Die Logik der Erpressung
Erstellt von Redaktion am Freitag 1. Juli 2022
Von der Kuba-Krise zum Ukraine-Krieg
September 1938 – Anschluss sudetendeutscher Gebiete.
Von : Bernd Greiner
In der Diskussion über Putins Krieg werden derzeit viele historische Vergleiche gezogen, zugleich aber fällt Wesentliches unter den Tisch. Leidenschaftlich ist der Streit darüber, ob der Februar 2022 zum Juli 1914 passt oder näher am September 1938 liegt und welches Etikett dem politischen Personal in Berlin besser zu Gesicht stünde: Schlafwandler oder Beschwichtiger?
Merkwürdig verhuscht ist demgegenüber der Blick auf jenen Sommertag des Jahres 1945, als in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe erfolgreich getestet wurde. Nachdem die Sowjetunion gut vier Jahre später ihrerseits einen nuklearen Sprengsatz gezündet hatte, gab es endgültig kein Zurück mehr. Seither steht politisches Handeln im Schatten einer grundstürzend neuen Tatsache: Kriege zwischen Großmächten bergen das Risiko einer kompletten Vernichtung aller Beteiligten, wenn nicht einer großflächigen Verwüstung unseres Planeten. Insofern ist es nur zu verständlich, wenn derzeit eine diffuse Angst vor dem Atom wieder Raum greift. Wie allerdings in der Vergangenheit mit dieser Angst umgegangen wurde und was daraus für das Hier und Jetzt folgt, ausgerechnet diese Debatte verharrt weit unter dem Möglichen, ja Notwendigen.
Womit unweigerlich die Kuba-Krise in den Fokus rückt. Damals, im Oktober 1962, gerieten die USA und die UdSSR wegen der Stationierung sowjetischer Atomraketen in der Karibik derart aneinander, dass ein Nuklearkrieg erst im letzten Moment und mit viel Glück abgewendet werden konnte. Gewiss, Havanna ist nicht Kiew. Und doch sagt dieser Beinahe-Krieg von gestern mehr über den tatsächlichen Krieg von heute als andere Wegmarken früherer Tage. Dass Nuklearwaffen wegen ihrer immensen Zerstörungskraft zur tatsächlichen Kriegführung ungeeignet und im militärischen Sinne stumpf sind, liegt auf der Hand. Brisant ist jedoch die Kehrseite, das nimmermüde Strampeln, zumindest politischen Mehrwert aus ihnen zu schlagen – sie also in Friedenszeiten zu schärfen. Ganz offensichtlich betreibt Putin derzeit dieses Spiel, wenn er immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen droht. Dahinter steht eine ebenso archaische wie folgenreiche Überlegung: Eine Großmacht, die im Verdacht steht, mit dem mächtigsten Instrument in ihrem Arsenal nichts anfangen zu können, ist die längste Zeit Großmacht gewesen. Sie muss das Handwerk der Einschüchterung und Erpressung beherrschen, andernfalls droht eine Zwangsversetzung in das Souterrain der Weltpolitik. Rätsel über die eigenen Absichten aufgeben, Misstrauen säen und Unsicherheit ausbeuten, die Grenze zwischen Bluff und Vabanque unkenntlich machen und die Gegenseite zermürben: Darum ging und geht es seit Jahrzehnten. Dergleichen firmiert unter dem harmlosen Namen Abschreckung. Angst ist deren treibende Kraft, der Vorsatz, andere in einem Maße zu ängstigen, dass man den eigenen Willen selbst unter widrigsten Bedingungen durchsetzen kann, ihr Ziel – und zwar auf beiden Seiten.
Der für seinen kühlen Verstand gepriesene John F. Kennedy verfiel 1962 gleich mehrmals dieser Logik. „Chruschtschow darf sich nicht sicher sein, dass die USA, wenn ihre lebenswichtigen Interessen bedroht sind, niemals einen Erstschlag führen werden. Unter bestimmten Bedingungen könnten wir gezwungen sein, die Initiative zu ergreifen.“[1] Fast überflüssig zu betonen, dass in der Schwebe blieb, was unter „lebenswichtigen Interessen“ oder „bestimmten Bedingungen“ zu verstehen war. „Wir werden nicht verfrüht oder unnötigerweise einen weltweiten Nuklearkrieg riskieren, […] aber wir werden vor diesem Risiko auch nicht zurückschrecken, wenn wir ihm gegenüberstehen. Ich habe die Streitkräfte angewiesen, sich auf alle Möglichkeiten vorzubereiten.“[2] „Nicht verfrüht“ und „unnötigerweise“ sollte im Umkehrschluss wohl bedeuten, dass es zum richtigen Zeitpunkt durchaus nötig sein könnte, auf den Knopf zu drücken. Der Kreml gab sich davon unbeeindruckt und rechtfertigte die Verschiffung von 36 atomaren Mittelstreckenraketen nach Kuba mit einem weiteren Trumpf: Da die Amerikaner in der Türkei, somit in unmittelbarer Nähe zur UdSSR, Raketen ähnlicher Reichweite seit Jahren positioniert hatten, war es an der Zeit, ihnen an geeigneter Stelle dieselbe Medizin zu verabreichen.
