Geburtshelferin der AfD
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 29. August 2017
Angela Merkel und das Versagen der deutschen Linken
Mit Zeigefinger reicht es bis zwei
von Stephan Hebel
enn am 24. September der neue Bundestag gewählt wird, spricht viel dafür, dass Angela Merkel mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl gleichziehen und zum vierten Mal gewinnen wird. Was aber bleibt von der dritten Amtszeit der CDU-Vorsitzenden als Bundeskanzlerin?
Was die innenpolitische Konstellation betrifft, ist Merkels dritte Regierungsperiode von einer einschneidenden, ja historischen Veränderung geprägt. Nach den Grünen in den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und nach der Linken in den nuller Jahren scheint sich zum dritten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eine neue Kraft im Parteiensystem der Bundesrepublik zu etablieren. Und erstmals – zumindest erstmals seit den vorübergehenden Erfolgen der NPD zwischen 1966 und 1968 – fand diese Ausdifferenzierung nicht im eher linken Teil des politischen Spektrums statt, sondern an seinem rechten Rand. Der zeitgenössische Nationalismus, anderswo in Europa schon länger auf dem Vormarsch, hat nun auch in Deutschland seine eigene Partei: die AfD. Und die hier und da gehegte Hoffnung, die „Alternative“ werde sich schon noch von selbst erledigen, wurde vom Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen jedenfalls nicht genährt: Kurz nach der faktischen Entmachtung der bisherigen Parteivorsitzenden Frauke Petry reichte es immer noch für 7,4 Prozent.
Der Aufstieg der AfD ist mit einer einzigen Ursache zwar nicht zu erklären. So dürfte ein Teil ihrer Wählerschaft über gefestigte rechtsextreme Einstellungen verfügen und bei früheren Wahlen für die NPD gestimmt oder Enthaltung geübt haben. Für einen anderen Teil, der eher aus dem „bürgerlichen Lager“ kommt, wird sie dadurch wählbar, dass der Rechtspopulismus in großen Teilen Europas inzwischen salonfähig geworden ist, was den offiziellen antirassistischen Konsens auch bei uns ins Wanken gebracht hat.
Aber auch mit dem politischen Versagen dieser Kanzlerin im vergangenen Jahrzehnt haben die Erfolge der AfD eine Menge zu tun – wenn auch auf ganz andere Weise, als von den Rechtspopulisten und ihren heimlichen Gesinnungsgenossen in den Unionsparteien behauptet.
Der Neorassismus der AfD und das Versagen der Kanzlerin
Auf den ersten Blick hängt der Aufstieg der AfD aus zwei Gründen mit der Merkelschen Politik zusammen, die in der politischen Publizistik gerne angeführt werden. Erstens: Mit der Entscheidung vom September 2015, die Grenzen vorübergehend für Flüchtlinge zu öffnen, habe die Kanzlerin den Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ erst richtig in Gang gebracht. Und zweitens: Die CDU-Vorsitzende habe ihre Partei insgesamt „nach links“ geführt und damit das nationalkonservative Wählerpotential gewissermaßen zur Flucht in eine neue politische Heimat gezwungen.
Vor allem der rechte Flügel der CDU und die CSU vertritt die Ansicht, die Grenzöffnung im September 2015 sei sozusagen eine Provokation gewesen, die die Freunde der Abschottung in die Arme der AfD getrieben habe. Damit wird dann die Forderung begründet, dem Wählerpotential rechtsaußen durch einen noch restriktiveren Umgang mit Zuwanderern entgegenzukommen. Das ist, nebenbei bemerkt, umso erstaunlicher, als die Flüchtlingspolitik der Großen Koalition ohnehin nie so liberal war, wie immer wieder behauptet wird. Spätestens mit dem Deal zwischen der EU und Erdoğan Regime in der Türkei ist aus einer Politik des Willkommens endgültig wieder eine Politik der Abschottung geworden – in beachtlichem Widerspruch zum flüchtlingsfreundlichen Image der Kanzlerin.
