Die Islamische Diktatur
Erstellt von Redaktion am Freitag 11. November 2022
Die tödliche Zurückhaltung gegenüber den Protesten in Iran
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Die Revolution in Iran findet in deutschen Leitmedien noch immer nicht genug Beachtung. Der Kanzler twittert handzahm, statt zu handeln. Dabei würde mehr internationale Aufmerksamkeit Leben retten.
Sonntag, der 6. November 2022, über 50 Tage nach Beginn der iranischen Proteste, die man inzwischen Revolution nennen muss. Eine große Gruppe iranischer Parlamentarier hat etwas Ungeheuerliches gefordert: Der Staat möge den Demonstrierenden mit aller Härte begegnen und in bestimmten Fällen möglichst mit der Todesstrafe. Unabhängige Fachleute schätzen die Zahl der Inhaftierten, der Angeklagten auf über 14.000 ein, zumeist junge und sehr junge Leute, sehr viele Frauen darunter.
Der infame Appell aus dem Kreis des Parlaments, jenem scheindemokratischen Feigenblatt der islamistischen Diktatur, würde bedeuten: Etliche junge Menschen könnten ermordet werden, sicher nicht alle 14.000; aber es ist davon auszugehen, dass das Regime nicht auf das abschreckende Instrument der Hinrichtung verzichten wird. Und das nur, weil die Menschen gegen ein terroristisches, antisemitisches, islamistisches, Frauen und Homosexuelle hassendes, ultramenschenfeindliches Horrorregime demonstriert haben, das ihnen ihr Leben raubt, jeden Tag aufs Neue. Selbst wenn dieser Appell von den Gerichten nicht umgesetzt wird, ist schon länger klar, dass die iranische Justiz nicht zögern dürfte, Demonstranten hinzurichten.
Man sollte meinen, dass solch extremistische Hinrichtungswünsche von Abgeordneten große Wellen schlagen. Stattdessen ergibt die Überprüfung am Montagnachmittag irritierendes: Auf der Startseite der »Süddeutschen Zeitung« taucht das Wort Iran ebenso wie auf der Startseite des SPIEGEL nicht auf. Kein Iran, nirgends. Genau wie auf faz.net, auf tagesschau.de, auf bild.de und auf der Seite der »Rheinischen Post«. Der »Tagesspiegel« hat einen Artikel zu Iran auf der Startseite (hinter der Paywall), allerdings deshalb, weil er von so vielen Menschen gelesen wurde, dass er in der Kategorie »beliebt auf Tagesspiegel+« auftaucht. Zwar nur eine digitale Momentaufnahme und dennoch ein Sinnbild.
Auf welt.de kommt »Iran« einmal vor – in einem Artikel über iranische Waffenlieferungen an Russland. Auf der Startseite der »Zeit« kommt »Iran« sogar zweimal vor. Einmal als verlinktes Schlagwort in einer Subnavigation ohne weiteren Kontext und einmal, weil ein iranischer Islamist Hamburg verlassen hat.
Man kann es nicht anders sagen: Die iranische Revolution der Frauen, der jungen Menschen findet in deutschen Leitmedien noch immer nicht ausreichend statt. Wie als Symptom beträgt die Gesamtzahl der SPIEGEL-Titelbilder zum Thema ebenfalls: null. Ein Themenschwerpunkt stand Ende Oktober lediglich links oben in der Ecke, als sich das Titelbild dem britischen Regierungschaos widmete. Automatisch ergibt sich die Frage: warum? Es ist eine Frage, die die iranische Diaspora traurig, wütend, fassungslos macht. Zu Recht.
Wenn man sich mit Menschen der verschiedenen iranischen Communitys in Deutschland unterhält, dann ist da zunächst – ein enormes Feuer, im allerbesten Sinn. Das hat einen konkreten und bitteren Grund. Es gibt praktisch niemanden, der nicht spürt und weiß, dass es in Iran im Moment um buchstäblich alles geht.
Die iranische Community weiß, worum es geht
Rund 300.000 Iran-stämmige Menschen leben in Deutschland, und sie sind laut und hervorragend vernetzt. Der Parteichef der Grünen Omid Nouripour gehört dazu und der Generalsekretär der FDP, Bijan Djir-Sarai, beides Regierungsparteien. Dazu kommt eine Reihe prominenter Personen mit großer Reichweite: die Social-Media-Kulturaktivistin und Bühnenkünstlerin Enissa Amani etwa, der Conferencier und Moderator Michel Abdollahi, die preisgekrönte Journalistin und Autorin Natalie Amiri, der Schriftsteller und Friedenspreisträger Navid Kermani, die Rapperin und Genussmittelunternehmerin Shirin David, die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Yasmin Fahimi und viele, viele mehr.
