Der Verfassungsschutz
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 21. Dezember 2021
Bayerisches Verfassungsschutzgesetz
Dienstgebäude in Milbertshofen-Am Hart im Münchner Norden
Quelle : FF – Gesellschaft für Freiheitsrechte
GFF-Klage gegen uferlose Befugnisse des Bayerischen Inlandsgeheimdienstes wird jetzt beim Bundesverfassungsgericht mündlich verhandelt
Die von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) über die letzten vier Jahre koordinierte Klage gegen eine Vielzahl von Regelungen des neuen Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) wurde am am 14. Dezember 2021 endlich in Karlsruhe mündlich verhandelt. Die Verhandlung zeigt: Die Verfassungsrichter*innen sehen die aktuellen Befugnisse des Bayrischen Verfassungsschutzes kritisch. Besonders das Verschwimmen der Zuständigkeiten von Polizei und Geheimdiensten warf einige Fragen auf. Finanziell unterstützt wird das Vorgehen der GFF in diesem Verfahren durch die Stiftung Erneuerbare Freiheit.
- Einen detaillierten Bericht der Verhandlung in Karlsruhe finden Sie hier
- Das in der Verhandlung gehaltene Eingangsstatement unseres Vorsitzenden Ulf Buermeyer finden Sie hier
Die am 1. August 2016 in Kraft getretene Novelle des BayVSG gibt dem bayerischen Inlandsgeheimdienst erweiterte Überwachungsbefugnisse, die im Dienste der „Inneren Sicherheit“ noch breiter und tiefer in die Grundrechte der Bevölkerung eingreifen, als dies in den übrigen Verfassungsschutzgesetzen der Länder und des Bundes der Fall ist.
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Wer klagt?
Die Beschwerdeführer sind mehrere Personen, die als Funktionsträger bzw. Mitglieder von im Bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnten Organisationen glaubhaft machen können, Gegenstand der geheimdienstlichen Überwachung zu sein. Zu diesen Organisationen gehört insbesondere der Landesverband Bayern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA).
Einer der Beschwerdeführer ist der Augsburger Oberarzt Dr. Harald Munding, Landessprecher der VVN-BdA. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung bezeichnete er sein langjährige Beobachtung durch den Bayerischen VS als “Stigmatisierung” und die Erwähnung einer Organisation im Verfassungsschutzbericht als “Einschüchterungspolitik, die wirkt”.
Die Verfassungsbeschwerde wurde verfasst von Prof. Dr. Matthias Bäcker (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und ist seit Ende Juli 2017 beim Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts anhängig (Aktenzeichen: 1 BvR 1619/17). Der Experte im Informationsrecht und Datenschutzrecht arbeitet bereits im “G 10”-Verfahren als Prozessvertreter mit der GFF zusammen.
Wogegen wendet sich die Verfassungsbeschwerde?
Zu den Befugnissen im Bayrischen Verfassungsschutzgesetz (BayVSG), die aus Sicht der GFF unverhältnismäßig und damit verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind, gehören:
- die Erhebung von Telekommunikations-Vorratsdaten (Art. 15 Abs. 3 BayVSG),
- der Große Lauschangriff (Art. 9 BayVSG),
- die Online-Durchsuchung (Art. 10 BayVSG),
- die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Art. 13 BayVSG) und
- der Einsatz von Verdeckten Mitarbeitern und V-Leuten (Art. 18 und 19 BayVSG).
Diese und weitere Maßnahmen greifen unzulässig in mehrere Grundrechte ein, insbesondere in die Menschenwürdegarantie, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme (das sogenannte “Computer-Grundrecht”), das Fernmeldegeheimnis, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Recht auf effektiven Rechtsschutz.
Unterstützen Sie die Arbeit der GFF zum Schutz der Grund- und Menschenrechten!
Verfassungsrechtliche Angriffspunkte
Aus Sicht der GFF sind die angegriffenen gesetzlichen Befugnisnormen aus mehreren Gründen verfassungsrechtlich unhaltbar. Der in Deutschland präzedenzlose Zugriff eines Geheimdienstes auf die bei den Providern gespeicherten Telekommunikations-Vorratsdaten verstößt bereits gegen Bundesrecht. Denn nach § 113c Abs. 1 Nr. 2 Telekommunikationsgesetz (TKG) dürfen die „Vorratsdaten“ nur an eine „Gefahrenabwehrbehörde“ eines Landes übermittelt werden. Ein Inlandsgeheimdienst ist aber gerade getrennt von der Polizei und eben keine Gefahrenabwehrbehörde. Die strikte Trennung von Polizei und Geheimdiensten ist eine Lehre aus dem Nationalsozialismus.
