Die autoritäre Versuchung
Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 29. November 2015
Europas neue Linke zwischen Aufbruch und Populism
von Steffen Vogel
Historische Veränderungen der politischen Landschaft bahnen sich in zahlreichen europäischen Ländern an. Die griechische Syriza um Premierminister Alexis Tsipras hat sich binnen drei Jahren von einer randständigen Partei zur dominanten Kraft des linken Spektrums gewandelt; nach dem jüngsten Wahlsieg im September wird ihr dieser Status absehbar nicht zu nehmen sein. In Spanien bricht Podemos, trotz zuletzt schwächerer Umfragewerte, unwiderruflich das etablierte
Zweiparteiensystem auf. Schon jetzt regieren alternative Listen rund um die junge Linkspartei mehrere Großstädte, darunter Madrid, Barcelona und Saragossa. Trotz aller Rückschläge reüssiert insbesondere in Südeuropa eine neue oder neu erstarkte Linke, wie zuletzt im Oktober auch die Wahlen in Portugal zeigten, bei denen der Bloco de Esquerda überraschend zur drittstärksten Kraft aufstieg.
Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich ein irritierendes Bild. Wir erleben einerseits die überfällige Abkehr vom neoliberalen Trend der vergangenen Jahrzehnte. Daraus speisen sich auch die enormen Erwartungen, mit denen diese Newcomer von außen zuweilen regelrecht überladen werden. Die zugrunde liegenden Entwicklungen sind andererseits sehr viel uneindeutiger, als es das griffige Bild vom Linksruck suggeriert. Denn unter den Hoffnungsträgern gibt es eine unübersehbare Tendenz zum Populismus, die dem ersehnten Aufbruch massiv zu schaden droht.
Der Populismus jeglicher Couleur steigert eine weit verbreitete Abwendung von etablierten politischen Kräften, staatlichen Institutionen und großen Medien. Sie alle haben seit den 1980er Jahren überall in Europa schleichend an Vertrauen verloren, was in den Krisenjahren ab 2008 kulminierte. Lange als unpolitisch geltende Gesellschaften zeigen sich empfänglich für eine Generalkritik an „den Eliten“, die „das Volk“ betrogen hätten. Der wachsende Erfolg der Populisten gründet allerdings wesentlich auf den Ungleichheiten und Unsicherheiten, die jahrzehntelange neoliberale Wirtschaftspolitik erzeugt hat. Insofern reagieren populistische Kräfte auf ein tatsächlich bestehendes Problem, das sie aber gezielt fehlinterpretieren. Auf diesen sozioökonomischen Hintergrund geht Albrecht von Lucke in seiner Kritik am linken Populismus nur am Rande ein. Dabei sollte die Verantwortung neoliberaler Politiker für die wachsende gesellschaftliche Polarisierung nicht unterschätzt werden. Die etablierten Parteien sind nicht in jeder Hinsicht das gemäßigte Zentrum, als das sie sich gern sehen. Sie selbst haben lange die Wirtschafts- und Sozialpolitik ihrer Länder radikalisiert. Pointiert kommentierte das jüngst der „New Yorker“ mit Blick auf Großbritannien: „Die Konservativen sind die Extremisten. […] Sie betreiben eine ideologisch motivierte Anstrengung, den britischen Staat zu schrumpfen, insbesondere den Sozialstaat.“ Ähnlich wirkt auf kontinentaler Ebene Angela Merkels Eurokurs. Die von ihr geführten Regierungen setzen seit 2010 mit Hilfe der Märkte – und in deren Interesse – ein drastisches Anpassungsprogramm vor allem für Südeuropa durch. Im Namen der von Merkel mantrahaft beschworenen Wettbewerbsfähigkeit sollen dort nicht zuletzt die Lohnkosten sinken, um gegenüber aufstrebenden Ländern wie China bestehen zu können. Dies verschärft die Spaltung der europäischen Gesellschaften und des ganzen Kontinents. Das Misstrauen in die dominanten politischen Kräfte wächst aber auch deswegen, weil sich vielerorts keine parteipolitische Alternative bietet. Denn allzu oft unterstützen die Sozialdemokraten – lange auch die griechischen und spanischen – das Projekt eines „Merkelschen Konkurrenzeuropas zugunsten der Kapitalbesitzer“. Daraus speist sich der Eindruck einer abgeschotteten Elite, die die Sorgen ihrer Bevölkerung vernachlässige.
Die erste progressive Antwort darauf gaben in den Jahren nach 2008 zahlreiche Protestbewegungen, die ein Ende der Austeritätspolitik und mehr Demokratie forderten. Eine wichtige Rolle spielten in ihnen häufig ehemalige Aktivisten der globalisierungskritischen Bewegung wie der heutige Podemos-Chef Pablo Iglesias, Barcelonas neu gewählte Bürgermeisterin Ada Colau und Rena Dourou, die mittlerweile für Syriza Gouverneurin der Hauptstadtregion Attaka ist. Gaben sich die europäischen Globalisierungskritiker der 2000er Jahre noch weitgehend machtfern, setzte sich in den neuen Bewegungen schnell die Erkenntnis durch, dass Veränderungen in den Institutionen erkämpft werden müssen, da Straßenprotest sich aussitzen lässt. Viele Aktive wandten sich kleineren Parteien zu oder gründeten selbst welche.
So konnte die schottische Unabhängigkeitspartei SNP zum Vehikel dieses Aufbruchs werden, weil sie ein sozialdemokratisches Programm mit grünen, pazifistischen und einwanderungsfreundlichen Elementen vertritt. Im benachbarten Irland will Sinn Féin, einst politischer Arm der IRA, bei den Wahlen 2016 als Alternative punkten. Etablierter geht es in England zu, wo der neue Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn ähnliche Hoffnungen weckt Seine Wahl zum Parteichef verdankt er maßgeblich jenen Gruppen, die 2010 und 2011 massive Proteste organisiert hatten: Jugendliche und Gewerkschafter. Corbyns Labour ist ebenso wie die SNP insofern eine Besonderheit, als sie traditionsreiche Parteien mit viel akkumulierter Erfahrung sind, nicht zuletzt im Regierungsalltag. Manche jüngere Formation lernt hingegen erst noch den Politikbetrieb kennen. Das gilt etwa für die slowenische Združena levica, die sich an Syriza orientiert. Mit ihrem Wahlerfolg hat 2014 erstmals eine neu gebildete sozialistische Partei in einem ehemals realsozialistischen Land Fuß fassen können
Quelle: Blätter >>>>> weiterlesen
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Fotoquelle : Wikipedia – Urheber TLKVallecas –/– CC BY 3.0