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„Die ganze Geschichte“

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 27. Dezember 2017

Yanis Varoufakis
Ein Blick in den tiefen Staat der Europäischen Union

File:Yanis Varoufakis - El Desperttador 2016.jpg

Rationalgalerie

Autor: Christina Papadimitriou und Marc Britz

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Buchtitel: Die ganze Geschichte
Buchautor: Yanis Varoufakis:
Verlag: Antje Kunstmann GmbH

Im Gegensatz zum ehemaligen niederländischen Vorsitzenden der EURO-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, hat Yanis Varoufakis nie unrechtmäßig akademische Titel geführt. Er hat auch nie, wie der ehemalige Finanzminister Deutschlands, Wolfgang Schäuble, größere Summen Bestechungsgeld der Waffenindustrie veruntreut. Varoufakis wurde vom 27. Januar bis zum 6. Juli 2015 auf den Posten des Finanzministers der griechischen Regierung aus der politischen und finanziellen Unabhängigkeit einer erfolgreichen internationalen akademischen Laufbahn berufen. Er hat also auch, anders als der immer noch amtierende und von jedem Fachwissen befreite, griechische Regierungschef Alexis Zipras, keinen Hintergrund im Parteienklüngel der SYRIZA. Varoufakis’ Englisch ist elegant, er doziert eloquent und er vermag es seine politischen Gegner auf fachlicher Ebene sachlich durchaus hart anzugehen, ohne diese dabei persönlich oder gar rassistisch herabwürdigen zu müssen. Eigenschaften, die Schäuble oder Dijsselbloem für sich gewiss nicht ohne weiteres in Anspruch nehmen können. All das darf bei einer Besprechung seines neuesten Buches mit dem deutschen Titel „Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment.“ nicht vergessen werden: Es ist Varoufakis durchaus abzunehmen, dass er aus intellektueller Überzeugung und mit echter moralischer Indignation schreibt. Was er schreibt hat Konsistenz, denn Varoufakis hat den politischen Standpunkt, den er in diesem Buch einnimmt, schon seit dem Beginn der Bankenkrise im Jahr 2008 in seinem Blog und anderen Veröffentlichungen konsequent vertreten und weiterentwickelt. Mehrere seiner früheren Voraussagen haben sich dann sehr zum Leidwesen der Beteiligten bewahrheitet.

Varoufakis’ Standpunkt, seine Amtshandhabung und die gemachten Vorschläge zur Beilegung der Krise sind die eine Sache. Eine andere Sache sind aber zunächst einmal die politischen Verhältnisse, die er laut Text in den europäischen Institutionen vorfinden musste. Varoufakis beschreibt nämlich detailliert was hinter den geschlossenen Türen jener staatlichen und überstaatlichen Einrichtungen stattfand, die an der von der SYRIZA-ANEL Regierung angestrebten Wiederverhandlung des griechischen Schuldenprogramms beteiligt waren. Der Wert allein dieser Aufzeichnungen kann eigentlich nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn nun liegt ein Beweisstück eines hochrangigen Insiders vor, der jene undemokratischen Prozesse innerhalb der EU schwarz auf weiß fasst, über die kritische Beobachter der EU bisher zu spekulieren gezwungen waren. Erpressung, Lüge, Medienmanipulation, Versuche der Machthaber unangenehme Verhandlungspartner durch genehmere, willigere auszutauschen und die generelle Unterwerfung der Europäischen Kommission unter illegale und demokratisch nicht legitimierte Kräfte sind demnach an der Tagesordnung im Getriebe der EU. Varoufakis beschreibt anschaulich die Strategien mit denen jegliche Versuche konstruktive Gespräche aufzunehmen systematisch sabotiert wurden um die Macht des Stärkeren aufrecht zu erhalten.