Worauf derlei aufgeplusterte Auftritte in letzter Konsequenz hinauslaufen, hat der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker beschrieben: „Die großen Bomben erfüllen ihren Zweck, den Frieden und die Freiheit zu schützen, nur, wenn sie nie fallen. Sie erfüllen diesen Zweck auch nicht, wenn jedermann weiß, dass sie nie fallen werden. Eben deshalb besteht die Gefahr, dass sie eines Tages wirklich fallen werden.“[3] Ein gleichermaßen erhellender Nachsatz könnte lauten: Die Wahrscheinlichkeit, dass es so weit kommt, steigt proportional zur Dauer und Intensität jeder Konfrontation. Und das aus einem einfachen Grund – weil Krisen eigendynamisch verlaufen, also Verwerfungen hervorrufen, die anfänglich niemand intendiert hatte und die am Ende kaum einer zu bändigen weiß. Mithin wäre es leichtfertig, das Pokern mit Atomwaffen als bloße Panikmache abzutun. Es kann jederzeit auf seine Urheber zurückfallen. Will heißen: Abschreckung fußt auf Voraussetzungen, die niemand kontrollieren kann.
Trotzdem hätte man zu Beginn der 1960er Jahre ein Stillhalten Moskaus erwarten dürfen. Damals war der Westen seinem Widersacher in allen nuklearen Belangen haushoch überlegen. Die USA besaßen das Fünfeinhalbfache an Interkontinentalraketen (230 zu 42), wobei die sowjetischen Modelle, anders als amerikanische Festtreibstoffraketen, erst nach stundenlangem Auftanken einsatzfähig und deshalb nur bedingt kriegstauglich waren. Bei Atomsprengköpfen war die Sowjetunion den USA, Großbritannien und Frankreich im Verhältnis 1:17 (300 zu 5000) unterlegen, mehr als 1400 amerikanischen Langstreckenbombern standen gerade einmal 155 Maschinen mit dem roten Stern gegenüber. Doch statt sich dieser grotesken Dominanz zu fügen, ging Nikita Chruschtschow, Parteichef der KPdSU, in die Offensive. Und legte einen angsteinflößenden Auftritt hin, um den Eindruck erst gar nicht aufkommen zu lassen, dass er Angst vor Amerika hätte. Den USA die langen Arme zu stutzen, hieß in seinem Verständnis, aller Welt die Nutzlosigkeit ihrer Übermacht vor Augen zu führen. Unberechenbarkeit vortäuschen, Nadelstiche setzen, Unmut provozieren, dies alles gehörte zum Spiel, wie Chruschtschow im engsten Kreis erläuterte. „Man darf sich nicht scheuen, andere zur Weißglut zu treiben. Andernfalls werden wir es nie zu etwas bringen. […] Wer schwache Nerven hat, wird an die Wand gedrückt.“[4]
Es geht um die Psychologie der Macht
Was immer an mehr oder weniger dubiosen Motiven eine Rolle gespielt haben mag, die Folgen des Armdrückens wogen ungleich schwerer – nämlich alles, was von beiden Seiten nolens volens in Kauf genommen wurde, sobald man sich für die Kraftprobe und gegen eine diplomatische Annäherung entschieden hatte. Als ein US-Aufklärer von sowjetischer Flak über Kuba abgeschossen wurde, ging das Weiße Haus von einer bewussten Eskalation aus und bereitete entsprechende Gegenmaßnahmen vor – nicht ahnend, dass der lokale Kommandeur ein unmissverständliches Feuerverbot des Kremls ignoriert hatte. Nachdem ein US-Militärflieger wegen Navigationsproblemen vom Kurs abgekommen war und schier endlos im sowjetischen Luftraum kreuzte, verlor Verteidigungsminister Robert McNamara die Fassung: „Das bedeutet Krieg mit der Sowjetunion.“[5] Er hatte allen Grund zu dieser Befürchtung. Niemand wusste, weshalb zwei Abfangjäger der Air Force, bestückt mit atomaren Luft-Luft-Raketen, zur Unterstützung des Verirrten aufgestiegen waren, welche Direktiven man den Piloten mitgegeben hatte und warum es anderthalb Stunden dauerte, bis das Pentagon über diese Vorgänge informiert wurde. Und so ging es weiter, einschließlich diverser Zwischenfälle auf hoher See, bei denen sowjetische U-Boote zum Auftauchen gezwungen wurden und es einzig im Ermessen der Skipper lag, ob sie ihre Verfolger mit Atomtorpedos beschießen oder klein beigeben würden. In einem Satz: Es sind Kleinigkeiten, die in derartigen Situationen alles aus dem Lot bringen und über Leben und Tod von Millionen entscheiden können. Aus diesem Grund strich John F. Kennedy alsbald den vollmundigen Begriff „Krisenmanagement“ aus seinem Wortschatz. Ein Befehlshaber, gab der Präsident zu bedenken, kann in Extremsituationen anordnen, was er will, seiner Einflussnahme sind enge Grenzen gesetzt – weil am Ende der Befehlskette „irgendein Hurensohn nicht mitbekommt, was Sache ist“.[6]
Ukrainian Border Guard post in Kyiv Oblast shelled by Russian missiles in the first day of the war, 24 February 2022.
