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RENTENANGST

Die Panikmacher

Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 30. März 2019

Die Gefahr geht von den Menschen aus

Eine Kolumne von

Kein Tag ohne Alarm, keine Furcht zu groß, keine Vorsorge ausreichend, keine Beruhigung glaubhaft. Eine weithin sichere Gesellschaft freut sich an der Erregung durch Angst.

Deutschland, am Abgrund

Die Gefahr ist das bisherige Thema des 21. Jahrhunderts. Das gilt jedenfalls in Deutschland, das sich doch vor gerade einmal 30 Jahren auf den Mauerkronen von Berlin und Helmstedt geschworen hatte, sich nimmermehr und vor nichts zu fürchten außer vor der Zweiten Liga. Helmut, Gorbi und Willy, Walter Momper, Günther Krause und Wolfgang Schnur schworen der Welt ewige Zuversicht.

Auf dem Balkon aber lauerten schon damals die Geister der Herren Waldorf & Statler, getarnt als Schäuble & Bräuel, und flüsterten: „Bald isch over“. Und schon 1992 war in Grünau, Lichtenhagen und anderswo die Volksfreude über den Sieg der naturgegebenen Wirtschaftsordnung einer noch größeren Furcht vor den Gefahren der weiten Welt gewichen. Seither werden diese hierzulande wieder bekämpft, wo immer sie ihr Haupt erheben.

Vielleicht nicht der bedeutendste, aber doch jedenfalls der populärste aller Kämpfe ist derjenige gegen das allgegenwärtige Verbrechen. Kaum ist hier eine Schlacht geschlagen, werden von den Kriegsberichterstattern aus Talkshows, Chefredaktionen, Verbänden und Parteigremien schwere Lücken in der Front entdeckt, woraufhin von eilfertigen Generälen aller Waffengattungen unweigerlich die Bekämpfung im ersten Jahr intensiviert, im zweiten verstärkt und im dritten konsequent durchgeführt wird, bevor im vierten Jahr die ganze Härte des Rechtsstaats in Aussicht gestellt wird. Wenn auch das versagt, hilft nur noch die kurzfristige Entdeckung einer neuen, noch größeren Gefahr.

Inzwischen hat sich gezeigt, dass kriminelle Gefahren für Leben, Leib, Gesundheit, Wohlstand und Zufriedenheit mit dem Maß ihrer Bekämpfung nicht nur locker mithalten, sondern allenthalben zu wachsen pflegen. Erschwerend hinzukommt die übliche kommunikative Unübersichtlichkeit: Diejenigen, die die Bekämpfung intensivieren wollen, werden von anderen, welche sie ausweiten wollen, als Gefahr angesehen, und umgekehrt. So genannte „Kritiker“ betrachten beide Gruppen gleichermaßen als Gefahr und rufen deshalb zum Kampf gegen die überhandnehmende Gefahrbekämpfung auf, was wiederum ihre Gegner dazu veranlasst, der Gefahr der Verharmlosung den Kampf anzusagen. Zu all dem äußern sich Menschen, die allwöchentlich neueste Sachbücher über die Gefahrenlage in die Bestsellerlisten werfen, in metatheoretischen Talkrunden über die Gefahr einer „Spaltung der Gesellschaft“, die regelmäßig „tief“ und stets „zunehmend“ zu sein hat.

Man könnte also auf die Idee kommen, dass das deutsche Gefahrerkennungs- und bekämpfungswesen, unbeeindruckt von allen Bemühungen der Experten, eine ordentliche Suchtcharakteristik zeigt, die neben individualpsychologischen Komponenten vertrackt-objektive Bedingungen aufweist, von denen die reale Bedrohung nicht zwingend die wichtigste ist.

Gefahr, beispielhaft

An täglichen Beispielen für die Produktion des notwendigen Nachschubs an Gefahr, Bedrohung, Angst und Unwägbarkeit mangelt es nicht. Vorbildliches leistet hier seit jeher die Zeitung „Bild“ in jenem fiebrigen Zustand der Dauererregung, der uns aus Filmen von David Lynch vertraut und inhaltlich zwischen Horrortrips der Gemütlichkeit und exzessiver Gewaltgeilheit angesiedelt ist.

