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Die Generation E

Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 4. Januar 2015

Die große Wanderung von Süd nach Nord

Mehr als eine halbe Millionen junge Menschen haben in den vergangenen Jahren Südeuropa in Richtung Norden verlassen. Von Portugal, Spanien, Italien und Griechenland zogen die oft gut ausgebildeten Auswanderer in Länder wie Großbritannien oder Deutschland, nach London oder Berlin. Den Behörden fällt es schwer, diese Wanderungen zu verfolgen – und darauf zu reagieren. Um diese Lücken zu füllen, unterstützt CORRECT!V ein Team südeuropäischer Journalisten bei einem grenzüberschreitenden Projekt. Die jungen Reporter aus Portugal, Spanien, Italien und Griechenland haben einen Fragebogen kreiert und ins Netz gestellt, den schon jetzt etwa 2000 junge Migranten beantwortet haben. Wir erzählen die Geschichten von acht dieser Menschen.

Reisefreiheit, günstige Verkehrsmittel, das Erasmus-Austauschprogramm und neue Kommunikationsformen haben den Horizont junger Europäer erweitert. Die Wirtschaftskrise tat ihr übriges. Seit 2008 haben hunderttausende Menschen ihre südeuropäischen Heimatländer verlassen. Was dieser “brain drain” für Südeuropa bedeutet, ist bislang kaum abzusehen.

Allein in Portugal sind in den vergangenen vier Jahren 200.000 junge Leute zwischen 20 und 40 ausgewandert. Die Zahl der jährlichen Emigranten lag zuletzt so hoch wie nie zuvor. Bei einer ähnlich hohen Auswanderungsrate hätte Deutschland in derselben Zeit etwa 1,6 Millionen junge Menschen verloren.

Auch aus Italien und Spanien sind in den vergangenen Jahren weit mehr als 100.000 junge Erwachsene in den Norden gewandert. Nur das statistische Amt in Griechenland erfasst keine offiziellen Zahlen.

IN WELCHE LÄNDER WANDERT DER SÜDEN ?

Die Wanderungsbewegungen innerhalb Europas sind schwierig zu fassen. Das kollaborative Crowdsourcing-Projekt “Generation E” sammelt nun diese Süd-Nord-Geschichten und fragt dabei auch, warum junge Leute ihre Länder verlassen oder ob sie jemals zurückkehren wollen.

Den Antworten zufolge registriert sich gerade einmal jeder zweite Auswanderer bei den offiziellen Stellen. Demnach wären hunderttausende Migranten in den vergangenen Jahren nicht erfasst worden.

Dafür gibt es zahlreiche Gründe. “Ein großes Problem für Leute, die Italien verlassen und sich offiziell registrieren: sie verlieren ihre Gesundheitsversorgung in Italien”, schreibt das Observatorium für Italiener in Berlin. Der spanische Soziologe Amparo González bestätigt das. “Um bessere Daten zu bekommen, sollten Migranten positiv motiviert werden, nicht wie in Spanien. Wenn Menschen sich dort nach drei Monaten im Ausland registrieren, können sie ihren Hausarzt nicht mehr aufsuchen.”

Die südeuropäischen Auswanderer verlassen ihre Länder dabei nicht nur wegen der hohen Arbeitslosigkeit. Viele Italiener geben im Fragebogen von Generation E an, dass sie ihren Horizont erweitern und ihren personlichen Ehrgeiz ausleben wollen. Andere verlassen ihr Land zum Studierenoder der Liebe wegen. Einige Experten schätzen, dass der Anteil der gut ausgebildeten Migranten in den vergangenen Jahren stark gestiegen ist.

Weder der frühere, noch der aktuelle EU-Kommissar für Bildung und Kultur haben Fragen zur Welle junger Süd-Nord-Auswanderer beantwortet.

Die jungen Europa-Migranten hängen an ihren Heimatländern. Auf die Frage, ob sie eines Tages zurückgehen werden, antworteten sie am häufigsten: “Ich hoffe doch.” Die meisten glauben aber, dass dies erst in zehn oder mehr Jahren sein wird.

