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Die gescheiterte Utopie

Erstellt von Redaktion am Dienstag 22. Mai 2018

Venezuela – Schwindender gesellschaftlicher Zusammenhalt

File:Nicolas Maduro February 2017.png

Bereit für ein Museum der Volksverkäufer

von Edgardo Lander

Wenn am 20. Mai in Venezuela Präsidentschaftswahlen stattfinden, steht der Sieger wohl bereits fest: Aller Voraussicht nach wird der amtierende Präsident Nicolás Maduro von der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas (PSUV) für weitere sechs Jahre in seinem Amt bestätigt werden. Dem einzigen ernstzunehmenden Gegenkandidaten, Henri Falcón von der Partei Avanzada Progresista, werden kaum realistische Erfolgschancen eingeräumt. Denn das Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD), dem einst auch Falcón angehörte, hat zum Wahlboykott aufgerufen. Die Bedingungen für eine faire Wahl sieht das Bündnis schlicht nicht als gegeben an: Einige seiner führenden Politiker sitzen in Haft, stehen unter Hausarrest oder sind ins Exil geflohen. Und Henrique Capriles, der bei der Präsidentschaftswahl 2013 nur knapp gegen Maduro verlor, hat im vergangenen Jahr ein 15jähriges Ämterverbot erhalten. Obendrein hat der Oberste Gerichtshof die MUD inzwischen von der Teilnahme an der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen.

Damit aber verkommt die Wahl zur Farce: Sie findet nur statt, weil der Sieg der Regierung fast schon garantiert ist. Sollte sich trotz allem eine Niederlage abzeichnen, bleibt der Regierung immer noch der Wahlbetrug – dass sie davor nicht zurückschreckt, hat sie in der Vergangenheit bereits mehr als einmal bewiesen. Fest steht heute: Das einst von Hugo Chávez angeführte „bolivarische Projekt“ einer tiefgreifenden demokratischen und antikapitalistischen Transformation der venezolanischen Gesellschaft ist in seinem Kern gescheitert.[1]

Noch bis zu seinem Tod im Jahr 2013 war Chávez‘ „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ein Referenzpunkt für linke Bewegungen weltweit. Chávez war es gelungen, eine neue Verfassung mit wichtigen partizipativ-demokratischen Elementen zu etablieren und den Einfluss des Neoliberalismus auf dem Subkontinent zurückzudrängen. In dessen Hochphase in den ersten Jahren des Jahrtausends hatte er es vermocht, die staatliche Kontrolle über die Öleinnahmen des Landes zurückzuerobern und mit deren Hilfe Armut und Ungleichheit im Land zu lindern. Damit wurde Venezuela zum Vorreiter einer Linkswende auf dem Subkontinent und dank seiner immensen Ölvorkommen auch zu dessen wichtigstem Garanten.

Dabei sah sich das bolivarische Projekt – wie es bei seiner antiimperialistischen und später sozialistischen Ausrichtung nicht anders zu erwarten war – von Beginn an den Anfeindungen der globalen Rechten, allen voran der damaligen US-Regierung unter George W. Bush, ausgesetzt. Letztere hat die Umsturzversuche der venezolanischen Rechten politisch und finanziell immer wieder unterstützt, beginnend mit dem Staatsstreich vom April 2002 und dem Öl- und Unternehmerstreik, der das Land zwischen 2002 und 2003 zwei Monate lang praktisch lahmlegte. Auch Barack Obama wich von dieser Linie nicht ab und erneuerte kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt eine Verordnung, die Venezuela zu einer „ungewöhnlichen und außerordentlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“ erklärt.[2] Sein Nachfolger Donald Trump drohte Venezuela im August letzten Jahres sogar mit einer US-Militärintervention[3] und verhängte eine Finanzblockade, die der venezolanischen Regierung selbst Finanztransaktionen über europäische Banken erschwert. Zugleich haben die jüngeren politischen Entwicklungen in Brasilien und Argentinien und der Rechtsruck in Lateinamerika den politischen Kontext ganz erheblich verändert und Venezuela auch auf dem Subkontinent zunehmend isoliert.

Allerdings reicht dieser zutiefst feindselige Kontext mitnichten aus, um die tiefgreifende Krise zu erklären, in der sich das Land heute befindet. Vielmehr war die chavistische Politik von Beginn an von tiefen inneren Widersprüchen und Schwächen durchzogen, die im Laufe der Zeit immer stärker zu Tage traten. Dazu gehört etwa der Widerspruch zwischen dem antikapitalistischen Anspruch des bolivarischen Projekts einerseits und seiner Wirtschaftspolitik andererseits, die die Rentenökonomie und den Extraktivismus in Ölwirtschaft und Bergbau noch verschärft.[4] Damit schreibt sie die koloniale Einbindung des Landes in das globale Regime der Arbeitsteilung als Rohstofflieferant fest. Zu den inneren Widersprüchen gehören auch die langjährige außergewöhnliche Abhängigkeit von der Person Hugo Chávez als charismatischem Führer; der Gegensatz zwischen poder popular („Volksherrschaft“) und Selbstorganisation von unten einerseits und einer leninistisch inspirierten Politik der Kontrolle von oben andererseits, in der alle wichtigen Entscheidungen von der Staats- und Parteispitze getroffen und später der Bevölkerung mittels Radio und Fernsehen nur noch mitgeteilt werden; die Spannung zwischen der Stärkung partizipativ-demokratischer Prozesse auf der einen Seite und einer militärischen Kultur der vertikalen, nicht-deliberativen Herrschaft auf der anderen Seite, die mit der starken Präsenz des Militärs im Staatsapparat und der Regierungspartei PSUV einhergeht. Auch das Verwischen der Grenze zwischen Staat und Regierungspartei im Namen der „Revolution“ hatte gravierende Folgen, denn dadurch wurden die Türen für jene massive Korruption geöffnet, die die bolivarische Regierung heute kennzeichnet.

