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Die gelassene Kanzlerin

Erstellt von Redaktion am Sonntag 7. November 2021

Ihr alle könnt das auch

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Der Glanz des Sonnenkönig verblasste als die Flüchtlinge kamen

Von Jagoda Marinic

Angela Merkel hat über ihre Ost-Biografie lange geschwiegen. Das war keine Anpassung aus Macht Kalkül, sondern kluges Rollenverständnis.

Angela Merkel sitzt in der ersten Reihe im Bundeskanzleramt und blickt auf ihr Redemanuskript. Gefeiert werden 60 Jahre Gastarbeiteranwerbeabkommen. Ich sitze hinter ihr und beobachte sie eine Spur zu durchdringend, als ob man, nur weil man direkt hinter einem Menschen sitzt, den man sonst aus der Ferne und den Medien kennt, ihn besser verstehen könnte. Merkel zu durchdringen, das ist mir in sechzehn Jahren nicht gelungen.

Merkel geht ans Pult und hält ihre Rede über das deutsche Wirtschaftswunder, über die Wichtigkeit der Gastarbeiter für dieses Wunder. In meinem Kopf hallt der Konsenssatz, Merkel könne nicht mitreißend reden, und doch sehe ich eine Kanzlerin, die es an jenem Tag unbedingt versuchen will. Das war im Dezember 2015, das Jahr, in dem Merkel sicher war: „Wir schaffen das!“ Und viele schrien: „Nein, das schaffen wir nicht!“

Merkel redete also über Kontinuität und Erfolg des Einwanderungslands Deutschland. Sie brauchte diese Erfolgsgeschichte. Ihre humanistische Entscheidung wurde ihr schon zum Vorwurf gemacht. Ein historischer Fehler soll es gewesen sein, als sie die Grenzen nicht schließen ließ. Dabei sind fast zehn Millionen Ehrenamtliche Merkels „Wir schaffen das“ gefolgt. Selten wird 2015 aus der Sicht der Helfenden erzählt.

Mir war damals im Kanzleramt klar, sie hängt sich auch aus Eigennutz an diesem Tag so rein. Wir, die Millionen Einwanderer von damals und ihre Nachfahren sollten jetzt endlich zur Erfolgsgeschichte erklärt werden, damit die Schlussfolgerung nahe liegt: die eine Million Geflüchteter schaffen wir erst recht. Aber Eigennutz und Altruismus schließen sich nicht immer aus.

Subtile Arten der Machtdemonstration

Sie hat mich berührt an jenem Tag. Sie wollte die alten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter ohne deutschen Pass an jenem Tag davon überzeugen, dass sie auch ihre Kanzlerin ist. Zu uns Jüngeren sagte sie: „Lassen Sie sich nicht einschüchtern, die anderen kochen auch nur mit Wasser.“ Ich schluckte kurz, das lag nicht an diesem schlichten Satz, sondern an der Körperkraft, mit der sie diese Worte sprach. Sie weiß, was es heißt, unterschätzt zu werden. Alle, die an diesem Tag im Kanzleramt waren, wissen das.

Als sie fertig ist, sitzt sie für ein paar Minuten wieder an ihrem Platz. Unvermittelt steht sie auf und verlässt den Saal, Sicherheitskräfte rennen ihr hastig nach. Es waren diese subtilen Arten der Machtdemonstration, diese kleinen Inszenierungen, die mich auf Veranstaltungen mit ihr immer wieder beeindruckt haben. Sie beherrscht das.

Drehscheibe Köln-Bonn Airport - Ankunft Flüchtlinge 27. September 2015-0047.jpg

Merkel überließ den Führungsstab den Uferlosen aus Bayern

Eine alte kroatische Dame im Saal war mit ihrer Familie angereist. Um Merkel zu danken, hatte sie ein Paar auf traditionelle Art gestrickte Wollsocken dabei. Sie hielt sie in ihren alten Händen, in einen Gefrierbeutel gepackt. Nachdem ich auf dem Panel war, kam sie zu mir und legte die Wollsocken in meine Hände: „Die habe ich für Frau Merkel gemacht, aber sie musste schon weg. Darf ich sie Ihnen geben, sie haben auch gut gesprochen.“ Die Familie machte das Erinnerungsfoto vom Tag im Kanzleramt dann mit mir statt mit Frau Merkel.

Sie spielte die Gesellschaft nicht gegeneinander aus

Für Menschen, die als Ausländer hier leben oder die Kinder von Gastarbeitern sind, wurde Merkel die Kanzlerin der Erlösung. Es war vorbei mit der Drastik, mit der Kohl gegen uns Stimmung machte. Aus Merkels Mund haben die alten Gastarbeiter kein schlechtes Wort über Ausländer gehört, keine Demütigungen.