Die Geschichten der bislang fast 2000 beteiligten Auswanderer zeigen: Viele haben am Erasmus-Programm teilgenommen, dem Europäischen Studentenaustausch. Diejenigen, die ein oder zwei Semester im Ausland verbracht haben, scheinen sich eher als Europäer fühlen und verteilen sich quer über den Kontinent.

Fragebogen

Das Projekt sammelt in Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Recherchebüro CORRECT!V weitere Geschichten. Den Fragebogen gibt es in sechs verschiedenen Sprachen unter generatione.eu. Das Projekt wurde unterstützt vom JournalismFund.

–> HIER GEHT ES ZUM FRAGEBOGEN

Acht dieser Auswanderer, die nach Deutschland gewandert sind, haben uns ihre persönliche Geschichte erzählt. Sie arbeiten jetzt in Deutschland als Wissenschaftler, Entwickler, Künstler oder als Architektin.

Anna Elefsinioti

Als Anna 2007 von Griechenland nach Deutschland kam, hatte sie bereits einen Master-Abschluss in Biologie. “Die Krise war damals viel eher in der griechischen Wissenschaft angekommen als in der griechischen Wirtschaft”, sagt Anna auf die Frage, warum sie sich entschied zu gehen. Anna wollte unbedingt eine Doktorarbeit schreiben und die drohende Armut in Griechenland führte sie ins Ausland. Schon in den sechs Jahren, in denen sie studierte, hatte sie große finanzielle Schwierigkeiten. Aber das Geld war nicht der einzige Grund.


“Für Wissenschaftler ist es wirklich toll, in einer bekannten Universität zu arbeiten und mit vielen anderen Wissenschaftlern in Kontakt zu kommen”, sagt Anna. “Deutschland bot damals die besten Optionen. In meinem Spezialgebiet ist eine Doktorandenstelle mit einem Gehalt verknüpft und es gibt keine Studiengebühren.” Heute lebt und arbeitet Anna als Bio-Wissenschaftlerin in Berlin.

Nach Deutschland zu kommen war für Anna damals kein Problem. “Ich kam kurz vor der Krise in Griechenland und wurde als Wissenschaftlerin mit einem Doktoranden-Stipendium natürlich willkommen geheißen.” Anna richtete sich schnell ein Konto ein und schaute sich nach einer Unterkunft um – das wäre ohne ihr Stipendium schwieriger geworden. “Das Vorurteil, dass ich ein Grieche bin, der seine Miete nicht bezahlt, habe ich nicht gespürt. Das kam erst ein paar Jahre später.”

Die blöden Sprüche kamen erst, sagt Anna, als die griechische Krise regelmäßig in den Nachrichten auftauchte. “Als die Krise kam, habe ich einen Wechsel in der Einstellung der Leute erlebt. Nicht bei Freunden oder Kollegen, aber bei Leuten, die ich auf der Straße oder im Bus getroffen haben”, sagt Anna. Für Menschen aus Griechenland habe niemand mehr nette Kommentare übrig gehabt. Die deutschen Medien, sagt Anna, hätten damals einen großen Teil zu dieser Feindlichkeit beigetragen.

“Die Leute wurden überzeugt, dass die Griechen über ihre Verhältnisse gelebt hatten und dass jetzt, wenn sie Hilfe brauchen, die Deutschen dafür bezahlen müssen.” Anna erinnert sich an einen Vorfall in 2011, als sie und eine Freundin ihre Hunde spazieren führten. “Wir trafen eine Frau, die auch mit ihrem Hund im Park unterwegs war und wir fingen entspannt an, uns zu unterhalten. Sie fragte uns, wo wir herkommen und als wir Griechenland sagten, antwortete sie: ‘Oh, das tut mir leid. Ich habe leider grad überhaupt kein Geld dabei, das ich Ihnen geben könnte.’ Das war ziemlich schockierend.”

Die Finanzkrise war für Anna kein abstraktes Problem. Die Probleme betrafen auch ihre Familie. Nachdem ihre Mutter und ihre Schwester in Athen ihre Jobs verloren, folgten die beiden 2012 nach Berlin. Weil Anna bereits in Deutschland arbeitete, lief die Integration für die beiden deutlich einfacher ab. “Für meine Familie war es einfacher als für andere Migranten zu der Zeit. Dank meiner Bürgschaft hatten Sie schnell eine Unterkunft. Jetzt arbeiten beide und ich glaube sie sind glücklich.”