Auch in der vergangenen Woche hielt „Bild“ eine Botschaft bereit: „Gefährlicher Häftling bei Eltern-Hausbesuch abgehauen“, lautete die Schlagzeile am 21. März. Die Geschichte handelte von einem in der Sicherungsverwahrung in der JVA Werl untergebrachten Gefangenen – von Geblüt ein „Deutsch-Serbe“ -, der bei einer Ausführung am 20. März geflohen war. Er war – nach mehreren Vorverurteilungen – zunächst wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von knapp vier Jahren verurteilt worden; zugleich wurde im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Am Ende der Strafhaft wurde im Jahr 2017 die Sicherungsverwahrung angeordnet, weil nach Ansicht des Landgerichts die Gefahr bestand, dass der Gefangene zukünftig schwere Straftaten begehen werde (siehe § 66a Abs. 3 StGB), § 275a StPO). Im Beschluss des Gerichts wurde (unter anderem) eine fortbestehende Bereitschaft des Betroffenen zu Gewalt – die gegebenenfalls bis zur Tötung gehen könne – berücksichtigt.

Diese Information könnte, so sollte man meinen, zur Erregung angemessener öffentlicher Furcht ausreichen, und auch für die absolut zwingenden, binnen drei Tagen zu beantwortenden Fragen sind mit ihr alle Grundlagen gegeben:

  • Wer ist schuld?
  • Hätte man es verhindern können?
  • Welches Gesetz muss verschärft werden?

Aber so einfach lässt „Bild“ den Deutsch-Serben nicht in den Suspense entkommen. Am 24. März wird nachgelegt: „Will dieser Mann seine Todesliste abarbeiten?“ Die Polizei hatte es nämlich – warum auch immer – für sinnvoll gehalten, der Presse mitzuteilen, dass Maßnahmen zum Schutz von „rund zehn Personen“ getroffen worden seien, denen möglicherweise Racheaktionen des Geflohenen drohen könnten. „Bild“: „Hintergrund dieser Maßnahme: Im Knast soll V. einer Therapeutin mehrere Namen von Personen genannt haben, mit denen er noch abrechnen müsse… Daher stehen rund zehn Personen unter Polizeischutz. Darunter sollen die Ex-Freundin des Flüchtigen, ein Rocker, einige Bekannte und auch ein Richter sein.“ Gern wüsste man, was es mit dem zweifachen „Sollen“ in dieser Meldung auf sich hat: Hat er nun, oder hat er nicht der „Therapeutin im Knast“ Namen genannt? Die Aufklärung dieser Frage scheint mir nicht allzu schwierig.

  • Wenn ja: Was bezweckte man mit der Mitteilung an die Öffentlichkeit (außer vielleicht einem Hinweis an den Flüchtigen)?
  • Wenn nein: Was soll dann die Panik?

Am 25. März legte „Bild“ nochmal nach: „Arbeitet der 31-Jährige eine Todesliste ab?“. Dieser Schlagzeile folgen irritierende Einzelheiten: „Man habe keinerlei Erkenntnisse über eine Todesliste, betonte Jörg-Uwe Schäfer von der JVA-Leitung. Therapeuten und Bedienstete seien befragt, die Zelle des Flüchtigen und weitere Räume auf den Kopf gestellt, Personalakten und Dokumentationen durchforstet worden. Hinweise auf eine Adressliste, Flucht- oder Tötungsabsichten gebe es nicht.“ Aber „Bild“ weiß es besser: „Die Polizei nimmt diese Todesliste sehr ernst. Der Deutsch-Serbe habe sich seit seiner Jugend in kriminellen Kreisen bewegt; er kenne Wege, wie er an Waffen komme… Es gebe Schutzmaßnahmen für bestimmte Personen… , die als möglicherweise gefährdet einzustufen seien. Genauere Angaben wollte der Sprecher dazu nicht machen.“

Quelle         :          Spiegel-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle         :

Oben       —        Bild aufgenommen während des Wikipedia-Bundestagsprojektes 2014. Kabinett Merkel III.

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