Deutsche demokratische Frustration
Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 26. Dezember 2015
Deutsche demokratische Frustration
von Stefan Locke
Warum darf ein gewählter Bürgermeister sein Amt nicht antreten? Immer mehr Sachsen beschleicht das Gefühl, abgehobene Politiker und Bürokraten nötigten ihnen politische Entscheidungen auf.
Für die Bürger von Vierkirchen in der Oberlausitz war die Sache im vergangenen Juni glasklar: Mit 305 von 555 Stimmen hatten sie ihren Bürgermeister wiedergewählt. Horst Brückner bekleidete das Ehrenamt bereits seit sieben Jahren, und die mathematisch wie demokratisch erreichte Mehrheit im Wahlergebnis führte bei den Einwohnern zu der Annahme, dass Brückner weiterhin ihr Bürgermeister sei. Da aber hatten sie die Rechnung ohne den Sächsischen Landtag gemacht, der zuvor Paragraph 49, Absatz 4, der Sächsischen Gemeindeordnung geändert hatte: Ein Bürgermeister darf nun nicht mehr gleichzeitig Bürgermeister einer anderen Gemeinde sein.
Brückner aber ist auch Bürgermeister in der Nachbargemeinde Waldhufen, für den Job in Vierkirchen kandidierte er erfolgreich, als der dortige Amtsinhaber in Rente ging. Er stammt aus der Region, kennt viele Leute und sie kennen ihn, die Mehrheit war froh über die unkomplizierte Lösung. Nach seiner Wiederwahl im Juni aber durfte Brückner das Amt in Vierkirchen nicht mehr annehmen. „Wir wollen ihn als Bürgermeister, deshalb haben wir ihn gewählt. Das ist doch Demokratie, oder nicht?“, sagen die Leute, und sie fragen sich: „Warum soll ich überhaupt zur Wahl gehen, wenn die da oben sowieso machen, was sie wollen?“ Der Fall schlug in Sachsen Wellen.
„Es herrscht null Verständnis für die Entscheidung“, sagt Brückner, 62 Jahre alt, gütiger Blick, schlohweißes Haar und Vollbart. Er sitzt in seinem Amtszimmer in einem einstigen Gutshaus in Waldhufen, einfaches Büro, Nachwende-Mobiliar. 25 Jahre ist er nun schon Bürgermeister, 18 Jahre davon hauptamtlich, doch seit die Einwohnerzahl um fast ein Fünftel auf 2500 zurückging, ist der Job ein Ehrenamt. Brückner übernahm es gern. Aus dem Fenster sieht er auf alte Bäume und die frühere Hofeinfahrt, gesäumt von zwei großen Granitkugeln, die auf ebensolchen Sockeln liegen. Die Oberlausitz ist seit jeher von Landwirtschaft geprägt: erst bestellten die Gutsherren den Boden, dann die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften und seit der Wiedervereinigung die Agrargenossenschaften; sie haben riesige Maschinen und nur noch wenig Personal.
Dresden ist gut hundert Kilometer weg, und die Demokratie ist ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution nicht nur hier, in der Mitte zwischen Bautzen und Görlitz, sondern in ganz Sachsen auf dem Prüfstand. Anlässlich des 25. Jahrestages der Wiedergründung des Landes Ende Oktober fand Landtagspräsident Matthias Rößler (CDU) vor allem salbungsvolle Worte über die demokratische Entwicklung im Freistaat. Zwar kritisierte er eine „gefühlte Allzuständigkeit und zu viel Selbstbezogenheit in der Politik“ sowie „Misstrauen und Verachtung gegenüber Politikern“, doch bisweilen wirkte der Festakt in der Dresdner Dreikönigskirche wie jener, der 26 Jahre zuvor im Berliner Palast der Republik stattfand: Drinnen beglückwünschten sich ergraute Männer und erinnerten an alte Zeiten, während draußen die Menschen demonstrierten. Das Wort Pegida nahm Rößler nicht in den Mund.
Von der Verletzlichkeit der Demokratie
So war es dann Stanislaw Tillich, der ungewöhnlich deutlich aussprach, was viele empfinden: „Wenn mir etwas wirklich Sorgen bereitet in diesen Tagen, dann ist es die Verletzlichkeit der Demokratie im 26. Jahr der deutschen Einheit in Sachsen“, sagte der Ministerpräsident. Das Jubiläumsjahr sei „von antidemokratischer Stimmungsmache“ überschattet. Anstelle von Argumenten gebe es Polemik, statt Fakten Parolen, statt friedlichem Protest Hassreden. Doch „wer andere Lügner und Verräter nennt, will keine demokratische Diskussion.“
Die Entwicklung bedrückt auch Bürgermeister Brückner. Im Herbst 1989 war er bei der Besetzung der Stasi-Bezirkszentrale in Dresden dabei; er hat gesehen, wie schnell eine aufgeheizte Stimmung in Gewalt umschlagen kann. Damals wären beinahe Stasi-Mitarbeiter gelyncht worden, am Ende ging die Sache noch mal glimpflich ab. Das hätte um ein Haar alles kaputt gemacht, sagt Brückner. „Keine Gewalt!“ sei das Credo jenes Herbstes gewesen. „Wenn ich sehe, was jetzt auf den Straßen los ist, beängstigt mich das sehr.“
„Die Politik muss sich bewegen“
Quelle: FAZ >>>>> weiterlesen
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Fotoquelle: Wikipedia – Author Oberlausitzerin64 –/– CC-BY-SA 4.0