In welche Länder wandern die meisten jungen Griechen aus?

Anna hat Heimweh. Sie gibt zu, dass sie Athen vermisst, die Leute, das tägliche Leben in Griechenland, ihre Freunde. “Ich vermisse unsere langen Kaffee-Treffen und Gespräche. Ich glaube, dass Griechen politischer sind. Und ich vermisse unseren Humor.” Sie weiß, dass es in der jetzigen wirtschaftlichen Lage schwierig ist, zurückzugehen. Anna sagt, sie genießt die Sicherheit, die ihr ein guter Job gibt, das entspannte Leben in einer wunderschönen Stadt und die Stabilität, die ihr der deutsche Staat geben kann.

“Deutsche sind auch nur Menschen. Es ist einfach so, dass der Staat Dir hier eine Sicherheit gibt, die wir in Griechenland niemals hatten.” Wenn Anna nicht nach Athen zurück kann, möchte sie weiter in Berlin leben. Aber das hängt von ihrem Job ab. “Die Arbeitsbedingungen ändern sich auch in Deutschland. Arbeitsverträge sind nicht immer unbefristet”, sagt Anna. “Wo ich in fünf Jahren sein werde? Das kann ich nicht sagen.”

Daniel Ramirez (33)

Schon nach einer Woche in Deutschland war Daniel klar, dass sein neues zu Hause nicht im Ansatz so ist, wie er und alle seine Freunde es sich in Spanien vorgestellt hatten. Der Software-Entwickler war gerade erst von Andalusien nach München gezogen, um dort mit seiner Freundin zu wohnen. Er spazierte durch die Münchner U-Bahn. “Auf einmal sah ich einen alten Mann, 70 Jahre betimmt, mit einem Blaumann. Er fegte die Treppen. All meine Vorstellungen zerplatzten.” War es das, was Daniel in Deutschland erwartete? Schlecht bezahlte Arbeit, unter schlechten Bedingungen, bis ins hohe Alter?


Daniel ist einer der vielen Auswanderer aus Südeuropa, aus Portugal, Spanien, Italien und Griechenland, die auf der Suche nach einer weniger düsteren Zukunft in den Norden ziehen. In den vergangenen Jahren verließen immer mehr Spanier ihr Land, vor allem Richtung Deutschland. Daniel kam genau in dieser Phase, in 2012.

“Meine Freundin zog ein paar Jahre vorher hierher, ohne Arbeit. Total verrückt – aber sie fand einen Job, als sie hier war. Von ihrem Gehalt konnten wir beide leben”, sagt ein noch immer überraschter Daniel. In Spanien wäre es kaum möglich, sagt Daniel, dass beide Partner von nur einem Gehalt leben können.

In Daniels Heimatland stehen Auswanderer seit 2011 im Fokus. Damals hatte Spanien das erste Mal mehr Aus- als Einwanderer. Einige sehen das positiv. Der Arbeitsminister bezeichnete die Auswanderungswelle als “Arbeitsmobilität”. Andere haben dagegen Angst vor einem “brain drain” und davor, dass Spanien langfristig seine Zukunft verliert. “Es geht ums Überleben – und um Mut. Da wo ich herkomme, da sind wir alle sehr eng mit unserem Land verbunden. Aber das Land wiegt am Ende weniger schwer als das Brot, das fehlt.”

In welche Länder wandern die meisten jungen Spanier aus?

Daniel bemerkt im Münchner Alltag regelmäßig Diskriminierung gegen südeuropäische Einwanderer – besonders, wenn Sprachbarrieren oder soziale Unterschiede dazukommen. “Wenn Du mit einem Uni-Abschluss und einem Job aus dem Süden kommst, dann hast Du keine Probleme. Wenn Du aber ein dunkelhäutiger Grieche bist, der nur die Zeitung ausliefert, wirst Du auf mehr Idioten treffen, als Du Dir vorstellen kannst”, sagt Daniel. “Das Problem ist das gleiche wie in Spanien. Die Diskriminierung richtet sich nicht grundsätzlich gegen Einwanderer. Die Frage ist, ob der Einwanderer reich ist oder arm.”

