Die falsche Freiheit
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 13. Juli 2021
Ausbeutung bei Lieferdiensten
Von Yannik Haan
Digitale Lieferdienste stehen für ein Arbeitsprinzip, das sich immer mehr ausbreitet. Die Auftragsvergabe durch Algorithmen macht die Menschen einsam.
Dieser Text muss mit einem Eingeständnis beginnen: Die Missstände, die ich beklage, wurden auch durch mich herbeigeführt. Ich war bislang nicht Teil der Lösung, sondern eher des Problems: Lieferdienste für Essen oder Lebensmittellieferungen innerhalb von zehn Minuten – Apps, die mir diese Dienste ermöglichen, sind auch auf meinem Handy installiert. Wenn ich Sonntagabend auf dem Sofa liege und zu faul zum Kochen bin, bestelle ich schon mal Essen. Statt noch mal zum Supermarkt zu gehen, lasse ich mir die Lebensmittel liefern.
Damit bin ich in meiner Generation nicht allein. Wir sind es gewöhnt, eine Vielzahl an digitalen Dienstleistungen rund um die Uhr zur Verfügung zu haben. Nur die wenigsten fragen sich dabei, was das eigentlich mit unserer Gesellschaft macht.
In letzter Zeit wurde oft über die schlechten Arbeitsbedingungen der Kurierfahrer*innen diskutiert. Beim Lebensmittellieferdienst Gorillas streiken die Fahrer*innen mittlerweile fast täglich. Der Versuch der Gründung eines Betriebsrats wurde von der Geschäftsführung torpediert. Ein Schema, das man bereits von anderen digitalen Unternehmen kennt: Arbeitnehmer*innenrechte werden dort möglichst schnell und effektiv bekämpft.
Doch hinter diesen Konflikten steckt mehr als nur der klassische Arbeitskampf: Es geht um ein neues Prinzip des Wirtschaftens. Die schlechte Behandlung der Arbeitnehmer*innen ist nicht der singuläre Ausfall einer Geschäftsführung. Es ist ein neues digitales Arbeitssystem, das hier installiert wird und das sich auf immer neue Bereiche der Wirtschaft ausdehnen wird, wenn wir nicht schnell reagieren.
Bewusst herbeigeführte Einsamkeit
Nun ist die Ausbeutung der Arbeitnehmer*innen kein neues Phänomen. Sie ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Heute haben sich allerdings einige Grundpfeiler verschoben. Im digitalen Kapitalismus sind der Markt und das Unternehmen oft identisch. Nehmen wir etwa Amazon: Hier werden die Kund*innen systematisch an proprietäre Märkte gebunden. Während es im Fordismus um die effiziente Nutzung von Arbeitskraft ging, geht es in der digitalen Wirtschaft darum, selbst der Markt zu sein.
Das erklärt auch die unfassbaren Summen, die diesen jungen Unternehmen zur Verfügung stehen. Gorillas wurde zuletzt mit über einer Milliarde Euro bewertet. Entsteht ein neuer Markt, wird dort viel Geld hinein gepumpt, damit das Unternehmen sehr schnell selbst zum Markt wird. Aggressivität lässt dabei den Shareholder Value steigen. Frei nach dem früheren Facebook- Motto: „Beweg dich schnell und mach Sachen kaputt“.
Doch im Digitalen haben sich auch die Arbeitsbedingungen verändert. Die Lieferdienste bieten erstmals vollständig per Algorithmus gesteuerte Jobs an. Die Fahrer*innen melden sich in der App an, der Algorithmus erteilt die Aufträge – die Entmenschlichung der Arbeitswelt. Während auf den Werbeprospekten mit Worten wie „Team“ und „Community“ geworben wird, bieten diese Unternehmen vor allem eins: Einsamkeit.
Eine Einsamkeit, die sehr bewusst herbeigeführt wird. Alles, was Gemeinsamkeit schafft, alles, wo Menschen zusammenkommen, erzeugt Reibung. Und Reibung ist Sand im Getriebe der digitalen Lieferdienste. Konzerne versuchen so, eine in Gänze singularisierte Arbeitsumgebung zu schaffen. Ein Mitspracherecht gibt es in diesem System nicht mehr – mit Algorithmen lässt sich auch schwer diskutieren. Nichts stört die Effektivität und den Gewinn des Unternehmens.
Soziale Marktwirtschaft geht anders
Die Steuerung von Arbeitnehmer:innen per Algorithmus ist ein Prinzip, das sich immer tiefer in unsere Arbeitswelt einschleicht; die Lieferdienste sind nur die Speerspitze dieser neuen Bewegung. Viele Bankberater*innen füttern den Algorithmus nur noch mit Daten. Selbst die Polizei wird in einigen Ländern mittlerweile vom Algorithmus gesteuert, indem dieser sagt, wo in der Stadt es sich lohnt, hinzufahren.
Quelle : TAZ -online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Carril bici al Jardí del Túria