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Erstellt von Redaktion am Montag 12. August 2019

Anatomie eines deutschen Shitstorms

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Eine Kolumne von

Ein Politiker provoziert, Journalisten spitzen zu, Twitter explodiert: Was in dieser Woche wieder einmal zu beobachten war, folgt bestimmten Mustern. Hier der typische Ablauf einer Empörungswelle – nur wenig zugespitzt.

Es ist nicht so, dass jeder sogenannte Shitstorm überflüssig oder schädlich ist. Im Gegenteil könnten Empörungsstürme in sozialen Medien zu einem wichtigen gesellschaftlichen Korrektiv werden. Wenn sie nicht ständig in Gefahr wären, zum allseitigen Eskalationsritual zu verkümmern Deshalb folgt hier, aus zugleich aktuellem und zeitlosem Anlass, die Anatomie eines deutschen Shitstorms – natürlich frei erfunden:

0. Die Ausgangslage

Lebensgefährliche Klimakrise, polare Rekordschmelze, neues Atomwaffenwettrüsten, Massensterbenlassen im Mittelmeer, rechtsextreme Todeslisten, ungeregelter Brexit, drohender Kaschmir-Konflikt. Auf Twitter schmunzelt man über einen Gag, den Otto 1982 als „zu schlecht und zu alt“ aus seinem Bühnenprogramm gestrichen hat. In der Ferne bellt ein Hund.

1. Der Ursprung

Ein Politiker der zweiten bis dritten Reihe gibt einem Medium ein Interview mit bewusst provokanten Aussagen, um endlich der zweiten bis dritten Reihe zu entkommen. Es steht nicht sofort frei zugänglich im Netz, weil in Deutschland bisher nur zwei Medien rausgefunden haben, wie man im Internet Geld verdient.

2. Die Zuspitzung

Ein zweites Medium berichtet über das Interview und spitzt eine bereits bedenkliche Aussage des Politikers für die Überschrift weiter zu. Das Social-Media-Team wiederum spitzt diese Zuspitzung für Facebook und Twitter noch mal zu. Das Ergebnis ist eine eindeutig rassistische Verkürzung.

3. Der Zündfunke

Eine wachsame Person auf Twitter erkennt die rassistische Verkürzung als rassistische Verkürzung. Ohne sich um die tatsächlichen Aussagen zu kümmern, schreibt sie die rassistische Verkürzung unmittelbar dem Politiker zu.

4. Die Detonation

Weil die Verkürzung eben tatsächlich rassistisch ist, explodiert Twitter. Mit Abstand am häufigsten wird ein Comedian retweetet, der erkennbar das Interview nicht gelesen hat, aber die Mischung aus Empörung, Sarkasmus und Unterhaltsamkeit beherrscht, die auf Twitter am besten funktioniert. Er erfindet auch den dreideutigen Hashtag, der so gewählt ist, dass ihn sowohl Kritiker wie Verteidiger des Politikers verwenden können.

5. Die Medienerhitzung

Weil Journalisten Twitter mit der Gesellschaft verwechseln, wenn ausreichend viele Kollegen ausreichend aufgeregt sind, werden die ersten Artikel über den Empörungssturm verfasst. Das Wort Shitstorm fällt erstmals. Der Jugendableger eines Erwachsenenmediums veröffentlicht ohne jeden Zusammenhang eine Liste mit den 72 schlimmsten Entgleisungen deutscher Comedians. In ausnahmslos jedem deutschen Medium erscheinen Stücke mit Titeln wie „Was wir bisher wissen – und was nicht“ oder „Was das Netz dazu sagt“.

6. Die Verselbstständigung

Weder die Kritiker noch die Verteidiger des Politikers haben das Ursprungsinterview gelesen, beide schwören trotzdem, dass allein ihre Deutung der Situation richtig ist. Der Shitstorm hat sich vom Anlass abgelöst und wird zu einer Schaudebatte über „Political Correctness“ und Anstand, Moral und Freiheit. Eigentlich geht es natürlich um Rassismus, aber weil die meisten Teilnehmenden selbst weiß sind, ist Selbstvergewisserung wichtiger als der Inhalt oder gar diejenigen, die von Rassismus betroffen sind. Es gehen weiterhin zum Thema online: drei Liveticker, vier Faktenchecks, zwei Bundestagspetitionen, eine Podcast-Reihe, eine Todesliste mit allen, die den Hashtag verwendet haben, zwölf Solidaritätsseiten auf Facebook und 62 Satire-Accounts auf Twitter.

7. Die rechte Verschwörung

Eine rechtsextreme Partei bezeichnet die rassistische Verkürzung als „mutige, überfällige Analyse“ und den Shitstorm als „von Soros bezahlten und von der Hitler-Tochter Merkel gesteuerten Angriff auf die Meinungsfreiheit, die in Deutschland nur noch auf dem Papier vorhanden“ sei. Wenn man nicht einmal mehr ungestört rassistisch sein dürfe, ohne dass gleich irgendjemand herumnörgele, bliebe vom Abendland praktisch nichts übrig.

Quelle       :       Spiegel-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelloe      :      Sascha Lobo; 10 Jahre Wikipedia; Party am 15.01.2011 in Berlin.

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