Diogo Oliveira e Silva (31)

Die Geschichte des portugiesischen Mathematikers Diogo Oliveira e Silva ist die eines Kosmopoliten, eines hochqualifizierten Migranten, der weit weg von zu Hause – auf verschiedenen Kontinenten – inspirierende Forschungserfahrung und persönliche Begegnungen gesammelt hat.


In Bonn kam der 31-jährige Diogo vor zwei Jahren an. Seine Wanderung begann viel früher. Schon als junger Student wusste Diogo, dass dort draußen in der weiten Welt noch viel mehr auf ihn wartete. 2005 war Diogo das erste Mal an der Technischen Universität Berlin gewesen, ein Jahr zuvor auch an der Unabhängigen Universität Moskau. Diogo studierte Mathe, Deutsch und Russisch.

Als Diogo 2006 mit seinem Studium an der Uni in Porto durch war und einen Doktor dranhängen wollte, schaute er sich “ein paar lokale Möglichkeiten” in Portugal an, entschied sich aber schließlich für die USA. “Die Meinung von Kollegen und Professoren war klar: Einige ausländischer Universitäten würden mir ein Weltklasse-Umfeld geben, dass es so in Portugal einfach nicht gibt”, sagt Diogo. “Alle waren sich einig, dass ich nach solch einer Erfahrung ein deutlicher besserer Kandidat wäre, um später voll einzusteigen im portugiesischen Uni-System.”

Es folgten sechs Jahre im kalifornischen Berkeley mit einer Serie von “aufregenden Abenteuern, mathematisch und auch sonst”. 2012 war aus dem portugiesische Mathematik-Studenten Doktor Diogo geworden. Und der wollte zurück nach Europa. Das Problem: “Auf meinen Reisen nach Europa ist mir klar geworden, dass sich die Situation verändert hatte und die Finanzkrise wirklich überall war.” Diogo glaubte trotzdem noch immer an Europa und wollte seinem Heimatkontinent eine zweite Chance geben.

“Würde ich es mögen? Würde ich mich immer noch zu Hause fühlen? Das waren Fragen, die ich mich hätte fragen sollen, bevor ich im Spätsommer 2012 zurück nach Europa kam. Aber ich hatte keine Zeit, mir diese Fragen zu stellen.”

Diogo wurde eingeladen, am Hausdorff Center for Mathematics an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn zu arbeiten. In einer Stadt, die er als “Paradies für Mathematiker” beschreibt.

“Jetzt unterrichte ich zum ersten mal auf deutsch. Die Arbeit an der Uni ist aufregend und herausfordernd.” Diogo reist viel für seinen Job, innerhalb Europas. Im vergangenen Jahr hielt er einen Vortrag pro Monat in Mathematik-Instituten auf dem ganzen Kontinent. “Ich konnte mir wissenschaftliche Bedingungen in elf verschiedenen Ländern ansehen und vergleichen.”

Diogo ist begeistert von Deutschland, “ein Land, in dem vieles richtig gut läuft und der Lebensstandard sehr hoch ist.” Für Einwanderer sei es aber extrem wichtig, die Sprache zu lernen, um tiefer ins soziale Netz eindringen zu können. Diogo gefällt, dass Deutschland in der Mitte Europas liegt und er so den ganzen Kontinent bereisen kann, Portugal eingeschlossen.

In welche Länder wandern die meisten jungen Portugiesen aus?

Zwei Jahre nach seinem Umzug nach Bonn versucht Diogo die Fragen zu beantworten, die er sich 2012 aus Zeitmangel nicht gestellt hat. “Auch wenn die Winter hart sind und es zu viele Streiks im öffentlichen Personenverkehr gibt, gefällt mir der europäische Lebensstil sehr gut.  Und ich fühle mich hier auch nach wie vor zu Hause.”

