DEMOKRATISCH – LINKS

                      KRITISCHE INTERNET-ZEITUNG

RENTENANGST

Die Seelen sind erschüttert

Erstellt von Redaktion am Sonntag 19. Februar 2023

Erdbeben in der Türkei und in Syrien

Ein Artikel von Cem-Odos Güler

Fast zwei Wochen nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei harren die Überlebenden in Zeltstädten aus. Sie brauchen auch psychologische Hilfe.

Auf dem Sportplatz spielen Kinder Brennball. Betul Abras steht am Rand und deutet auf ein Mädchen mit dunkelblauem Kopftuch. „Sie war nach dem Erdbeben unter den Trümmern eingeschlossen“, erzählt Abras, eine Psychologin. Durch ein eingestürztes Haus krabbelnd habe die 13-Jährige ihre beiden Schwestern befreien können, die unter einer umgefallenen Tür eingeklemmt lagen. Bei ihrem 7 Jahre alten Bruder habe das Mädchen gesehen, wie ihm Blut aus dem Mund lief. Später stellt sich heraus, dass der Junge gestorben war. „Dieses Kind wird diese Bilder nie vergessen“, sagt Betul Abras. Wir befinden uns in der türkischen Stadt Kilis.

Mehr als 40.000 Menschen sind durch die beiden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ums Leben gekommen, ungezählte mehr wurden verletzt. Dazu kommen viele Wunden, die nicht auf den ersten Blick zu sehen sind: Hunderttausende Menschen sind seit den Beben am 6. Februar traumatisiert, darunter auch viele Kinder.

„Du bist raus“, ruft ein Junge beim Brennball einer Frau zu, die eine rote Weste trägt. „Ich habe dich getroffen.“ Die Frau arbeitet für das türkische Familienministerium und hat mit drei Kolleginnen das Spiel auf dem Sportplatz in Kilis organisiert. Sie sind als psychosoziale Ersthelferinnen im Einsatz und kümmern sich vor allem um die Kinder in den zahlreichen Erdbeben-Nothilfe-Camps in der südtürkischen Stadt. Kilis hat etwa 120.000 Einwohner*innen, der Ort und die gleichnamige Provinz waren auch von dem Erdbeben betroffen, doch sind weitaus weniger schwer beschädigt als die Provinzen Hatay, Kahramanmaraş oder Adıyaman. Zerstörte Häuser sind kaum zu sehen, dennoch leben hier viele Menschen in Camps, die von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD errichtet wurden.

Der Stabilität der Häuser traut kaum noch jemand

Aus Angst vor möglichen Nachbeben kehren viele Be­woh­ne­r*in­nen von Kilis nicht in ihre Häuser zurück. Zu präsent ist die Erinnerung an das Beben von vor zwei Wochen, das für fast zwei Minuten die Erde erschütterte und in einem Gebiet, das halb so groß wie Deutschland ist, Menschen unter Schutt begrub.

undefined

Was in der gesamten Erdbebenregion jetzt am meisten gebraucht werde, seien warme Unterkünfte, Medizin, Essen und Wasser für die Betroffenen, sagt die 34-jährige Betul Abras. „Das Zweite, was dringend benötigt wird, sind Angebote für eine psychologische Unterstützung.“ Abras arbeitet in Kilis für die Malteser.

Die Malteser sind schon seit mehr als zehn Jahren in der Südtürkei tätig, mit 18 Leuten in zwei Büros, eines in Gaziantep, eines in Kilis. Von hier aus haben sie in den vergangenen Jahren Hilfsaktionen für Syrien organisiert, sie arbeiten mit vier Partnerorganisationen zusammen, die dort etwa Krankenhäuser betreiben. Jetzt haben die Malteser die Zahl ihrer Mit­ar­bei­te­r*in­nen in der Südtürkei aufgestockt, um Hilfe für die in vom Beben betroffenen Gebiete zu organisieren. Auch die Hilfslieferungen nach Syrien sollen ausgebaut werden. Dafür hat die Organisation fünf Lastwagen von Deutschland aus auf den Weg gebracht, sie sind beladen mit Medikamenten, Heizgeräten, Decken und Zelten.

Viele der Kinder, die in dem Lager im Kiliser Sportkomplex herumrennen, sprechen Arabisch. Sie stammen aus dem benachbarten Syrien und leben seit Beginn des dortigen Krieges mit ihren Familien in der Türkei. Wie tausende andere haben auch sie durch das Beben ihre Häuser verloren, nur dürfte ihre Lage jetzt doppelt schwer sein: Viele Sy­re­r*in­nen arbeiten in der Türkei als Ta­ge­löh­ne­r*in­nen und haben außerdem keine türkische Staatsbürgerschaft. Ihr Auskommen in den nächsten Monaten ist höchst ungewiss.

