Die Documenta 2022
Erstellt von Redaktion am Samstag 25. Juni 2022
Die »Judensau« von Kassel
Eine Kolumne von Thomas Fischer
In Kassel implodierte die Kunst. Der identitäre Kulturkram verkrümelte sich; zurück blieben verstörte Sozialpädagogen. Nicht tragisch!
Eine, zwei, viele Schanden
In dieser Woche muss man vermutlich etwas zur Documenta 15 sagen, die in einer anderen Kolumne ein bisschen robust als »Antisemita 15« bezeichnet wurde und von »Bild« als »Kunstausstellung der Schande«, was auf unangenehme Weise die bekannte Höcke-Terminologie andeutet, in jedem Fall aber eine unangemessene Bedeutsamkeit ins Spiel bringt, wie sie auf »Bild«-Level gern mit dem – gern auch rassistisch konnotierten – Trash verschmolzen wird. Ansonsten, kleine Schlagzeilenauswahl: »Wie konnte das passieren?«, »Antisemitismus im Postkolonialismus«, »Das Kreuz des Südens«, »Die Schande der Documenta«, »Rocky Horror Picture Show«, »Die Kunst ist frei, aber…«, »Warum schaute Roth bei Judenhass weg?«.
Womit wir in der Abteilung »Rücktritte« gelandet wären. Selbstverständlich haben der Oberbürgermeister sowie die Landeskulturministerin die vollständige Unverzeihlichkeit, Unentschuldbarkeit, Unerträglichkeit und Unmenschlichkeit der Schande sogleich dem Publikum mitgeteilt, verbunden mit dem Hinweis, genau das hätten sie schon immer gesagt. Da kann mal also einen Rücktritt schon mal ausschließen. Frau Roth ist wie immer schwer betroffen, muss also ebenfalls nicht zurücktreten, wo sie doch sogar einmal »Managerin« von, äh, dem König von Kreuzberg war! Herr Steinmeier tritt auch nicht zurück, da er zwar eine Begrüßungsrede bei der Show der Schande hielt, aber zu Protokoll gab, das habe er sich echt lange überlegen müssen. Vorbildlich! Herr Bundeskanzler hat Glück gehabt; er konnte rechtzeitig absagen. Da wird es wohl ein paar aus der zweiten und dritten Reihe erwischen.
Verantwortungen
Die eigentlichen Verursacher, sogenannte Kollektive mit irgendeiner »kulturellen Identität«, jedoch – deshalb – ohne individuelle Verantwortungen, treten demnächst ebenfalls zurück, allerdings wohl nur per Flug nach Indonesien. Erstaunlicherweise, so muss man sagen, konzentrieren sich die Entsetzensschreie ganz auf die oben genannten deutschen Aufsichtspersonen: Irgendwie haben die begeisterten Veranstalter und Politiker offenbar die Pflicht verletzt, auf ihre ungezogenen Globalsüdkinder aufzupassen. Das ist eine »Aufarbeitungs«-Herangehensweise, die einem vertraut vorkommt.
Auch der Kolumnistenkollege hat einleitend klargestellt: »Es gibt eine breite Antisemitismusakzeptanz in Deutschland.« Ich bin mir nicht sicher, ob ich das so formuliert hätte, obgleich es, nach Auskunft der empirischen Sozialforschung, zutreffen dürfte. Allerdings ist alles und sogar dies relativ, und bei »Antisemitismusakzeptanz« würden mir spontan erst einmal ein paar Beispiele außerhalb Deutschlands einfallen. Es kommt darauf aber nicht an, denn das Banner der Documenta-Schande wurde ja, soweit ersichtlich, keinesfalls von einer breiten Akzeptanz besichtigt, gutgeheißen, aufgestellt und so weiter. Bevor man in die »Breite« geht, sollte man die Höhe und Tiefe ausloten. Und dass jetzt die Breite Deutschlands binnen zwei Tagen als Quell einer »Schande« ausgemacht ist, die in ungenügender Kontrolle über einige »Kollektive« dummer Südweltkinder bestand, überzeugt mich jedenfalls so lange nicht, wie nicht ein bisschen konkreter darüber gesprochen wird, wie sich das Grauen, das Entsetzen, die Empörung und die Schanden denn in den hiesigen Rahmen einordnen lassen, wenn alle Rücktritte abgewickelt sind und alle einmal zu Protokoll gegeben haben, dass man von jetzt an aber wirklich aufpassen sollte.