Natürlich sind Diogo die Probleme bewusst, durch die Europa in den vergangenen Jahren gehen musste. Aber er geht davon aus, dass es besser wird. Er drückt Portugals Wirtschaft die Daumen und hoffe, dass das Land bald ein besseres wissenschaftliches Umfeld und vernünftige Arbeitsbedingungen anbieten kann. “Sobald dieser Tag kommt, packe ich meine Sachen und gehe zurück nach Hause.”

Elena Martinez (40)

Für Elena lief alles gut. Ihr Land verließ sie, um ihrem Partner zu folgen. In Deutschland fand sie schnell einen Job. Nun lebt sie glücklich in Berlin. Elena ist spanisch, ihr Mann ist aus Holland und ihr gemeinsames Kind ist Berliner. “Jedes Mal, wenn ich in den Park gehe, treffe ich Eltern aus verschiedenen Ländern”, sagt Elena.


Die meisten von Elenas Freunden sind Ausländer. Europäische Pärchen. Elena arbeitet als Architektin in Berlin und betreut von dort ein Bauprojekt in Spanien. Architekten sind eine der Berufsgruppen, die von der 2008 geplatzten Immobilienblase in Spanien am stärksten betroffen sind. Eine Studie der spanischen Architektengewerkschaft zeigte im vergangenen Jahr, dass weniger als ein Viertel aller spanischen Architekten ein monatliches Einkommen von 1000 Euro erreichen. Offiziellen Statistiken zufolge sind 30 Prozent der spanischen Architekten arbeitslos.

Elena sagt, dass sie etwa ein Jahr lang als Verbindungsfrau zwischen einer deutschen und einer spanischen Architekturfirma gearbeitet hat. “Wenn wir uns mit den Kollegen von der anderen Seite unterhalten haben, dachten alle, dass hier in Deustchland alles immer perfekt läuft. Aber das ist nur ein Mythos.” Nicht alles ist so, wie es von Spanien aus scheint und Deutschland ist nicht das europäische Dorado, sagt Elena.

“Deutschland versteht es sehr gut, sich nach außen hin zu verkaufen”, sagt Elena. “Wir haben einen großen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Deutschland. Die Deutschen dagegen haben einen großen Überlegenheitskomplex.”

In welche Länder wandern die meisten jungen Spanier aus?

Dutzende Auswanderer, die ihre Geschichte für das Projekt Generation E erzählt haben, berichteten von Diskriminierung gegen Südeuropäer. So auch Elena. “Grundsätzlich werden wir immer noch als faul und ineffizient angesehen”, sagt Elena. “Und die Deutschen fühlen sich allem überlegen, was nicht deutsch ist. Das ist genau so, wie wir uns in Spanien gegenüber den Einwanderern aus Südamerika verhalten haben.”

Giolika Poulopoulou (25)

Wann Giolika das erste Mal darüber nachdachte, Griechenland zu verlassen? Als sie 2011 auf einmal arbeitslos war. Giolika füllte die Formulare der griechischen Arbeitsargentur aus – ohne wirkliche Aussicht auf irgendeine Arbeit. Damals hatte sie bereits einen Abschluss der Aristoteles Universität in der Tasche, als Grundschullehrerin.


Doch Giolika war nicht nur arbeitslos, sie wollte auch unbedingt weiterstudieren. Und zwar in einem Bereich, den es in Griechenland so kaum gibt. Giolika schaute sich in ganz Europa um, ehe ihre Bewerbung der Berliner Universität der Künste gefiel. Jetzt studiert Giolika mit Hilfe eines Stipendiums, im Moment steckt sie im letzten Jahr ihres Master-Studiums in Theater-Pädagogik.

Giolika sagt, von ihren Kommilitonen, alles Kunst-Studenten, habe sie sich zum Glück keine Beleidigungen gefallen lassen müssen – so wie es ihr andere Einwanderer berichtet haben. “Meine Kommilitonen hatte nicht wirklich Ahnung, was in Griechenland ablief. Im Alltag hatte ich deshalb kein minderwertiges Gefühl wegen der griechischen Krise und all der Armut.”

