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Der Tibet-Tourismus

Erstellt von Redaktion am Dienstag 31. Dezember 2019

Heilige Orte für den Tibet-Tourismus

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von Martine Bulard

In der Autonomen Region Tibet setzt die chinesische Regierung nicht mehr auf offene Repression. Anders als in Xinjiang will Peking die Forderung nach Unabhängigkeit durch mehr kulturelle Freiheiten ersticken.

Der Buddhismus macht verrückt. Zumindest könnte man das glauben angesichts der Aufregung um die Nachfolge des 14. Dalai Lama. Während der mittlerweile 84 Jahre alte Tenzin Gyatso seit einigen Jahren schon darüber nachdenkt, wie es mit seinem Amt grundsätzlich weitergehen könnte, besteht für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) kein Zweifel: Peking will bestimmen, wer die nächste „Reinkarnation des lebendigen Buddha“ werden und den Platz des verhassten Religionsführers Gyatso einnehmen soll.

Der US-Sonderbotschafter für Religionsfreiheit bei den Vereinten Nationen, Samuel Brownback, verlangt, dass sich die UNO in den Auswahlprozess „einschaltet“. Und die exilierten Tibeter im indischen Dharamsala erklären, dass das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus an jedem beliebigen Ort wiedergeboren werden könne – nur nicht in Tibet.

Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass eine Reportage aus Tibet anders vorbereitet werden muss als ein Waldspaziergang. Man braucht zum Beispiel eine Erlaubnis von Peking – um dann doch nur das zu Gesicht zu bekommen, was die Chinesen bereit sind, einem zu zeigen.

Ende September ist die gesamte Strecke vom Flughafen bis in die Hauptstadt Lhasa mit chinesischen Fahnen und roten Laternen geschmückt – zur Feier des 70. Jahrestags der Volksrepublik China am 1. Oktober 2019. Bei einer solchen Inszenierung wundert man sich auch nicht mehr, dass selbst die Zeichen in Mandarin auf den zweisprachigen Schildern im öffentlichen Raum grundsätzlich größer gesetzt sind als die tibetischen.

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Die Ankunft in Lhasa – auf über 3600 Metern Höhe über dem Meeresspiegel – hat immer etwas Magisches. An den Berghängen über der Stadt strahlen die weißen und roten Gebäude des Potala-Palasts, Regierungssitz der früheren Theokratie. Doch Lhasa sei heute verunstaltet, sagen viele, die es noch aus der Zeit vor den 1990er ­Jahren kennen; die neuen Wohnblöcke, die an die ­trostlosen Plattenbauten der Pariser Banlieues erinnern, überlagern die mittelalterliche Architektur. Aber man sei schon dabei, umzudenken, versichert uns ein Führer. Nur ist davon noch nicht viel zu spüren. Die alten Häuser werden nach wie vor schonungslos abgerissen und nicht saniert.

Nur die Altstadt scheint noch intakt – obwohl Puristen sagen, der Jokhang-Tempel, der seit einer kürzlichen Renovierung in neuem Glanz erstrahlt, sei nicht mehr original, sondern schon mehrere Mal zerstört und identisch wieder aufgebaut worden. In China scheint das aber niemanden groß zu stören. Zu Tausenden strömen die Besucher durch die geschäftige Barkhorstraße rund um den Tempel und bewundern das vermeintlich alte Bauwerk und den reich verzierten Buddha Shakyamuni „von der Größe eines zwölfjährigen Kindes“.

Die chinesische Prinzessin Wencheng brachte die Figur im 7. Jahrhundert zu ihrer Hochzeit mit dem tibetischen Herrscher Songtsen Gampo nach Lhasa. Das war Heiratspolitik, doch für Peking ist die arrangierte Ehe der ultimative historische Beweis, dass Tibeter und Chinesen zusammengehören. Am Fuß des Baoping-Bergs wird die mittelalterliche Hochzeit in einem gigantischen Freiluftspektakel 180-mal im Jahr nachgespielt – wobei der historischen Wahrheit nicht viel Bedeutung zugemessen wird.

Obwohl die Touristensaison vorüber war, sahen wir viele Gläubige, die sich im Tempel vor dem Buddha verneigten und kleine Geldscheine hinterließen, in der Hoffnung, ihr Wunsch möge dadurch in Erfüllung gehen. Andere zogen im Uhrzeigersinn um das Kloster, darunter auch ein Mann, der sich alle paar Schritte niederwarf und seinen Kopf auf den Boden schlug.

Später sahen wir weitere Gläubige das gleiche Ritual vollziehen. Beim ersten Mal wunderten wir uns noch darüber, dass die anderen Passanten ungerührt an ihm vorbeiliefen und ihm nicht halfen. Niemand schien an seinem Verhalten Anstoß zu nehmen. Kinder und Erwachsene, Junge und Alte konnten ungehindert beten – egal wie fanatisch sie sich dabei gebärdeten. Nichts erinnerte an die bekannten Bilder von der täglichen Unterdrückung. Stattdessen bot sich uns ein Bild, das die Regierung in Peking gern verbreitet, um zu zeigen, dass sie mitnichten ein Problem mit der Religion hat – unter bestimmten Voraussetzungen, wie man hinzufügen muss.

