Erstellt von Redaktion am Dienstag 14. Januar 2020
Ein Jahrzehnt für Neudenker – oder die Katastrophe
Frau Merkel hat gesagt, wir bräuchten mehr denn je Mut zu neuem Denken. Klingt toll. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was damit gemeint sein könnte.
Unsere Bundeskanzlerin hat in ihrer Neujahrsbotschaft etwas sehr Schönes gesagt. Und zwar, dass wir jetzt „mehr denn je den Mut zu neuem Denken“ bräuchten. Und die „Kraft, bekannte Wege zu verlassen“. Und die „Entschlossenheit, schneller zu handeln“.
Was wir vom Volk nur begrüßen können – wer will schon mutlos alte Ideen kundtun, und dann auch noch langsam (das würden selbst die Freunde von der AfD so nicht formulieren).
Und was die Kanzlerin da sagt, klingt zugleich noch hinreichend gestaltbar, sodass sich niemand unmittelbar davon belästigt fühlen muss. So genau hat sie den Sachverhalt in der frohen Botschaft ja nicht ausformuliert. Eigentlich gar nicht.
Jetzt ist anzunehmen, dass Angela Merkel tief im Inneren genauestens weiß, was wir da alles neu denken sollen – und es uns nur noch nicht verraten will. Geduld, mein Volk! Was entweder bedeutet, dass wir noch ein bisschen warten müssen. Oder schon mal überlegen können, was die Kanzlerin meinen könnte. Für den unwahrscheinlichen Fall auch, dass die Kanzlerin es zwischenzeitlich wieder vergisst.
Möglich, dass Frau Merkel einfach nur meinte, dass wir uns eventuell bald darauf einstellen müssen, statt Benzin Strom in unsere Automobile zu füllen. Oder öfter mal schnell den Bus zu nehmen. Und so etwas. Was nicht wirklich so spektakulär wäre, wenn einmal genug E-Tankstellen, günstige E-Autos und Busverbindungen verfügbar sind.
Es spricht nur einiges dafür, dass das Neuzudenkende historisch größere Dimensionen hat – egal, ob das Frau Merkel auch meint oder nicht. Weshalb es auch helfen könnte, das Ganze historisch anzugehen.
Kleiner Exkurs (keine Sorge, wir sind gleich zurück): Als Ende der 1920er Jahre der große Crash kam und die Wirtschaftskrise ausbrach, folgten erst Jahre mit Massenarbeitslosigkeit, überall Rechtsregime und ein Weltkrieg – worauf ein ziemlich grundlegendes neues Denken in allem folgte, was Wirtschaft und Gesellschaft so ausmachte:
- weg vom naiven Glauben in den Wirtschaftsliberalismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hin zu einem viel stärker regulierten Kapitalismus und einer – in der Bundesrepublik – sozialen Marktwirtschaft;
- weg von den großen Trusts hin zu mehr geregeltem Wettbewerb;
- weg vom Manchester-Kapitalismus hin zu mehr Schutz für Arbeitnehmer;
- weg von der Rumtata-Globalisierung (die damals noch viel mit Kolonialismus zu tun hatte) hin zu einem Bretton-Woods-System mit festen Wechselkursen und sorgsam liberalisiertem Handel. Exkurs Ende.
Als vor mehr als einem Jahrzehnt der nächste historische Crash folgte, schien nahezuliegen, was darauf nach historischer Vorlage folgen musste: große Wirtschaftskrisen und aufsteigende Populisten – später gefolgt von neuem Denken. Weg vom naiv-marktliberalen Dogma der Reagan– und Thatcher-Ära und von der weitgehend ungestümen Globalisierung hin zu etwas Neuem und Besserem. Wie damals nach dem Crash von 1929.
Aus der Geschichte gelernt
Was bis zu einem gewissen Grad auch eintrat. Auf den Crash folgte 2009/10 die schwerste Rezession seit Langem, und in den Jahren darauf gewannen überall rechte Populisten an Bedeutung – ob Brexiteers, Donald Trump, Viktor Orbán oder Matteo Salvini.
Liebe Zuschauerinnen und Zuhörer. Der Schnee ist auch nach 14 Jahren noch weiß.
Wichtiger Unterschied: Weil Historiker wie der damalige US-Notenbankchef Ben Bernanke aus der Geschichte zu lernen versuchten, reagierten die Währungshüter mit enormen Geldhilfen – und Regierungen mit großen Konjunkturpaketen. Die Folge: Anders als in den Dreißigerjahren blieben Massenarbeitslosigkeit, Depression und Deflation nach dem ersten Schock (mit Ausnahme des geschichtsvergessen malträtierten Griechenlands) diesmal aus; konnte zumindest die akute Krise so eingedämmt werden.
Kehrseite: Mit dem erfolgreichen Kampf gegen die Folgen des Crashs ließ auch der Druck nach, die tieferen Ursachen der Turbulenzen anzugehen. Bis auf die eine oder andere Reform fürs Bankengeschäft blieb in Sachen Finanzglobalisierung vieles beim Alten.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle : Die 14 Jahre ändern das Aussehen.
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Erstellt am Dienstag 14. Januar 2020 um 12:42 und abgelegt unter Berlin, Feuilleton, Flucht und Zuwanderung, Regierung.
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