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Der Deutsche Alltag

Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 17. Juli 2021

Kassel, Hanau, Halle – und München

Mcdonalds muenchen hanauer strasse oez.jpg

Von Dominik Baur

Am 22. Juli 2016 ermordete ein Jugendlicher bei einem Münchner Einkaufszentrum neun Menschen. Lange kämpften die Hinterbliebenen darum, dass das OEZ-Attentat als rassistischer Anschlag anerkannt wird. Nun fürchten sie das Vergessen.

Als der erste Schuss fällt, denkt sich Lumnije Azemi noch nicht wirklich etwas dabei. Hast du das gehört?, fragt sie ihren Mann. Sie weiß, wie Schüsse klingen, sie hat während des Krieges im Kosovo gelebt. Aber vielleicht war es ja doch nur ein geplatzter Luftballon. Sonst würden die Leute hier im McDonald’s wohl kaum so ruhig bleiben. Die Azemis sitzen mit ihren drei Kindern beim Essen. Draußen auf der Terrasse, gerade haben sie sich noch ein Eis geholt.

Es ist wenige Tage vor Ferienbeginn, sie freuen sich auf den Urlaub, wollen in das Kosovo fahren, Familie besuchen. Gegenüber im Olympia-Einkaufszentrum, dem OEZ, haben sie vorher noch ein paar Sachen dafür eingekauft. Sie wohnen in der Gegend und kommen gern hierher. Im McDonald’s können die Kinder zwischen Burger, Pommes und der Rutsche hin- und herspringen.

Es sind die Bilder dessen, was dann passierte, die Lumnije Azemi nicht mehr loswird. „Es ist für mich wie ein Film. Während ich jetzt darüber spreche, ist das, als hätte ich einen Fernsehbildschirm vor mir, und es laufen die ganzen Bilder von diesem Abend ab.“ Bilder wie ein Albtraum. Nur dass Azemi sie den ganzen Tag über sieht.

Azemi ist zum Gespräch in die Münchner Innenstadt gekommen. Zwischen Hamam und Trattoria hat sich hier in der Nähe des Sendlinger Tors in einem Rückgebäude die Opferberatungsstelle Before einquartiert. Before unterstützt Menschen, die in München von Diskriminierung, Rassismus und rechter Gewalt betroffen sind. Jetzt sitzt die 49-Jährige im Besprechungsraum und schildert den Inhalt dieses Filmes, der keiner ist. Lumnije Azemi ist eine Überlebende des Attentats am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, das sich am Donnerstag zum fünften Mal jährt.

Inzwischen weiß Azemi, warum es nach dem ersten Schuss so ruhig blieb. Ein Angestellter des McDonald’s hat ihr später erzählt, dass der Attentäter zunächst auf der Toilette die Waffe getestet habe. Es ist der Knall, den die Gäste in dem Moment noch nicht zuordnen konnten. Erst zehn Minuten später, vielleicht auch 15, das Eis ist noch nicht aufgegessen, fällt der zweite Schuss. Und der dritte und der vierte … Es hört nicht mehr auf. Allein in dem Schnellrestaurant soll der Attentäter 18 Schuss aus einer Glock 17, einer Selbstladepistole, abgefeuert haben. Ein Mitarbeiter kommt auf die Terrasse gerannt und schreit: Alle raus!

In Panik laufen alle, die eben noch auf der Terrasse saßen, los, versuchen sich in den benachbarten Saturn-Markt zu retten, etwa 50 Meter sind es bis dort. Auf dem Weg suchen die Azemis zunächst Deckung hinter einer Hecke. Der Vater wirft sich schützend über die Kinder, die Mutter kauert neben ihm. Hinter sich hören sie noch immer die Schüsse. Ein Jugendlicher fasst sich an den Hals, schreit „Hilfe“, dann fällt er zu Boden, ist tot. „Er lag genau neben mir“, erzählt Azemi.

File:Solingen - Mahnmal Solinger Bürger und Bürgerinnen 04 ies.jpg

Zu dieser Zeit hatte noch niemand auch nur eine Ahnung, was hier vor sich ging.

Inzwischen haben die Ermittler recht genau rekonstruiert, wie das Attentat am 22. Juli 2016 ablief: Gegen 17 Uhr kam der 18-jährige Täter David S. zum McDonald’s am OEZ. Zuvor hatte er noch via Facebook unter falschem Namen Jugendliche aufgefordert, ebenfalls dorthin zu kommen. Um 17.51 Uhr fielen dann die ersten Schüsse im Schnellrestaurant. Fünf Jugendliche starben. Anschließend ging S. nach draußen, schoss weiter um sich, tötete weitere Personen, überquerte die Straße und betrat schließlich das Einkaufszentrum. Dort traf er auf sein letztes Opfer. Insgesamt waren es nur acht Minuten, in denen er neun Menschen erschoss und fünf weitere schwer verletzte. Danach versteckte er sich über zwei Stunden in ­einem Fahrradkeller. Als er ihn verließ und von Polizisten gestellt wurde, erschoss er sich.

Juli 2021, ein heißer Sommervormittag. Auf der Hanauer Straße, die den McDonald’s vom Olympia-Einkaufszentrum trennt, herrscht reger Verkehr. Es riecht nach Döner, die Imbissbude steht gleich neben dem McDonald’s. Dort, wo jetzt das Denkmal für die Opfer des Attentats ist, muss damals der Obststand gestanden haben. Mitten im Schussfeld. Fünf Kugeln bekam der Stand ab, der Händler überlebte unverletzt. Um das Denkmal befindet sich ein Bauzaun. Es soll vor dem Jahrestag noch mal herausgeputzt werden, heißt es.