Die Position der unionsinternen Hardliner lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: „Das CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn hat die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung für das Erstarken des Rechtspopulismus mitverantwortlich gemacht. Der Rechtsruck und die Wahlergebnisse der AfD seien eine Gegenreaktion der Gesellschaft. […] Der CDU-Politiker plädierte dafür, Druck auf Migranten auszuüben, wenn sie Angebote für die Integration – wie etwa Deutschkurse – nicht annehmen. […] Damit könnten viele Wähler, die bei der rechtspopulistischen AfD gelandet sind, zurückgewonnen werden.“
Tatsächlich mag die beherrschende Rolle, die das Flüchtlingsthema seit dem Sommer 2015 einnahm, die Anziehungskraft der neuen Rechtspartei für einen Teil der Wählerschaft zusätzlich gesteigert haben. Offensichtlich ist es der AfD gelungen, Frust und Wut über die Politik der etablierten Parteien auf dieses eine Thema zu lenken und in Wählerstimmen für eine Ideologie zu verwandeln, die die Lösung aller Probleme durch nationale Abschottung und ethnische Homogenität verspricht. Auch bei der NRW-Landtagswahl im Mai stand das Flüchtlingsthema bei den AfD-Wählern mit Abstand an erster Stelle: 61 Prozent von ihnen bezeichneten es als für sich „wahlentscheidend“. Allerdings wäre es fahrlässig, daraus einen derart eindimensionalen Zusammenhang zu konstruieren wie der CDU-Politiker Spahn. Das Flüchtlingsthema mag ein zusätzlicher Katalysator gewesen sein, aber die Stabilisierung der selbst ernannten „Alternative“ hatte sich schon vorher längst angedeutet. So war die AfD nach der Bundestagswahl von 2013 in alle Landtage eingezogen, die neu gewählt wurden. Das heißt: Schon vor der vorübergehenden Grenzöffnung im September 2015 hatte der neue Nationalismus auch in Deutschland sein parteipolitisches Gefäß gefunden – wenn auch zunächst eher in seiner antieuropäischen als in der neorassistischen Ausdrucksform.
Wer also Frust, Wut und Entfremdung von der Politik der „Eliten“ allein auf die Zuwanderung und die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zurückführt, ist der heutigen AfD-Propaganda, wonach die Migranten für so ziemlich alle Probleme verantwortlich seien, schon zur Hälfte aufgesessen. Damit werden die tieferen Ursachen der Unzufriedenheit durch einen Sündenbock ersetzt – und wer so argumentiert wie der CDU-Politiker Jens Spahn, muss sich für dieses Ablenkungsmanöver mitverantwortlich machen lassen.
Die »linke Wende« der Angela Merkel
Aber da ist noch eine zweite Erklärung, die sich erstaunlicher, aber unverdienter Beliebtheit erfreut. Sie lautet, mit den Worten des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler: „Frau Merkel hat die CDU nach links verschoben, oder sie hat sogar die Mitte nach links verschoben.“ An dieser These ist zwar nicht alles falsch: Gemessen an ihrer früheren Programmatik, also aus stramm rechtskonservativer Perspektive, hat die CDU-Vorsitzende ihre Partei tatsächlich in bestimmten Bereichen nach „links“ geöffnet. Treffender allerdings wäre die Formulierung: Sie hat ideologische Positionen geräumt, die angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung ohnehin nicht haltbar gewesen wären, ohne das liberal-konservative Bürgertum zu verlieren.
Die Energiewende, die Abschaffung der Wehrpflicht, der Ausbau der Kinderbetreuung, um nur die am häufigsten genannten Beispiele zu nennen, – all das sind vor allem Zugeständnisse an einen allgemeinen Bewusstseinswandel, der über linke Kreise längst weit hinausgegangen ist. Öko-Bewusstsein und Sorge wegen des Klimawandels, Skepsis gegenüber Zwangsdiensten, die die Karriereplanung der Söhne behindern, und den Wunsch vieler Frauen nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf – all das hat ja Angela Merkel nicht erfunden, sondern vorgefunden und mit ihrem ausgeprägten Sensorium für die gesellschaftliche Stimmung schneller erkannt als andere in ihrer Partei. Das Besondere liegt eher darin, dass sie die Politik der Union an diesen Stellen tatsächlich korrigiert hat – ganz anders als beispielsweise in der Frage der Vermögensverteilung oder bei der Beteiligung der Bundeswehr an Kriegseinsätzen.
