Deserteure in der Ukraine
Erstellt von Redaktion am Montag 14. März 2022
Das Recht, Nein zu sagen
Von : Gereon Asmuth
Männer im wehrpflichtigen Alter dürfen die Ukraine nicht verlassen. Doch das Recht, nicht zu töten, muss auch und gerade im Krieg gelten.
Es sind herzergreifende Szenen. Ein Mann drückt seine kleine Tochter und seine Frau, die in einen Bus steigen, um zu fliehen vor dem Angriff Russlands, um Kiew, um die Ukraine zu verlassen. Es fließen Tränen, in dem Video, das in den sozialen Medien die Runde machte. Der Mann wird bleiben. Er muss. Das Land verteidigen gegen den Aggressor. Muss das so sein? Nein.
Allein das archaische Geschlechterbild dahinter sollte zeigen, wie rückständig die Idee ist, irgendein Ziel durch Krieg zu erreichen. Frauen und Kinder werden in Sicherheit gebracht, während – oder besser gesagt: weil – sich Männer die Köpfe einschlagen. Auf Leben und Tod.
Selbstverständlich gibt es ein Recht auf Verteidigung. Das gilt für jede angegriffene Person. Und auch für einen Staat wie die Ukraine. Sie darf sich mit allem, was sie hat, dem russischen Überfall entgegenwerfen. Aber resultiert daraus eine Pflicht zur Verteidigung? Nein.
In der Ukraine aber gibt es sie, wie in vielen anderen Staaten auch. Seit dem Angriff Russlands dürfen männliche Staatsbürger zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen, um für die Verteidigung herangezogen werden zu können. Wer es doch versucht, dem droht die Festnahme. Der ukrainische Grenzschutz meldete wiederholt, dass Mobilisierungsverweigerer an der Grenze festgenommen und den Militärbehörden überstellt wurden. Wer Nein sagt, ist illegal. Ein Deserteur. In Russland müssen junge Wehrpflichtige in den Krieg ziehen, teilweise ohne zuvor darüber informiert worden zu sein. Desertieren wird äußerst hart bestraft – russische Deserteure haben darum Anspruch auf Asyl in der EU.
Muss man da mittaumeln?
Als Pazifist hatte man es in der Ukraine schon vor der Generalmobilmachung nicht leicht. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gab es allenfalls für Mitglieder kleinerer religiöser Gruppen. Wer sich bei seiner Gewissensentscheidung nicht auf einen besonders rigiden Gott berufen konnte, dem blieben nur Tricksereien oder Korruption, um der Einberufung zu entgehen. Eine anti-atheistische Absurdität, wie man sie vor allem, aber nicht nur in religiös geprägten Staaten weltweit finden kann.
Mit dem Einmarsch der russischen Truppen bleibt ukrainischen Kriegsgegnern per Gesetz der Ausweg ins Ausland verwehrt. Sie müssen sich zudem dem nationalen Verteidigungstaumel entgegenstellen. Hier geht es schließlich um Kiew, um Charkiw, um die Heimat, das Vaterland. Europa. Die Demokratie. Diesen heldenhaften Präsidenten im T-Shirt, der die Russen mit Selfievideos schlägt. Der mit bewundernswertem Pathos fast die gesamte Welt hinter sich versammelt. Aber muss man da mittaumeln? Nein.
Selbst ein gerechter Krieg ist immer noch ein Krieg. Und Soldaten sind Mörder. Immer. Auch im Verteidigungsfall. Denn es gibt immer auch einen anderen Weg. Weggehen zum Beispiel. Nein sagen. Desertieren.
Das ist alles andere als verantwortungslos. Jeder, der sich dem Töten verweigert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht noch mehr Leid zugelassen hat. So wie sich jeder Soldat fragen lassen muss, ob er mit seinem Tun tatsächlich Gewalt verhindert hat. Auf dieses moralische Dilemma kann es keine allgemeingültige Antwort geben.
Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht
Doch wenn niemand Nein sagt, dann werden die Straßenbahnen wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Straßen. Das schrieb Wolfgang Borchert 1947 in seinem „Sag Nein“-Manifest. Es liest sich, als beschriebe er die aktuelle Lage in Charkiw.
Die Spackos wären im Mittelalter auch bis Istanbul gelatscht um ihre Kreuze zu verbreiten !
Und deshalb ist Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht. Keins, das in der 1948 verabschiedeten UN-Charta verankert wurde. So weit wollten die beteiligten Staaten selbst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gehen. Die größte Sorge eines auf militärische Macht setzenden Regierenden lautet: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Ein Deserteur allein wird die Welt nicht ändern. Aber Tausende? Millionen? Darin liegt die kleine, utopische Chance des Pazifismus – auch wenn er aktuell Lichtjahre davon entfernt scheint, ein Comeback zu feiern.
Ist eine solche Debatte in Deutschland überhaupt angemessen? Wenn es um die Gewissensentscheidung der Ukrainer geht, sicher nicht. Die kann und muss jeder für sich vor Ort treffen. Doch mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine ist Deutschland längst Kriegspartei. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat bereits über die Einberufung von Reservisten nachgedacht. Und mit der aktuell debattierten Wiedereinführung der Wehrpflicht würde auch die deutsche Jugend bald wieder vor der charakterbildenden Frage stehen: Kriegsdienst mit der Waffe – ja oder nein?
Kein Staat darf Menschen zwingen zu töten
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Parade zum Unabhängigkeitstag in Kiew, 2016
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2.) von Oben — Autor Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)
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Unten — Militärdekan Dr. Damian Slaczka, Brigadegeneral Frank Leidenberger und Militärseelsorger Michael Weeke zollen den Opfern Respekt. (Foto von OR-7 Jacqueline Faller, RC North PAO)