So ist es stellenweise atemberaubend zu lesen, wie Frau Merkel und ihr Dr. Schäuble die normalerweise als kleiner Schwachpunkt der EU heruntergespielte institutionelle Intransparenz geradezu meisterhaft dazu nutzten, um ihre Gegner zur Unterwerfung zu zwingen. Da können Vorschläge endlos zwischen den Institutionen hin- und hergeschoben werden um sie unwirksam zu machen, da können Entscheidungen endlos aufgeschoben werden um dem Gegner zu schaden, und da können demokratisch gewählte Gesprächspartner von inoffiziellen Funktionären wie Luft behandelt werden, allein nur weil es keinerlei Vorschriften für die Abläufe der Verhandlungen gibt. Die Kernaussage des Buches ist deswegen auch, dass die europäische Demokratie in jenem Moment starb, als die EURO-Gruppe die Macht an sich nahm, um den EU- Mitgliedsstaaten die eigene ökonomische Politik zu diktieren, ohne in Wirklichkeit selbst auch nur eine Spur von föderativer, demokratischer Souveränität zu besitzen. Selbst wenn man Varoufakis sonst keine Glaubwürdigkeit zubilligen will, kann man zwei einfache Fakten zum demokratischen Status der EU – die er an einem eindrücklichen Beispiel offenlegt – nicht weiter ignorieren: Als der Präsident der EURO-Gruppe ein Kommuniqué ohne Erlaubnis Griechenlands veröffentlichte und eine Neuversammlung der Gruppe ohne Einladung Griechenlands anberaumte, liess Varoufakis beim Sekretariat der EURO-Gruppe anfragen, ob dieses Vorgehen überhaupt regelkonform sei. Die Antwort war, dass die EURO-Gruppe eine informelle Versammlung der Finanzminister der Eurozone sei, und dass es deswegen keinerlei geschriebene Gesetze gäbe, an welche die Handlungen des Präsidenten gebunden wären. Es ist demnach einfacher Fakt, dass die EURO-Gruppe keinerlei legale Basis in den von ihr beschlossenen EU-Verträgen hat, und dass dieses Gremium trotzdem die wichtigsten Entscheidungen in der EU fällt. Dazu kommt ein weiterer einfacher Fakt: Pierre Moscovici, Wirtschafts- und Währungskommissar der EU-Kommission, nennt Varoufakis’ Bericht fiktional ohne dies beweisen zu können: Es gibt nämlich auch keine offiziellen Aufzeichnungen der Gespräche in der EURO-Gruppe. Zur Illegalität gesellt sich so die Intransparenz. Alleine diese beiden einfachen Fakten sollten eigentlich alle wirklich demokratischen Kräfte Europas in der Wut über diese nicht hinnehmbaren Zustände vereinigen. Wenigstens aber haben die Befürworter der EU und ihrer Institutionen nun ein Problem mit ihrer Legitimation: Sie können zum Beispiel Indien nicht länger mangelnde Sozialstaatlichkeit und schlechte Arbeitsbedingungen vorhalten und gleichzeitig einer Politik applaudieren, welche diese in Teilen der EU einführen will. Und sie können zum Beispiel China keinen Mangel an Demokratie vorwerfen, während sie die Rolle einer illegitimen Vereinigung wie der EURO- Gruppe akzeptieren. Dies klar offengelegt zu haben, ist ein großer Verdienst.

Kommen wir zum Schluss zur Sache der Beilegung der Krise. Das Buch endet natürlich mit Varoufakis’ Vorschlag wie die Situation zu lösen sein könnte. Er glaubt dass es nötig sei, Landesgrenzen und politische Lager zu überbrücken, um aufzuhalten was er einen Abstieg Europas in eine postmoderne Version der 30er Jahre nennt. Zu diesem Zweck hat er DIEM25 gegründet. Das Ziel der Organisation ist nichts weniger als die Demokratisierung jener Institutionen die Varoufakis in so untragbaren Zuständen gefunden hat. Dabei ist er zugegebenermassen selbst nicht sonderlich optimistisch was den Erfolg dieses Anliegens betrifft. Varoufakis’ Pessimismus in dieser Hinsicht ist gerechtfertigt. Denn dank diesem Buch wird auch klar dass die Wahl seiner Verbündeten innerhalb der eigenen Partei ein Hauptgrund für Varoufakis’ Misserfolg in den Brüsseler Verhandlungen war. Das Establishment verhielt sich ja schließlich genau so wie man es erwarten würde; es ist keinen Zentimeter gewichen. Wenn man sich nur vor Augen führt, dass es innerhalb der SYRIZA zwei konkurrierende Teams für die Verhandlungen in Brüssel gab – eines für die tatsächlichen Verhandlungen und eines um die „radikale“ Parteibasis ruhig zu stellen – wird schnell klar, dass das Scheitern letzten Endes an der Uneinigkeit in den eigenen Reihen lag. Es ist tragisch, dass ausgerechnet diese „radikalen“ Kräfte aus der SYRIZA heute mehr denn je zur Durchführung jenes unmenschlichen Programms beitragen von dem sie einmal sagten dass sie es abschaffen würden. Allerdings deutet die Wahl der Verbündeten für Diem25 in Deutschland leider nicht darauf hin, dass Yanis Varoufakis von seinen bisherigen Fehlern in dieser Hinsicht lernen konnte.

Letzten Endes sind Varoufakis’ Vorschläge ohnehin an eine Öffentlichkeit adressiert, die, wie er selbst, nach wie vor an die repräsentative Demokratie auf der Ebene einer Europäischen Union glaubt. Aber selbst wenn man daran nicht mehr glauben will, ist das Buch immer noch als außerordentlich scharf geratenes Röntgenbild des jetzigen Zustands der EU brauchbar.


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Español: Yanis Varoufakis en una entrevista a El Desperttador el 20 de febrero de 2016 en Madrid.
Date
Source Desperttando con Varoufakis. Tenemos un Plan B (at 3min 12s)
Author El Desperttador (youtube)
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