versuche, gegen die Auszählung von Stimmen in einzelnen Bundesstaaten vorzugehen, scheitern lassen. Diese Argumentation verkennt nicht nur das Ausmaß, in dem die religiöse Rechte Richterposten mit den Ihren besetzt, sondern auch die eigentliche Zielsetzung dieser Strategie. Der Supreme Court hatte keinerlei Absicht, seine Glaubwürdigkeit für Trumps absurde Klagen aufs Spiel zu setzen. Dafür hatte man zu lange gearbeitet, um an diesen Punkt zu kommen – eine Wahlniederlage spielt dabei in der Zeitleiste der religiösen Rechten keine Rolle. Trumps Niederlage und Bidens Inauguration haben den USA eine kurze Atempause im Kampf um die Demokratie verschafft, nicht mehr. Die von Gewalt geprägte Rhetorik der Republikaner hat bereits jetzt reale Folgen: Drohungen gegenüber Mitgliedern des Kongresses sind 2021 um 107 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.[6] Aber wie sieht die Zukunft aus?
„Die Republikaner gewinnen das Repräsentantenhaus und den Senat 2022, teils dank Wählerunterdrückung. Der republikanische Kandidat verliert 2024 das popular vote um ein paar Millionen Stimmen und das electoral vote um ein paar wenige Staaten. Die Legislativen in den Bundesstaaten behaupten, es handle sich um Betrug, und ändern die Ergebnisse des Electoral College. Repräsentantenhaus und Senat akzeptieren das veränderte Ergebnis. Der unterlegene Kandidat wird Präsident. Wir haben keine ‚demokratisch gewählte Regierung‘ mehr.“[7] Was wie ein Szenario aus einem dystopischen Roman klingt, ist eine realistische Möglichkeit für die Jahre 2022 und 2024, die der Historiker Timothy Snyder skizziert. Es muss nicht so kommen. Und doch ist die Sorglosigkeit, mit der derzeit über solche Expertenwarnungen hinweggegangen wird, beunruhigend. Demokratien werden nicht von einem Tag auf den anderen zerstört. Es ist ein schleichender Erosionsprozess. Schlagzeilen, die noch vor einigen Jahren alle Alarmglocken hätten läuten lassen, scheinen uns heute fast alltäglich. „Ich fühle mich in diesem Frühjahr wie Kassandra“, schreibt Snyder. Es ist kein gutes Zeichen, wenn einer der profiliertesten Historiker im Bereich Faschismus und Autoritarismus merkt, dass seine Warnungen verhallen wie die der verfluchten Wahrsagerin der griechischen Mythologie. Snyder ist nicht der einzige seines Fachs, der Alarm schlägt: Mehr als 100 renommierte Politik-, Sozial- und Geschichtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler haben sich in einem offenen Brief an den Kongress gewandt, in dem sie die Abschaffung des Filibusters fordern – einer Regelung im Senat, die 60 Stimmen von 100 Stimmen für die Verabschiedung eines Gesetzes verlangt anstatt einer einfachen Mehrheit – und den Kongress zur Verabschiedung einer nationalen Wahlreform drängen. Nur so könne Manipulation von eigentlichen Wahlverlierern verhindert werden: „Unsere Demokratie steht grundsätzlich auf dem Spiel. Die Geschichte wird beurteilen, was wir in diesem Moment tun.“[8]
Die blockierte Wahlrechtsreform
Die Zukunft des Filibusters wie der gesamten amerikanischen Demokratie hängt derzeit an den demokratischen Senatoren Joe Manchin und Kyrsten Sinema, deren Stimmen nötig wären, um ihn abzuschaffen oder zu reformieren. Bisher bleiben sie in Abwehrhaltung, was die Wahlrechtsreform angeht. Doch sie sind nicht die einzigen Demokraten, die sich gegen die Abschaffung des Filibusters sträuben – nur die lautesten. Derweil mobilisieren Gruppen der religiösen Rechten wie Heritage Action, Family Research Council, Tea Party Patriots Action und FreedomWorks ihre Basis, um Druck auf die Senatsmitglieder auszuüben, etwa als sie im März 2021 eine Demonstration ihrer Mitglieder vor dem State Capitol von West Virginia organisierten und diese teils aus anderen Bundesstaaten in Bussen dorthin transportierten.[9]
Und auch die von den Gebrüdern Koch finanzierte Organisation Americans for Prosperity verstärkt den Druck auf Manchin, indem sie Werbeanzeigen schaltet.[10] Schon im Januar hatte ein Mitarbeiter von Mitch McConnell mit Vertretern von solchen sogenannten Dark-Money-Gruppierungen eine Telefonkonferenz abgehalten, um das weitere Vorgehen gegen die von den Demokraten vorgelegte Wahlrechtsreform zu besprechen. Ihr Problem: Die Umfragen würden leider zeigen, dass das Gesetz bei Demokraten und Republikanern beliebt sei.[11] Die neue Strategie sah deshalb vor, das Gesetz als „linksradikal“ zu brandmarken und einzelne demokratische Senatoren direkt unter Druck zu setzen. Mit Erfolg – Manchin schrieb im Juni 2021 einen Gastbeitrag in der „Charleston Gazette-Mail“, in dem er bekräftigte, den Filibuster nicht abschaffen und gegen den For the People Act, die demokratische Wahlreform, stimmen zu wollen.[12] Heritage Action hat nach eigenen Angaben zehn Mio. Dollar in seine Kampagne gegen die Wahlreform investiert, die sich auf acht Swing States für die Midterm-Wahlen konzentriert.[13] Auf ihrer Webseite findet sich zudem eine Argumentationsliste gegen das Gesetz, die Aktivisten und Politiker zu Rate ziehen können.[14] Jessica Anderson, Präsidentin von Heritage Action, prahlte auf einer Konferenz mit dem Erfolg ihrer Aktivitäten für Wahlrechtsbeschränkungen in Iowa: „Wir haben still mit der Legislative in Iowa zusammengearbeitet. Wir haben ihnen die bewährten Methoden gegeben. Wir haben geholfen, die Gesetze zu entwerfen. Wir haben sichergestellt, dass Aktivisten die Abgeordneten angerufen haben, Unterstützung gegeben haben, bei öffentlichen Anhörungen aufgetaucht sind, ihr Zeugnis abgelegt haben. […] Wenig Trara. Ehrlich, niemand hat es überhaupt bemerkt. Mein Team und ich haben uns angeschaut und gesagt: ‚Es kann doch nicht so einfach sein.‘“[15]
Quelle : Blätter-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Trump-Anhänger drängen sich auf den Stufen des Kapitols
Unten — „Trump. Die Tötungsmaschine“