Tags darauf zeigte man uns das Kloster Yangbajing, 85 Kilometer von Lhasa entfernt. In der großen Bibliothek, die zugleich als Unterrichtsraum dient, staunten wir über die leuchtenden Farben an den Wänden. Die Mönche erzählten, die Regierung habe den Neuanstrich bezahlt, ebenso wie die Renovierung des Tempels und der Unterkünfte der 45 Mönche, die neuerdings auch renten- und krankenversichert seien.

In der Mitte der Bibliothek, direkt zu Füßen eines majestätischen Buddha, lag auf dem Altar ein Buch von Xi Jingping. Ein Mönch registrierte unsere Verwunderung: „Wir studieren alles, was mit den Ideen des Präsidenten Xi und mit der Religion zu tun hat“, erklärte er. „Wir sind Mönche, aber auch Staatsbürger, und die Jungen müssen die patriotischen Prinzipien und die Grundsätze der chinesischen Regierungsführung kennenlernen.“ Im Klartext: Das Geld der kommunistischen Machthaber ist durchaus eine Messe wert – zumindest an drei Tagen im Monat. Seit 2011 müssen die Mönche nämlich mindestens 10 Prozent ihrer Zeit der „legislativen und patriotischen Bildung“ widmen.

In Tibet scheint Peking eine andere Linie zu verfolgen als in der benachbarten Autonomen Region Xinjiang, wo die muslimische Minderheit der Uiguren brutal unterdrückt wird:1 Nach der Niederschlagung der Demonstrationen für ein unabhängiges Tibet, die im Frühjahr 2008 weltweite Proteste hervorrief,2 scheint die Zen­tral­gewalt zu einer Strategie der bedingten Toleranz übergegangen zu sein. Die Gläubigen dürfen in den Tempel gehen, beten, die Buddhas verehren und selbst extreme Formen der Religionsausübung praktizieren. Und die Mönche dürfen in die Geheimnisse der Religion einführen und erhalten dafür sogar Subventionen – unter der Bedingung, dass sie keine Forderungen nach Unabhängigkeit oder auch nur Autonomie erheben.

Bei der Begegnung mit einer Familie im Dorf Ke­song in der Nähe von Shannan (der früheren Hauptstadt Lhoka), rund 100 Kilometer südöstlich von Lhasa, erfuhren wir mehr über diesen stillschweigenden Pakt. Kesong ist ein modernes und herausgeputztes Dorf. In einem traditionellen Haus erwartete uns ein etwa 60-jähriges Ehepaar. Sie hatten Tsampa vorbereitet (süße oder salzige Küchlein aus Gerstenmehl) und den unvermeidlichen Tee mit Yakbutter. Der Mann war Kommunist; er erzählte uns die Geschichte seiner Familie, die dank der KPCh „vom Joch des Feudalregimes der Dalai Lamas“ befreit worden sei. Nur wenn er von seinen Geschäften sprach, dem Transport von Menschen und Waren, verzichtete er auf die Parteiphrasen und behauptete, er würde zehnmal mehr verdienen als seine Nachbarn.

Seine Ehefrau war Buddhistin. Manchmal gehe sie mit ihren Eltern in den Tempel, erzählte sie, aber meistens halte sie die Andacht zu Hause in einem Zimmer, das sie zu einer reich dekorierten Gebetskammer umfunktioniert hatte: Mit einem Hausaltar für die Ahnen, einem Ständer für Räucherstäbchen, einer großen Trommel und einem Foto des 11. Penchen Lama Gyeltshen Norbu, des zweithöchsten spirituellen Oberhaupts des tibetischen Buddhismus, der allerdings nur von der chinesischen Regierung anerkannt wird und im Sinne der Partei erzogen wurde.

Vom 14. Dalai Lama gab es im Haus keine Bilder, die sind in Tibet nämlich verboten. Dafür aber ein Foto von Xi Jinping – die perfekte Harmonie, an den Wänden wie zwischen den Eheleuten. „Wir haben unsere Diskussionen“, erzählte Da Wu, der Ehemann, „denn der Glaube ist eine persönliche Angelegenheit“, er dürfe nicht in die Öffentlichkeit getragen werden.

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Li Decheng, Forscher und Verwaltungsdirektor am chinesischen Zentrum für Tibetforschung in Peking, den wir gegen Ende unserer Reise trafen, meinte mit einem Lächeln: „Es ist wie in Frankreich, wo nach Ihrem Grundsatz der Laizität die Religion Privatsache ist.“ Mit dem Unterschied, dass in Frankreich trotz der Trennung von Kirche und Staat jeder und jede Gläubige das Recht hat, sich an der politischen Debatte zu beteiligen.

Die Ehe des überzeugten Kommunisten und der bekennenden Buddhistin wurde uns von den Behörden als beispielhaft präsentiert: Vor zehn Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Peking legt großen Wert darauf, die Welt wissen zu lassen, dass die Dinge sich verändern. Das Regime respektiert religiöse Überzeugungen und heilige Orte, vor allem dann, wenn Letztere von touristischem Interesse sind.

Quelle        :    Le Monde diplomatique         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen         :

Oben       —       Mount Everest as seen from an aircraft from airline company Drukair in Bhutan. The aircraft is south of the mountains, facing north.

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Unten       —      Montage of various Lhasa images

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