Noch sind solche Zuspitzungen in der Ukraine ausgeblieben. Zur Beruhigung besteht freilich kein Anlass. Denn die rüden Verbalattacken Putins und seiner Kamarilla – von der „Entnazifizierung“ des besetzten Staates bis hin zur Drohung mit schnellen Gegenschlägen im Falle einer nicht näher definierten westlichen Einmischung – sind emotionaler Dünger für unbeherrschtes Handeln. Gerade dann, wenn Zufälle, Fehlwahrnehmungen oder Fahrlässigkeit hinzutreten. Die Kubakrise jedenfalls lehrt: Überreaktionen gehören zum Kräftemessen zwischen Atommächten. Kaum waren die sowjetischen Mittelstreckenraketen auf Kuba entdeckt worden, glich Florida einem Heerlager. Der britische Konsul in Miami fühlte sich an Südengland im Juni 1944 und die letzten Tage vor der Landung in der Normandie erinnert; andere Beobachter sahen die Halbinsel unter der Last des militärischen Geräts alsbald im Meer versinken. Knapp 600 taktische Kampfbomber waren über die Flugfelder des Bundesstaates verteilt worden, ausgestattet mit Treibstoff, Bomben und Bordmunition für tausende von Angriffen; 1190 Einsätze hätten bereits am ersten Tag eines Krieges gegen Kuba geflogen werden sollen. Unter dem Kommando der Armee bereiteten sich acht Divisionen mit insgesamt 120 000 Mann und dem größten seit 1944 mobilisierten Kontingent an Fallschirmspringern auf eine amphibische Landung östlich von Havanna vor. Zum Vergleich: In der Normandie hatte man 150 000 Soldaten abgesetzt. Die Marine bot 180 Schiffe auf, darunter acht Flugzeugträger und 26 Zerstörer. Superlative, soweit das Auge reichte.
Aber die Pointe dieses Aufmarschs war keine militärische, es ging um Politik und noch mehr um die Psychologie der Macht. An den wahren Kräfteverhältnissen zwischen beiden Staaten hatten die drei Dutzend Raketen auf Kuba nämlich kein Jota verändert, darin waren sich der US-Präsident und seine wichtigsten Berater einig. Was vielmehr auf dem Spiel stand, waren Image und Prestige. Es durfte nicht der Eindruck entstehen, dass die USA wegen des Risikos eines großen Krieges vor einem kleinen Krieg zurückschreckten – und aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen, wie es in einer einschlägigen Metapher der Zeit hieß. Anders gesagt: Wer in einer derartigen Situation Entscheidungsschwäche an den Tag legt, wird dieses Odium nie wieder los.
Quelle : Blätter-online >>>>> weiterlesen
*********************************************************
Grafikquellen :
Oben — Für dokumentarische Zwecke behielt das Bundesarchiv oft die ursprünglichen Bildunterschriften bei, die fehlerhaft, voreingenommen, veraltet oder politisch extrem sein können. Dem tschechischen Terror entronnen. U.B.: Ein Sudetendeutscher Polizeibeamter, der in voller Uniform über die Grenze gekommen war, tut jetzt zusammen mit seinen deutschen Kameraden Dienst am deutschen Zollhaus bei Sebnitz. 23.9.1938 Rd.-Sche. D 2303 A.B.C.
Bundesarchiv, Bild 146-1978-001-05 / CC-BY-SA 3.0
****************************
Unten — Ukrainian Border Guard post in Kyiv Oblast shelled by Russian missiles in the first day of the war, 24 February 2022.
State Border Guard Service of Ukraine – https://www.facebook.com/photo/?fbid=283331483905729&set=pcb.283331640572380 (the whole post, page on BGSU site)
- CC-BY 4.0
- File:Ukrainian Border Guard post shelled by Russian missiles in the Kiev region near the border with Belarus (3).jpg
- Erstellt: 24. Februar 2022
Erstellt am Freitag 1. Juli 2022 um 12:23 und abgelegt unter Amerika, Asien, Kriegspolitik, Positionen. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.