Die Münchner Künstlerin Elke Härtel hat es gestaltet. Ein Edelstahlring windet sich bis auf zweieinhalb Meter Höhe um einen Ginkgobaum. Titel: „Für Euch“. Neun Fotos erinnern an die Todes­opfer. Auf der Innenseite des Rings steht: „In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats vom 22. 7. 2016“. Um den Begriff des „rassistischen Attentats“ mussten die Angehörigen hart kämpfen. Drei Jahre lang war in der Inschrift lediglich von einem „Amoklauf“ die Rede.

Ein paar Meter weiter geht es zur U-Bahn. Katharina Schulze kommt die Treppe hoch. Die Grünen-Politikerin hat vor wenigen Wochen ein Kind bekommen, ist noch im Mutterschutz. Doch für ein Gespräch über die Folgen des OEZ-Attentats nimmt sie sich Zeit, das Thema sei ihr „superwichtig“. Sie zeigt die Straße runter. Dahinten habe ihr Bruder gewohnt. Entsprechend groß war an dem Abend der Schrecken, als sie von den Schüssen am OEZ hörte. Sie selbst war zu dem Zeitpunkt im unterfränkischen Kahl am Main, sollte bei ­einer Veranstaltung ihrer Partei sprechen. Thema: Rassismus in der Gesellschaft. Wenigstens konnte sie ihren Bruder schnell erreichen, er befand sich in Sicherheit.

Schulze, inzwischen Oppositionsführerin im bayerischen Landtag, machte sich schon früh dafür stark, das Attentat als rechten Terror einzustufen. Eine Bewertung, die ursprünglich keineswegs der Lesart der bayerischen Staatsregierung entsprach. Die war sich mit Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt einig, dass David S. zwar rechtsextremes Gedankengut gehabt habe, dies aber nicht das ausschlaggebende Motiv für das Attentat gewesen sei. Vielmehr sei der 18-Jährige psychisch krank gewesen und habe sich dafür rächen wollen, dass er an der Schule jahrelang gemobbt worden sei.

Während der Attentäter noch immer um sich schoss, wagten die Azemis einen letzten Sprint zum Saturn. Bis zum Eingang des Elektromarkts waren es vielleicht zehn Meter. Vorne er mit den Kindern, sie hinterher.

„Schmerzen habe ich erst gar nicht gespürt“, erzählt Lumnije Azemi. „Nur wie das Blut aus meinen Beinen gespritzt ist.“ Die Kugeln haben sie getroffen, als sie gerade loslaufen wollte. In beide Unterschenkel, oberhalb der Wade. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zum Eingang. „Ich habe keine Ahnung, wie ich das geschafft habe.“

Saturn-Mitarbeiter binden die Wunden ab. Ohne sie, glaubt Azemi, wäre sie verblutet. Sie ziehen die Frau weiter ins Innere des Ladens, verstecken sie hinter Kühlschränken. Um sie herum Menschen in Panik, Schreie, weinende Kinder. Ihre eigenen Kinder sehen die Mutter in der Blutlache. „Es war die Hölle da drin“, sagt sie. „Wir haben uns so ausgeliefert gefühlt. Wir haben gedacht, jetzt kommt er jeden Moment rein und das war’s dann.“

File:MKBler - 393 - Synagogen-Mahnmal (Halle).jpg

Mit diesem Gefühl sind die am OEZ verbarrikadierten Menschen an diesem Abend nicht allein: Kurz nach 18 Uhr ist der Attentäter erst einmal von der Bildfläche verschwunden – und noch immer ist nicht klar, ob es nicht doch mehrere Täter sind. Es folgen Stunden, in denen nichts passiert – und doch scheinbar so viel. Genug jedenfalls, um ganz München in Angst und Schrecken zu versetzen. Es ist ein Phänomen, das so zuvor noch nirgends beobachtet wurde: Überall in der Stadt werden Schüsse gemeldet – am Stachus, am Marienplatz, am Max-Joseph-Platz. Im Hofbräuhaus beobachtet eine Frau sogar, wie ein Mann von Kugeln getroffen von der Balustrade stürzt.

Am Ende wird die Polizei für den Zeitraum von 17.51 Uhr bis 24 Uhr 4.310 Notrufe registriert haben, darunter 310 Mitteilungen über konkrete Terrorakte an insgesamt 71 verschiedenen Orten. Doch nichts davon ist tatsächlich passiert. Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins führt dafür den bislang in der Kriminalistik unbekannten Begriff des Phantomtatorts ein. Der Filmemacher Stefan Eberlein hat die vermeintlichen Ereignisse dieser Nacht 2018 in einer Dokumentation nachgezeichnet. „München – Stadt in Angst“ heißt der Film.

Die Panik freilich ist echt, die Menschen verbarrikadieren sich stundenlang in Läden, Anwohner öffnen ihre Wohnungen für verängstigte Passanten. Die öffentlichen Verkehrsmittel stellen den Betrieb ein, Tausende Polizeibeamte sind im Einsatz. Die Terroranschläge von Paris sind erst acht Monate her. Gefühlt herrscht in München nun dieselbe Situation: Mordende Terroristenbanden ziehen durch das gesamte Stadtgebiet.

Quelle       :           TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     McDonald’s-Restaurant in der Hanauer Straße 83 in München.

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2.) von Oben    —     Mahnmal Solinger Bürger und Bürgerinnen in Solingen

Autore Frank Vincentz

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Unten     ––    Auf dem Jerusalemer Platz in Halle an der Saale befindet sich das Synagogen-Mahnmal. Von der 1870 gebauten Synagoge konnte nur das Portal, welches nun das Mahnmal darstellt, erhalten werden, während das sonstige Gebäude in der Reichspogromnacht von den Nationalsozialisten zerstört wurde.

MKBler (CC BY-SA 4.0)

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