Hinzu kommt, dass etwa beim „Großen Lauschangriff“ eine automatisierte Dauerüberwachung ermöglicht wird. Das Bundesverfassungsgericht fordert hier aber eine hinreichende Sicherung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung – diese fehlt hier völlig. Auch die verfassungsrechtlich gebotenen Schutzregeln zugunsten von Berufsgeheimnisträgern wie Ärztinnen oder Rechtsanwälten fehlen im BayVSG für die meisten Überwachungsmaßnahmen. Teils unterscheiden sie unzulässig zwischen Strafverteidigern und sonstigen Rechtsanwälten und Rechtswanwältinnen.Das Gesetz stellt außerdem vielfach keine Voraussetzungen für den Datenzugriff auf. Damit fehlt es an einer Garantie dafür, dass die Überwachungsmaßnahmen nicht schon aus viel zu geringem Anlass selbst gegen selbst unbeteiligte Kontaktpersonen eingesetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht verlangt für personengerichtete Überwachungsbefugnisse, dass die gesetzliche Grundlage einen hinreichend gewichtigen Anlass für die jeweilige Maßnahme klar regelt und dass die betroffene Zielperson in einem hinreichenden Näheverhältnis zu dem Anlass der Maßnahme steht. Verfassungsrechtlich unzulässig sind damit geheimdienstliche Überwachungsmaßnahmen, die schon vor jeder konkretisierten Gefahrenlage und / oder gegenüber Nichtverantwortlichen tief in Freiheitsrechte eingreifen. Diesen Anforderungen genügen viele der neuen Befugnisse im BayVSG nicht: Sie ermöglichen stattdessen schon bei diffusen Bedrohungslage eine breit gestreute Überwachung, die auch völlig Unverdächtige betrifft.
Bei verdeckten Überwachungsmaßnahmen wie dem Einsatz von V-Leuten sieht das BayVSG keine Vorabkontrolle durch eine unabhängige Stelle vor. Auch werden die von der geheimdienstlichen Überwachung betroffenen Personen nachträglich nicht ausreichend benachrichtigt, ihr eigener Auskunftsanspruch ist übermäßig stark beschränkt. Ohne Transparenz wird aber ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz unmöglich gemacht; damit können Grundrechte im Einzelfall nicht wirksam durchgesetzt werden. Viel zu weit geht schließlich die Befugnis des Bayerischen Verfassungsschutzes, erhobene Daten an in- und ausländische öffentliche Stellen oder an nicht-öffentliche Stellen weiterzugeben.
Konsequenzen des Verfahrens
Dieses Verfahren um das BayVSG hat aus Sicht der GFF Signalwirkung: Zum Schutz der Grundrechte gilt zu verhindern, dass sich die übrigen Verfassungsschutzämter ein Beispiel am „Vorreiter“ Bayern nehmen.
Auch über den geheimdienstlichen Bereich hinaus ist es der GFF wichtig, gegen verfassungsrechtliche zweifelhafte Freiheitseingriffe nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in den Ländern vorzugehen.
Spenden und Fördermitgliedschaften für die GFF ermöglichen unsere Unterstützung und Beratung bei diesem Verfahren. Unsere Arbeitet kostet Geld. Freiheit und Gerechtigkeit brauchen viele Freundinnen und Freunde – unterstützen Sie die GFF!
Hier finden Sie die Beschwerdeschrift der GFF.
Photo credit: “Kopfhörer” by JouWatch auf Flickr (CC BY-SA 2.0
Pressemitteilungen
- August 2017 – GFF erhebt Verfassungsbeschwerde gegen Bayerisches Verfassungsschutzgesetz
- 14. Dezember 2021 – GFF-Klage in Karlsruhe mündlich verhandelt: Verfassungsrichter*innen sehen Bayrisches Verfassungsschutzgesetz kritisch
Weitere Informationen
- 21. Juli 2017 – Beschwerdeschrift zur Verfassungsbeschwerde gegen das Bayrische Verfassungsschutzgesetz
- Dezember 2021 – Eingangsstatement des GFF-Vorsitzenden Ulf Buermeyer in der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgericht
Medienberichte (ausgewählt):
- 4. August 2017 – Patrick Beuth in der ZEIT: Was BER und Voratsdaten gemeinsam haben
- 4. August 2017 – Christian Rath in der taz: Klage gegen Bayerns Geheimdienste
- 30. Juli 2017 – Ronen Steinke in der Süddeutschen: “Das ist eine Einschüchterungspolitik, die wirkt”
- 14. Dezember 2021 – Tagesschaue um 20 Uhr: Bundesverfassungsgericht prüft Rechtmäßigkeit des bayrischen Verfassungsschutzgesetzes
- 14. Dezember 2021 – Süddeutsche Zeitung/ dpa: Karlsruhe prüft Befugnisse von Bayerns Verfassungsschützern
- 14. Dezember 2021 – Wolfgang Janisch in der Süddeutschen Zeitung: Hört her!
- 14. Dezember 2021 – Claudia Kornmeier auf Tagesschau.de: Was darf der bayrische Verfassungsschutz?
- 15. Dezember 2021 – Dr. Christian Rath in Legal Tribute Online: Karlsruhe bleibt bissig