Überdies ist Venezuela in hohem Maße abhängig vom Export eines einzigen Produkts – des Erdöls. Das darauf basierende Wirtschaftsmodell hat einen zentralistischen und klientelistischen Staat hervorgebracht und reproduziert seit Jahrzehnten strukturell immer wieder die ökonomischen, politischen und kulturellen Schwierigkeiten der venezolanischen Gesellschaft. Dieses Modell befindet sich heute in einer finalen Krise.

Die finale Krise des Öl-Modells

Unter Chávez wurden – entgegen seines politischen Diskurses – noch nicht einmal erste Schritte in Richtung eines „Post-Öl-Venezuelas“ unternommen. Im Gegenteil: Die Abhängigkeit vom Öl hat sich sogar noch verschärft – heute werden mit ihm ganze 96 Prozent der venezolanischen Exporteinnahmen erwirtschaftet. Demgegenüber sind die nicht aus der Ölwirtschaft stammenden Exporte, auch jene der Privatwirtschaft, in absoluten und relativen Zahlen zurückgegangen. Anstatt die landwirtschaftliche und industrielle Produktion anzukurbeln, um die gestiegene Binnennachfrage und Kaufkraft der Bevölkerung zu decken, kam es somit zu einem anhaltenden Anstieg der Importe.

Zugleich vertiefte die aufgrund des massiven Ölexports stark überbewertete Währung die sogenannte Holländische Krankheit: Es wurde günstiger, Produkte aus dem Ausland zu importieren, als sie im Land selbst herzustellen. Auch wurden Handel und Finanzwirtschaft rentabler als landwirtschaftliche oder industrielle Aktivität. All das verschärfte die Anfälligkeit der Wirtschaft und vergrößerte ihre Abhängigkeit vom Öl noch weiter. Auch die sozialpolitischen Programme der venezolanischen Regierung, die die Lebensbedingungen der armen Bevölkerungsschichten für einige Jahre enorm verbessert hatten, und die Initiativen der lateinamerikanischen Integration hingen immer stärker von der Ölrente ab. Im Grunde war Chávez’ bolivarisches Projekt damit nichts anderes als ein politisches Modell der (Um-)Verteilung, das die produktive Struktur des Landes nur insofern wirklich veränderte, als es sie immer weiter dem Verfall preisgab.

Als zwischen 2006 und 2007 der kubanische Einfluss in Venezuela wuchs und der bolivarische Prozess als sozialistisch definiert wurde – wobei man Sozialismus mit Etatismus gleichsetzte –, begann die Regierung, eine breite Palette von Landwirtschafts-, Industrie-, Dienstleistungs- und Handelsunternehmen zu verstaatlichen, Schätzungen zufolge insgesamt 526.[5] Die meisten von ihnen wurden danach jedoch schlecht geführt: Investitionen in Wartung und technische Modernisierung fanden nur begrenzt statt, Klientelismus und Korruption waren weit verbreitet. Die meisten dieser Unternehmen – von den großen Stahl- und Aluminiumwerken bis hin zu kleinen Betrieben – machten bald Verluste und konnten nur durch staatliche Hilfen aus der Ölrente am Leben gehalten werden.

Aber auch der Privatwirtschaft geht es heute nicht besser. Laut einer Umfrage von Conindustria, der Wirtschaftskammer der Industrie, wurden Mitte 2017 nur 45 Prozent der bestehenden industriellen Kapazitäten genutzt.[6] Tatsächlich verzeichnete die venezolanische Wirtschaft in den letzten Jahren ihre schlimmste Krise seit dem Öl- und Unternehmerstreik von 2002 und 2003.[7] Seit 2014 schrumpft das Bruttoinlandsprodukt kontinuierlich: Waren es 2014 noch minus 3,9 Prozent, betrug das negative Wachstum 2016 bereits 16,5 Prozent. Und 2017 lag diese Zahl, Schätzungen des IWF zufolge, bei minus 12 Prozent. Auch die Inflation erreicht schwindelerregende Höhen: Im Jahr 2016 rangierte sie je nach Quelle zwischen 500 und 800 Prozent, 2017 überschritt sie gar die Marke von 2000 Prozent. Bereits das vierte Jahr in Folge verzeichnet Venezuela zudem ein gravierendes Haushaltsdefizit. Der Gesamtwert der Exporte wiederum sank zwischen 2012 und 2016 um fast drei Viertel – von 98 877 Mio. Dollar auf 27 407 Mio. Dollar. Auch die Importe gingen im selben Zeitraum um etwa zwei Drittel zurück, mit gravierenden Folgen für die wirtschaftliche Aktivität und vor allem für die Lebensmittel- und Medikamentenversorgung der Bevölkerung.

Die konsolidierte Gesamtschuld des Landes erreichte 181 Mrd. US-Dollar, das entspricht mehr als 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und dem Achtzehnfachen der Devisenreserven des Landes. Dass die Regierung der pünktlichen Tilgung dieser Schuld Priorität einräumt, noch vor der Erfüllung der dringlichsten Bedürfnisse der Bevölkerung etwa nach Nahrung und Gesundheitsversorgung, ist eine zentrale Ursache für die gegenwärtige soziale Krise in Venezuela.

Quelle     :       Blätter           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle   :    Nicolas Maduro speaking to the Supreme Tribunal of Justice in February 2017.

Source https://www.youtube.com/watch?v=sXJ3qXny5Aw
Author Government of Venezuela

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