„Hol deine Freunde und komm spielen“, sagt eine Mitarbeiterin des türkischen Familienministeriums zu Betul Abras‘ Nichte. Auch Abras haust derzeit mit ihrer Familie in dem Erdbeben-Camp im Sportkomplex von Kilis. Die türkische Katastrophenschutzbehörde prüft derzeit Wohnhäuser auf mögliche Risse und andere Schäden, die durch das Beben entstanden sein könnten. Bis diese Kontrolle erfolgt ist, möchten auch Betul Abras und ihre Angehörigen noch nicht zurück in ihre Häuser.

Etliche Menschen im Camp sind aus Maraş und anderen vom Erdbeben betroffenen Städten in das weniger beschädigte Kilis geflüchtet und wohnen jetzt hier im Sportkomplex, der Platz für etwa 2.500 Menschen bieten soll. Auch das Mädchen, das seine beiden unter der Tür eingeklemmten Schwestern befreien konnte, lebte in Maraş – mit seiner syrischstämmigen Familie in einem mehrstöckigen Haus, das beim Erdbeben einstürzte. Erst acht Stunden, nachdem die 13-Jährige ihre beiden Geschwister befreien konnte, drangen Helfer zu ihnen durch und beförderten sie nach draußen. Vater, Mutter, Großeltern, Tante und drei Cousins überlebten. Der kleine Bruder des Mädchens und zwei ihrer Cousins nicht.

Betul Abras, Psychologin beim Malteser-Hilfsdienst„Viele der Erwachsenen hier haben noch kein einziges Mal geweint, um vor ihren Kindern stark zu sein“

Beschäftigungen wie Spielen oder Malen seien dringend benötigte Ablenkungen für die Kinder, sagt Psychologin Abras. Sie habe für die Kleinen Buntstifte und Papier geholt, aus den Beständen ihrer eigenen Familie, und alle Kinder seien gleich ins Malen versunken. Mit solchen Tätigkeiten könnten sie beginnen, das gerade erst Erlebte zu verarbeiten. In der Traumabewältigung für Erwachsene gehe es eher darum, mit Panikattacken zurecht zu kommen. Dafür seien Gespräche wichtig, aber auch Atemübungen oder Momente der Ruhe. „Viele Erwachsene hier haben noch kein einziges Mal geweint, um gegenüber ihren Kindern stark zu sein“, sagt Abras. Andere aber könnten irgendwann nicht mehr an sich halten, dann breche es aus ihnen heraus.

In Iskendurun, einer Stadt in der vom Erdbeben besonders schwer getroffenen Provinz Hatay, ist die komplette Gesundheitsversorgung zusammengebrochen. Das Krankenhaus in dem Ort mit einst 250.000 Ein­woh­ne­r*in­nen hielt den Erschütterungen nicht stand. Etwa hundert Menschen starben in seinen Trümmern, nur drei konnten lebend gerettet werden. Nun arbeiten die Ärzte in Iskendurun bis auf Weiteres in Zelten, die an der Krankenhausruine aufgebaut wurden. Allerdings gibt es nur eine Notaufnahme, die auch bloß eingeschränkt funktionieren soll.

2023 Gaziantep Earthquake-Diyarbakir 1.jpg

Am südlichen Stadtrand von Iskendurun am Messegelände steht eine weitere große Zeltlandschaft auf einem Schotter-Platz. Hier hat die spanische Agentur für internationale Entwicklungszusammenarbeit (AECID) ein Feldkrankenhaus eingerichtet. „Die Krankenhäuser in Iskendurun verfügten über Kapazitäten für 1.000 Betten. Jetzt haben sie gar keine mehr“, sagt Roberto Arranz, der örtliche Leiter. In den rund 30 Zelten, die die Spanier aufgebaut haben, befinden sich ein Operationssaal, eine Orthopädie, eine Gynäkologie – und eine psychiatrische Einheit. Eine Psychiater und eine Psychologin kümmern sich hier um die seelische Gesundheit der Menschen.

„Noch während wir hier am vergangenen Freitag aufgebaut haben, ist das Team in das benachbarte Camp gegangen und hat Gruppentherapie-Runden für die vom Erdbeben betroffenen Menschen angeboten“, sagt Arranz. Zwischen 500 und 1.000 Menschen haben in dem Expo-Areal von Iskendurun nun eine vorläufige Unterkunft gefunden.

Quelle       :         TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —       im Uhrzeigersinn von oben links: Gaziantep, Adıyaman, Zitadelle von Gaziantep, Diyarbakır, Provinz Hatay (2mal)

**********************************

2.) von Oben       —     Karte der Anatolischen Platte, mit der Ostanatolischen Verwerfung (englisch East Anatolian Fault).

Kommentar schreiben

XHTML: Sie können diese Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>