Giolika erinnert sich aber auch an Situationen, in denen sie sich wegen ihrer Herkunft unwohl fühlte. Zum Beispiel, als sie in Berlin ein Zimmer zur Miete suchte. “Bei einer Bewerbung haben sie mich gefragt, ob ich denn überhaupt das Geld hätte, um meine nächste Monatsmiete zu zahlen. Ich dachte erst, das wäre ein Witz.” Ein anderes Beispiel: “In der Metro, griechisch sprechend. Wenn dich dann jemand anstarrt, der wie ein Neonazi aussieht, ist das ein Grund, Angst zu bekommen.”

Giolika hat aber auch jede Menge Spaß in Berlin. “In Griechenland fragt mich jeder, ob ich schon Angela Merkel gesehen habe. Und hier fragt mich jeder, ob ich den ganzen Tag nur Souvlaki und Mousaka esse. Aber sie meinen es witzig.”

Als Giolika nach Berlin kam, waren soziale Unruhen in Griechenland an der Tagesordnung. Für ihre neuen Freunde in Deutschland ist das dagegen neu, sie finden Giolikas Leben in Griechenland extrem interessant and fragen sie über alles aus.

In welche Länder wandern die meisten jungen Griechen aus?

Der größte Unterschied zu Griechenland im Berliner Alltag? Die Effizienz der deutschen Behörden. Die Unterstützung für Arbeitslose zum Beispiel bewundert Giolika. “Klar musst Du viele Formulare ausfüllen, aber wenigstens lohnt sich hier die ganze Arbeit am Ende auch.”

Giolika hat Heimweh und wird sehr emotional, wenn sie über Griechenland spricht. “Ich vermisse die Sonne. Das ist wirklich ein großes Problem für mich. Den ganzen letzten Monat war es nur grau hier, die ganze Zeit.” Sie vermisst die Mentalität ihrer Landsleute, ihren Optimismus und den Glauben daran, dass sich alles am Ende zum Besten wendet. Und zweifelt dann selbst: Giolika glaubt, dass sogar ihre Leute in Griechenland durch die Krise ihre Mentalität verloren haben. “Ich glaube dass Griechenland im Moment in einer Mischung aus Melancholie und Verweigerung feststeckt.”

Ludovica Bello (27)

Ludovica Bello kommt aus einer kleinen Stadt im Norden Italiens, aus der Nähe von Padua, genauer aus Battaglia Terme. Heute singt die 27-Jährige am Nationaltheater Mannheim. Als Absolventin des Conservatorio di Venezia startete Bello ihre Gesangskarriere in Italien bis ihr Chef auf einmal aufhörte, sie für ihre Auftritte zu bezahlen. “Da war ich auf einmal nicht nur Opfer eines Betrugs, ich musste auch noch auf die ineffiziente italienische Justiz vertrauen. Ich habe mich wirklich ohnmächtig gefühlt und das hat mich zu der Entscheidung gebracht, auszuwandern”, sagt Ludovica.


Doch der Betrug war nicht Ludovicas einziges Problem. “In Italien ist es mittlerweile quasi unmöglich, Künstler zu sein. Das liegt an den Haushaltskürzungen.” Das Budget des italienischen Kulturministeriums ist tatsächlich in etwas mehr als einem Jahrzehnt von 2,7 auf 1,5 Milliarden Euro zurückgegangen. Viele Künstler tun sich nun schwer, von ihrer Kunst zu leben.

Ludovica ist sich sicher, dass sie nicht wieder zurück nach Italien gehen wird, außer vielleicht für Urlaube, so wie es ja auch viele Deutsche tun. “Oder um alt zu werden”, fügt sie hinzu, mit einem melancholischen Lächeln. Sie hat dieselben nostalgischen Gefühle wie viele andere südeuropäische Auswanderer, die es nach Nordeuropa gezogen hat. “Auch wenn es mir hier in Mannheim wirklich sehr gut geht, vermisse ich mein Essen, die Landschaft meiner Heimat, meine Familie.”

“Ich habe Italien 2010 verlassen mit der Idee, möglichst bald zurückzugehen”, sagt Ludovica. “Aber mittlerweile bin ich Mitglied der internationalen Familie des Nationaltheaters Mannheim.” So wie viele andere Italiener in Deutschland bezeichnet Ludovica Italien immer noch als “la casa”, aber dankbar ist sie ihrem Land für nichts. “Außer für die Schulen, auf die ich gehen durfte – inklusive des sehr guten Konversatoriums.”