Das hat seine Gründe. Die Energiewende, die Abschaffung der Wehrpflicht und eine bessere Familienpolitik haben eine grundsätzliche Gemeinsamkeit: Sie kommen einerseits vielen Bürgerinnen und Bürgern entgegen und stellen insofern echte Modernisierungsschritte dar. Sie liegen aber andererseits auch im Interesse „der Wirtschaft“. Bei der Wehrpflichtabschaffung und der Kinderbetreuung liegt das auf der Hand: In beiden Fällen wird eben auch die Rekrutierung von Arbeitskräften – hier Nachwuchs, da Frauen – erleichtert. Selbst die Energiewende stellt zwar einige Stromkonzerne vor größere Schwierigkeiten, liegt aber längerfristig ebenfalls im Interesse der meisten Firmen und ihrer Energieversorgung. Gerade hier hat sich zudem auch gezeigt, dass der Merkelsche Modernisierungswille genau dort seine Grenzen hat, wo es den Unternehmen wehzutun beginnt – und das ist alles andere als links.
Die CDU-Vorsitzende führt, ihrer realen Politik zum Trotz, auch in diesem Jahr wieder einen „Kanzlerin für alle“-Wahlkampf. „Zu dem, was mir Mut für unser Deutschland macht, gehört auch unsere soziale Marktwirtschaft. Sie lässt uns Krisen und Veränderungsprozesse besser meistern als jedes andere Wirtschaftssystem auf der Welt. Noch nie hatten so viele Menschen Arbeit wie heute. Unsere Unternehmen stehen überwiegend gut da. Unser wirtschaftlicher Erfolg gibt uns die Möglichkeit, unser Sozialsystem zu stärken und all denen zu helfen, die Hilfe brauchen“, sagte sie in ihrer Ansprache zum Jahreswechsel 2016/2017. Will sagen: „Unser“ Deutschland, „unsere“ soziale Marktwirtschaft, „unsere“ Unternehmen, „unser“ wirtschaftlicher Erfolg und noch dazu „unser“ Sozialsystem – das große „Wir“ läuft wie geschmiert, der Kanzlerin sei Dank.
Umso wichtiger ist es gerade in Wahlkampfzeiten, diesem schönen, harmonischen Deutschland-Bild ein paar Hinweise auf Merkels reales Handeln entgegenzusetzen. In Wahrheit prägt neoliberales Denken ihre Politik nicht nur in der Euro- und Bankenkrise. Dass der Markt die Bühne zu beherrschen habe; dass der Staat nicht etwa aktiv einzugreifen habe als Wächter über die gerechte Verteilung von Reichtümern und Risiken, sondern möglichst kleingespart werden müsse – dieser Ideologie folgt Merkels Regierung auch auf den Feldern der ökonomischen und sozialen Daseinsvorsorge. Punktuelle Ausnahmen wie die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns oder der Ausbau der Kinderbetreuung sind natürlich zu begrüßen. Aber die verbreitete Ansicht, sie hätten etwas mit einem grundlegenden Politikwechsel zu tun, geht in die Irre.
Es bleibt vielmehr dabei: Unternehmen werden systematisch entlastet und vor staatlicher Regulierung geschützt. Kosten und Risiken der Daseinsvorsorge werden der solidarischen Verteilung entzogen und dem Einzelnen auferlegt – siehe nur den zähen Widerstand der Union gegen jedes Konzept, die solidarische Rentenversicherung zu stabilisieren. Hinter der Legende, Angela Merkel habe ihre Partei oder gar das Land „nach links gerückt“, verbirgt sich die Fortsetzung eines im Kern neoliberalen Kurses. Und am Ende wundern sich alle, wenn Wut und Enttäuschung um sich greifen und den Propagandisten nationalistischer Scheinlösungen zu Erfolgen verhelfen.
Kurzum: Die beiden gängigen Erklärungsversuche für den Aufstieg der AfD, Merkels Fluchtpolitik und die Modernisierung der Union, spielen zwar eine Rolle, aber den Kern des Problems treffen sie nicht. Das Gegenteil, so meine These, ist der Fall: Die deutsche Bundeskanzlerin und ihre Regierungen haben den Aufstieg des Nationalpopulismus nicht durch die fortschrittlichen Elemente ihrer Politik begünstigt – die im Übrigen so zahlreich, wie vielfach behauptet wird, gar nicht sind. Der Erfolg der AfD hat vielmehr vor allem damit zu tun, dass der Merkelismus sich in zentralen Fragen gerade nicht nach links geöffnet hat, sondern jede Kurskorrektur hin zu einer fortschrittlicheren Politik bis heute verweigert.
Der Rechtspopulismus, der aus der sozialen Kälte kam
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Quelle | Flickr: Angela Merkel – World Economic Forum Annual Meeting 2012 | |||||
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