Sie spielte Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten nicht gegeneinander aus. Helmut Kohl beleidigte die Familie Genç noch in ihrer Trauer, als er nach dem Brandanschlag nicht nach Solingen fuhr, weil er ja keinen Beileidstourismus betreiben wollte. Merkel ließ für die Opfer des NSU eine Trauerfeier ausrichten.

Doch wie häufig während Merkels Regierungszeit fehlen zu den vorbildlichen Worten die für die Politik entscheidenden Taten. Die Familien der Mordopfer des NSU wissen bis heute nicht genug über die Mordserie: Die Akten werden nicht freigegeben.

Das ist nur ein Beispiel für die Schattenseiten der Kanzlerin Merkel: Es fehlten in ihrer Regierungszeit einige politische Maßnahmen, um diese Verbrechen lückenlos aufzuklären. Ich weiß nicht, wie viele sich vor Augen führen, was es für türkeistämmige Deutsche bedeutet, wenn die Namen der Menschen, die für die Normalisierung des Einwanderungslands Deutschland hätten stehen können, die Namen sind, die wie ein Mahnmal vor der Gewalt des Rechtsextremismus waren. Die türkeistämmigen Mitbürgerinnen sind die größte Minderheit in diesem Land.

Viel Richtiges, trotzdem zu wenig

So ist das mit Frau Merkel: Sie steht für das Richtige und dennoch wünscht man sich oft, sie würde es noch deutlicher umsetzen. Merkel wurde 2015 als Mensch sichtbar. Ihr Satz „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns entschuldigen zu müssen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mehr mein Land!“ erzählt mehr über ihren Wertekompass als vieles, das man die Jahre zuvor von ihr gehört hatte.

Doch statt diese Haltungen politisch umzusetzen, überließ sie das Feld den schwachen CSU-Männern um sie herum, ließ sich demütigen von Horst Seehofer und das Asylrecht wurde weiter ausgehöhlt. Seehofer konnte immer wieder auf der Hassklaviatur gegen Einwanderer spielen.

Angela Merkel mit Horst Seehofer 1738.jpg

und dieser stärkte sein nie vorhandenes Image mittels Abschiebungen und den drastischen Aktionen seiner  gefühlt, braunen Uniformkohorten.

Manchmal war Deutschland für sie zu provinziell

Dieser ungehobelte Bayer hat die mächtigste Frau der Welt mit gesenktem Kopf dastehen lassen, weil er sie für ihre Flüchtlingspolitik demütigen wollte. Merkel, deren Augenrollen über Putin in den sozialen Medien Meme-Geschichte geschrieben hat. Die bei ihrem Besuch im Weißen Haus mit ihrem lässigen Schulterzucken Trump zum trotzigen Jungen im Sessel machen konnte.

Manchmal war Deutschland zu provinziell für Merkel, die Weltpolitikerin. Nicht, weil sie abgehoben wäre, sondern weil sie global denkt. Das ist den auf Innenpolitik fokussierten Deutschen nur schwer zu vermitteln. Wenn man sieht, mit wie viel Achtung Barack Obama oder Emmanuel Macron von Merkel Abschied nehmen, so muss man anerkennen: Es ist auch eines ihrer Verdienste, den deutschen Provinzialismus überwunden zu haben. Sie wusste internationale Freundschaften zu pflegen. Kohl wird gefeiert als Kanzler der Wiedervereinigung, als Kanzler, der Europa im Blick hatte. Merkel muss man anders bewerten. Barack Obama bezeichnete sie als „the leader of the free world.“

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Haut Ludwigs XVI. gehüllt. Diese Idee für diese Karikatur traf mich, als ich den Wikipedia-Artikel über die französische Revolution las.

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2.) von Oben         —     Drehscheibe Köln/Bonn Airport – Ankunft von Flüchtlingen von der deutsch/österreichischen Grenze mit einem Sonderzug der Deutschen Bahn im Bahnhof des Kölner-Bonn-Flughafen. Auf einer Freifläche oberhalb des Bahnhofs sind Versorgungszelte für die Flüchtlinge aufgebaut, in denen sie etwas essen können, mit Kleidung versorgt werden, ihre Handys aufladen können und bei Bedarf ärztlich versorgt werden. Nach ca. 2 Stunden Aufenthalt werden sie mit Bussen zu den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes NRW weitergefahren. Foto: Flüchtlinge verlassen den Bahnhof und gegen hoch an die Oberfläche zu den Versorgungszelten

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