Ludovica ist ein gutes Beispiel für den “brain drain”, unter dem südeuropäische Länder immer stärker leiden. Südeuropa investiert Milliarden Euro in die Ausbildung junger Bürger – nur um die besten Studenten an andere Länder zu verlieren, sobald sie ihren Abschluss haben.

In welche Länder wandern die meisten jungen Italiener aus?

Ludovica selbst ist glücklich. “Ich habe immer von Deutschland geträumt, seit der Schule hatte ich immer eine spezielle Verbindung mit der deutschen Sprache und Kultur.” Auf Rassismus angesprochen antwortet Ludovica klar und direkt: “Italien ist viel rassistischer als Deutschland, weil Deutschland viel stärker an Ausländer gewöhnt ist. Das sieht man an ganz einfachen Dingen. In der Stadt oder in öffentlichen Verkehrsmitteln wo Türken, Kurden, Israelis, Palästinenser, Spanier, Polen oder Afrikaer keine Probleme miteinander haben.”

Ludovica findet es super, dass viele junge Deutsche ein Jahr ins Ausland gehen, wenn sie mit der Schule fertig sind. Das sei vorbildlich.  “Diese Tradition gibt es in Südeuropa so nicht. Bei uns schnürt das enge Familienmodell die jungen Leute häufig ein.”

In Mannheim lebt Ludovica mit ihrem Ehemann, Emanuele, der auch Sänger ist. “Deutschland heißt jeden mit offenen Armen willkommen”, sagt Ludovica. “Anders als wir Italiener scheint Deutschland aus seiner Vergangenheit gelernt zu haben. Und das merkt man im Alltag.”

Maria de Vaconcelos (33)

“Bitte lebn” – Das Graffiti ganz oben am “Bonjour Tristesse”-Gebäude in Berlin-Kreuzberg, gebaut von der portugiesischen Architektin Siza Vieira, es könnte das Motto sein von tausenden Portugiesen, die seit dem Beginn der Finanzkrise nach Deutschland ausgewandert sind. Unter ihnen ist Maria de Vasconcelos, eine 33-Jährige Künstlerin. Im September 2013 kam Maria mit ihrem Partner und ihrem dreijährigen Sohn nach Berlin.


“Wir wollten unser Kind nicht an einem Ort erziehen, an dem wir nicht wussten, ob wir überleben würden.” Als freie Künstlerin musste Maria jahrelang um genügend Geld kämpfen. “Das Ganze wurde unerträglich. Und bevor für uns alles zusammenbrach, sind wir lieber hierher gekommen”, sagt Maria. Sie klagt über die fehlende soziale Absicherung in Portugal, vor allem für Freiberufler. “Wenn Du krank wirst, ist das Dein Problem. Wenn Du keine Arbeit hast, ist das Dein Problem. Wenn Du ein Kind hast, ist das einfach nur Dein Problem. Hier in Deutschland ist das ganz anders.”

Sich an einen Ort zu gewöhnen, an dem “alles anders” ist, war nicht einfach für Maria, wie sie ein Dutzend Mal wiederholt. “Es ist nicht einfach, wenn Du fast ohne Geld in einem Land ankommst.” Vor allem, wenn man noch nach einem Platz zum Leben sucht und Leute ihre Wohnungen nicht an Mieter ohne Job vergeben wollen. “Da ich die Sprache nicht spreche, steht zwischen mir und der Welt drumherum eine riesige Mauer. Jetzt lerne ich. Aber nein, ankommen ist niemals leicht.”

Am Ende hat aber alles geklappt. Marias Familie hat nun eine Unterkunft, einen Kindergarten für das Kind und auch Jobs. Maria ist als Schauspielerin ihr eigener Chef. Ihr in Deutschland geborener Mann Paulo arbeitet im Bereich erneuerbare Energien.

In welche Länder wandern die meisten jungen Portugiesen aus?