Stutzt den Schamanen den Bart !
Das wären für einen medialen Aufregungssturm eigentlich perfekte Voraussetzungen, und durch die gute Vernetzung der iranischen Community in Deutschland wurden diese sogar noch einmal verbessert. Die Entertainer Joko Winterscheid und Klaas Heufer-Umlauf haben in einer spektakulären Aktion ihre Instagram-Accounts »für immer« zwei iranischen Aktivistinnen geschenkt, eine Vielzahl von Aufmerksamkeitswellen rollte und rollt durch die deutschsprachigen sozialen Medien.
Aber trotzdem bleibt die Berichterstattung der Leitmedien für die Größe und die Weltrelevanz der Proteste meist merkwürdig blass und schmal. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass eine Handvoll meist deutsch-iranischer Expert*innen die Öffentlichkeit umfassender, besser und sachkundiger informiert als es die deutschen Leitmedien tun, vor allem (ausgerechnet) auf Twitter und auch auf Instagram, darunter @shourahashemi , @natalieamiri , @gildasahebi , @khani2mina , @isabelschayani und @MichelAbdollahi .
Die empörende Zurückhaltung der Politik
Die wahrscheinlich meisten Mitglieder der iranischen Diaspora in Deutschland sind nicht nur irritiert bis entsetzt über die verhaltene Berichterstattung, sondern auch über die verstörende bis empörende Zurückhaltung der deutschen Spitzenpolitik. Auf dem offiziellen Kanzler-Twitteraccount hat Olaf Scholz es in 50 Tagen einmal geschafft, den Iran zu erwähnen: »Es bestürzt mich, dass bei den Protesten im #Iran friedlich demonstrierende Menschen ums Leben kommen. Wir verurteilen die unverhältnismäßige Gewalt der Sicherheitskräfte und stehen den Menschen im Iran bei. Unsere EU-Sanktionen sind wichtig. Wir prüfen weitere Schritte.«
»Bestürzung«, Menschen »kommen ums Leben«, als sei das leider eine ärgerliche Naturkatastrophe. »Unverhältnismäßige Gewalt«, als gäbe es verhältnismäßige Gewalt, wo gerade Aberhunderte Menschen verschleppt, vergewaltigt, abgeschlachtet werden und sogar Kinder ermordet werden. »Den Menschen beistehen«, eine Geste, die sich bereits im Wort selbst erschöpft. Und schließlich »wichtige EU-Sanktionen«, die milder kaum ausfallen könnten.
Deutschland ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner Irans in der EU. Angesichts der angekündigten Prüfung von »weiteren Schritten« zittern die Mullahs sicher bereits vor Angst, während sie knietief im Blut einer Generation waten.
Distanz zu Iran und Distanz zur Generation Z
Michel Abdollahi sagt im Gespräch, dass die Zurückhaltung des Bundeskanzlers ein wichtiger Grund sei für die mediale Zurückhaltung. Gleichzeitig sei Iran für viele führende Journalist*innen noch viel zu weit weg, nicht nur kulturell, sondern auch von der Altersstruktur her. Es sei ein Aufstand der Generation Z, und die würden die meisten Leitmedien schon hierzulande nicht verstehen und deshalb oft ignorieren.
Die deutsch-iranische, queere Aktivistin Mina Khani sieht einen Eurozentrismus am Werk, wenn man nicht von Rassismus sprechen wolle. Sie skizziert gleichzeitig ein häufig zu Recht beklagtes Problem in deutschen Medien: Direkt Betroffene, zum Beispiel qua Herkunft, gelten vielen Redaktionen als nicht objektiv genug, weshalb man im Zweifel lieber deutsche Fachleute fragt. Und sie spricht an, was sehr viele Iraner*innen knallwütend macht: dass Medien, Aktivisten, Politik und Zivilgesellschaft in Deutschland auf die geschickte Propaganda der Islamischen Republik hereinfallen.
Etwa, dass »jahrelang im Westen erzählt wurde, dass die iranischen Frauen sich selbst dazu entschieden haben, Hijab zu tragen. Obwohl es dafür Belege gibt, dass sie jahrelangen Widerstand dagegen geleistet haben«. Daran angrenzend ist Abdollahi irritiert, dass in Deutschland etwa die iranische Protestform, Mullahs auf der Straße den Turban vom Kopf zu schlagen, kritisch betrachtet wird. Dabei seien es doch genau diese alten Männer, die für den extremistischen Islam stünden, der Frauen unterdrückt, die Bevölkerung drangsaliert und Demonstrierende tötet.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Protest an der Amirkabir-Universität für Technologie am 20. September 2022