Die Familie ist glücklich in Berlin, einem besonderen Ort, wie Maria hinzufügt. Hier kämen die Menschen immer zusammen, “wenn sie sich unfair behandelt fühlen”. Das hat Maria so in Portugal nicht erlebt. “Durch die Krise sind die Leute enger zusammengerückt, aber sie sind immer noch sehr isoliert mit ihren Problemen. Hier kämpfen die Menschen. Ich mag es, an einem Ort zu sein, an dem die Menschen noch eine Stimme haben.”

Denkt Maria an Portugal, seufzt sie voller Heimweh. “Ich vermisse mein Land. Aber ich weiß nicht, ob es das, was ich vermisse, überhaupt noch gibt.” Sie würde gern zurück gehen, “weil es wunderschön ist, tolles Wetter, großartiges Essen, hübsche Menschen” – aber im Moment hat sie keine Wahl. Vielleicht geht es zurück, wenn sie kein Geld mehr verdienen muss. “Genau das ist nämlich das Problem in Portugal.”

Tommaso Magistrali (37)

Tommaso ist aus der Nähe von Mailand nach Erkrath bei Düsseldorf gezogen, schon vor sieben Jahren. “Langsam wird es Ernst”, sagt der 37-Jährige mit einem für Italiener typischen ironischen Grinsen. Tommasos Geschichte hat mit dem typischen Stereotyp des verzweifelten, arbeitslosen Einwanderers nichts gemein.


“Die Krise hatte keinen Einfluss auf meine Entscheidung, nicht im Geringsten. Als ich Italien verließ, hatte ich einen Jura-Abschluss und einen gut bezahlten Job”, sagt Tommaso. “Und Mélanie, meine französisch-deutsche Frau, hat für ein Luxus-Hotel im Zentrum von Mailand gearbeitet.”

Als die beiden hörten, dass es in Erkrath ein Fachwerkhaus zu verkaufen gibt, “da haben Mélanie und ich beschlossen, dass das der Moment ist, unser Leben zu verändern.” Das Paar renovierte das Haus und eröffnete das “B&B Gästehaus Wannemühle”. “Meine Frau kümmert sich um das B&B, aber ich helfe ihr morgens und abends, wenn ich zurück bin von meinem Job in der Logistik-Abteilung eines Software-Unternehmens.”

Das Französisch-Deutsch-Italienische Paar hat nicht nur das alte Haus restauriert, sondern vor kurzem auch einen deutschen Mitarbeiter eingestellt. Wenn es weiter so gut läuft, sollen bald mehr dazu kommen.

Tommasos Familie ist europäisch. Die beiden Töchter, Chloé und Mathis, gehen auf eine deutsche Schule. “Sie sprechen schon Italienisch, Französisch und Deutsch. Englisch wird für sie kein Problem sein”, sagt Tommaso mit einem stolzen Lächeln.

“Ich fühle mich europäisch, wir alle fühlen uns europäisch. Mein Land zu verlassen hat mich ganz neu denken lassen. Und dass ich mit meiner Familie viel reise, finde ich sehr positiv.”

Natürlich gibt es trotzdem kulturelle Unterschiede. Wenn Italiener berühmt sind für ihre Tendenz, Regeln zu missachten, sind Deutsche der genaue Gegensatz: ohne Regeln sind sie verloren. “Wenn Deutsche unvorbereitet sind, bekommen sie häufig Panik. Wir Italiener dagegen sind perfekt trainiert, mit irren Situationen klarzukommen”, sagt Tommaso und lacht.

In welche Länder wandern die meisten jungen Italiener aus?

Tommaso ist ein fröhlicher Mensch. Nur in Gespräch über die italienische Politik wird er ungemütlich. “Wenn es eines gibt, dass mich wirklich nervt, dann sind das Leute, die mich auf Berlusconi ansprechen.” Tommasos Stimme klingt verbittert. “Wenn ich sieben Jahre lang in Deutschland lebe und immer noch nicht finde, dass ich die deutsche Politik oder Geschichte kommentieren darf – wie könnt ihr dann Italien kommentieren?” Diese Antwort funktioniert normalerweise sehr gut, sagt Tommaso, wieder mit seinem typisch italienischen Grinsen.

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Quelle:  Correktiv

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